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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Unsre Verhandlungen mit Österreich

ob die schlauen Rechner an der Themse dabei ein zu gutes Geschäft gemacht
haben. Die Thatsache an sich, daß England zur Friedensliga steht, sollte
nicht unterschätzt werden, wenn anch der Wert dieser Freundschaft erst zu er¬
proben sein wird. Die geschichtliche Erfahrung hat vor Überschätzung Englands
als Bundesgenossen ihre sehr sprechenden Warnungen zu verzeichnen.

Der wirtschaftlichen Gefahr gegenüber war ein Doppeltes möglich: ent¬
weder man verständigte sich mit den Rivalen und erzielte im besten Falle
zeitweilige Ermäßigungen der Schranken, oder aber man suchte sich wirtschaftlich
unabhängig zu machen. Die erstere Möglichkeit hat sich nnr in sehr be¬
schränktem Maße in Wirklichkeit umsetzen lassen. Über die Feindseligkeit
Amerikas und Rußlands in allen wirtschaftlichen Fragen kann sich kein klar¬
denkender Politiker täuschen. Höchstens in Rußland wäre eine Wandlung in
der Zukunft nicht undenkbar. Amerika gegenüber wird die Lage unsrer In¬
dustrie von Jahr zu Jahr schlimmer. Die neue Welt arbeitet darauf hin,
eine Welt für sich zu werden. So bleibt nur das zweite: ein Zusammenschluß
der bisher wirtschaftlich getrennten Staaten Mitteleuropas, und es hat ge¬
scheite und patriotische Franzosen gegeben, die der Meinung waren, daß jenen
reellen wirtschaftlichen Interessen gegenüber der französisch-deutsche Gegensatz
zu schwinden habe. Aber das deutsch-französische Bündnis des Grafen Lapisse
scheint ein Traum bleiben zu sollen, und die jüngsten Pariser Ereignisse haben
aufs neue bewiesen, daß bei der unberechenbaren Leidenschaftlichkeit des fran¬
zösischen Volkes und der politischen Charakterlosigkeit seiner Intelligenz für
eine absehbare Zukunft eine Verständigung mit Frankreich nicht zu finden ist.
Unsre Negierung hat daher anch die nächste und natürlichste Lösung des Pro¬
blems in Angriff genommen. Wir sind bestrebt, durch ein Abkommen mit
Österreich-Ungarn unsrer Industrie den Markt zu schaffen, dessen sie bedarf,
um die Einbuße in Rußland und Amerika verwinden zu können, während
anderseits den weiten Ackerfeldern der österreichisch-ungarischen Monarchie der
Getreidemarkt geboten wird, den bisher Rußland bei uns gefunden hat.
In beiden Ländern, in der habsburgischen Monarchie wie bei uns, können,
wenn der Ausgleich zu Stande kommt, augenblickliche Schädigungen des einen
oder des andern Jnteressenkreises nicht vermieden werden, und es ist deshalb
höchst verständlich, wenn hier wie dort Stimmen laut werden, die zum Teil
leidenschaftlich ihrem gegensätzlichen Standpunkt Ausdruck geben. Pflegt doch
jederzeit die Stimme der Zufriedenen weniger laut zu tönen, als die der Un¬
zufriedenen In unsern: Nachbarstaate spitzt sich außerdem der Gegensatz
zwischen Industrie und Landwirtschaft zu dem andern Gegensatze zwischen der
österreichischen und der ungarischen Reichshälfte zu. Bei uns ist es, ab¬
gesehen von andern Elementen, auch der Gegensatz der Parteien, der sich
geltend macht, und die Lage ist dadurch noch besonders schwierig geworden,
daß in der Person Windthorsts der Parlamentarier geschwunden ist, dem die


Unsre Verhandlungen mit Österreich

ob die schlauen Rechner an der Themse dabei ein zu gutes Geschäft gemacht
haben. Die Thatsache an sich, daß England zur Friedensliga steht, sollte
nicht unterschätzt werden, wenn anch der Wert dieser Freundschaft erst zu er¬
proben sein wird. Die geschichtliche Erfahrung hat vor Überschätzung Englands
als Bundesgenossen ihre sehr sprechenden Warnungen zu verzeichnen.

Der wirtschaftlichen Gefahr gegenüber war ein Doppeltes möglich: ent¬
weder man verständigte sich mit den Rivalen und erzielte im besten Falle
zeitweilige Ermäßigungen der Schranken, oder aber man suchte sich wirtschaftlich
unabhängig zu machen. Die erstere Möglichkeit hat sich nnr in sehr be¬
schränktem Maße in Wirklichkeit umsetzen lassen. Über die Feindseligkeit
Amerikas und Rußlands in allen wirtschaftlichen Fragen kann sich kein klar¬
denkender Politiker täuschen. Höchstens in Rußland wäre eine Wandlung in
der Zukunft nicht undenkbar. Amerika gegenüber wird die Lage unsrer In¬
dustrie von Jahr zu Jahr schlimmer. Die neue Welt arbeitet darauf hin,
eine Welt für sich zu werden. So bleibt nur das zweite: ein Zusammenschluß
der bisher wirtschaftlich getrennten Staaten Mitteleuropas, und es hat ge¬
scheite und patriotische Franzosen gegeben, die der Meinung waren, daß jenen
reellen wirtschaftlichen Interessen gegenüber der französisch-deutsche Gegensatz
zu schwinden habe. Aber das deutsch-französische Bündnis des Grafen Lapisse
scheint ein Traum bleiben zu sollen, und die jüngsten Pariser Ereignisse haben
aufs neue bewiesen, daß bei der unberechenbaren Leidenschaftlichkeit des fran¬
zösischen Volkes und der politischen Charakterlosigkeit seiner Intelligenz für
eine absehbare Zukunft eine Verständigung mit Frankreich nicht zu finden ist.
Unsre Negierung hat daher anch die nächste und natürlichste Lösung des Pro¬
blems in Angriff genommen. Wir sind bestrebt, durch ein Abkommen mit
Österreich-Ungarn unsrer Industrie den Markt zu schaffen, dessen sie bedarf,
um die Einbuße in Rußland und Amerika verwinden zu können, während
anderseits den weiten Ackerfeldern der österreichisch-ungarischen Monarchie der
Getreidemarkt geboten wird, den bisher Rußland bei uns gefunden hat.
In beiden Ländern, in der habsburgischen Monarchie wie bei uns, können,
wenn der Ausgleich zu Stande kommt, augenblickliche Schädigungen des einen
oder des andern Jnteressenkreises nicht vermieden werden, und es ist deshalb
höchst verständlich, wenn hier wie dort Stimmen laut werden, die zum Teil
leidenschaftlich ihrem gegensätzlichen Standpunkt Ausdruck geben. Pflegt doch
jederzeit die Stimme der Zufriedenen weniger laut zu tönen, als die der Un¬
zufriedenen In unsern: Nachbarstaate spitzt sich außerdem der Gegensatz
zwischen Industrie und Landwirtschaft zu dem andern Gegensatze zwischen der
österreichischen und der ungarischen Reichshälfte zu. Bei uns ist es, ab¬
gesehen von andern Elementen, auch der Gegensatz der Parteien, der sich
geltend macht, und die Lage ist dadurch noch besonders schwierig geworden,
daß in der Person Windthorsts der Parlamentarier geschwunden ist, dem die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/11>, abgerufen am 24.07.2024.