Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Überbürdung

Vergnügen, und es ist ihnen ziemlich gleichgiltig, ob sie deutsche Verse oder
lateinische Vokabeln oder das ^innvsche System oder die Beschreibung des
Pferdes auswendig lernen und herplappern müssen: "Der Rumpf ist walzen¬
förmig." (So steht nämlich in manchen Beschreibungen; als ob nicht mit Aus¬
nahme der Austern und Seesterne alle organischen Wesen die Grundform der
Walze zeigten, und als ob nicht gerade bei einem fein gebauten Pferde diese
Grundform am wenigsten erkennbar wäre!) Auch das Übermaß der häuslichen
Arbeiten macht es noch nicht, obwohl allerdings darin viel gesündigt wird,
namentlich, wenn die Lehrer nicht auf deu Stundenplan Rücksicht nehmen, und
manchmal auf den einen Tag eine nicht zu bewältigende Menge, ans einen
andern gar nichts fällt. Auch heute giebt es, wie ich bestimmt weiß, Gymnasien,
an denen die talentvollen Schüler mit ihren Arbeiten ganz bequem fertig werden:
unbegabte Knaben aber gehören eben nicht aufs Gymnasium. stramme Arbeit
ist dem gesunden Menschen Bedürfnis. Staatsmänner und politische Agitatoren
pflegen bei ihrer "aufreibenden" Arbeit täglich dicker zu werde". Ihre Nerven
fangen sie erst dann an zu fühlen, wenn die Widerstände, ans die sie stoßen,
unüberwindlich sind, und wenn der "Erfolg" ausbleibt.

Was -- um mich naturwissenschaftlich auszudrücken -- so viel Ermüdungs-
stvfse in den heutigen Schülergehirneu anhäuft, das ist die Freiheitsberaubung
und die Vernichtung der Individualität. Vom sechsten bis zum neunzehnten
Jahre, oder wenn er einigemal sitzen bleibt, bis zum einundzwanzigsten Jahre
wird der heutige Sohn besserer Familien in einen geistigen Schraubstock ein¬
gezwängt, der zeitweise auch zum körperlichen wird, und in dem er sich nicht
rühren noch regen oder doch nur nach Vorschrift rühren und regen darf. Es
ist alles vorgeschrieben, bis ans die Farben der Schreibhefte, die Zahl der
Blätter darin und die Zahl der Linien ans jedem Blatt; nichts bleibt der
freien Wahl überlassen. Ob dumm oder klug, schnell oder langsam, Phantasie
voll oder zum Rechnen oder Beobachten angelegt, der Knabe muß täglich mit
den übrigen genau dasselbe Pensum durchmachen, in jedem Fache genau dasselbe
leisten wie seine Kameraden und von feinem Wissen und .Wurm genau in der
vorgeschriebenen Form Rechenschaft ablegen. Alle müssen genau dasselbe Klassen¬
ziel erreichen oder wenigstens erreicht zu haben scheinen, indem sie durchschnittlich
nicht mehr als vier Fehler im deutschen (orthographischen), lateinische", fran¬
zösischen und Rechcnspezimen haben dürfe", wenn sie weiter kommen wolle".
Zuweilen wirkt die Ungleichheit des Alters einigermaßen ausgleichend, wenn
nämlich schwächer begabte ältere und talentvolle jüngere Knaben in einer Klasse
sitzen. Kommen dagegen talentvollere ältere und unbegabtere jüngere Schüler
zusammen, so mnltiplizireu sich die Ungleichheiten, und die talentvolleren, die
zu Dingen gezwungen werden, über die sie hinaus sind, fühlen sich ganz ebenso
"überbürdet" wie die schwachen. Dazu kommt die ungleiche Begabung für
die verschiedenen Fächer. Das Verständnis für den Sinn des mathematischen


Die Überbürdung

Vergnügen, und es ist ihnen ziemlich gleichgiltig, ob sie deutsche Verse oder
lateinische Vokabeln oder das ^innvsche System oder die Beschreibung des
Pferdes auswendig lernen und herplappern müssen: „Der Rumpf ist walzen¬
förmig." (So steht nämlich in manchen Beschreibungen; als ob nicht mit Aus¬
nahme der Austern und Seesterne alle organischen Wesen die Grundform der
Walze zeigten, und als ob nicht gerade bei einem fein gebauten Pferde diese
Grundform am wenigsten erkennbar wäre!) Auch das Übermaß der häuslichen
Arbeiten macht es noch nicht, obwohl allerdings darin viel gesündigt wird,
namentlich, wenn die Lehrer nicht auf deu Stundenplan Rücksicht nehmen, und
manchmal auf den einen Tag eine nicht zu bewältigende Menge, ans einen
andern gar nichts fällt. Auch heute giebt es, wie ich bestimmt weiß, Gymnasien,
an denen die talentvollen Schüler mit ihren Arbeiten ganz bequem fertig werden:
unbegabte Knaben aber gehören eben nicht aufs Gymnasium. stramme Arbeit
ist dem gesunden Menschen Bedürfnis. Staatsmänner und politische Agitatoren
pflegen bei ihrer „aufreibenden" Arbeit täglich dicker zu werde». Ihre Nerven
fangen sie erst dann an zu fühlen, wenn die Widerstände, ans die sie stoßen,
unüberwindlich sind, und wenn der „Erfolg" ausbleibt.

Was — um mich naturwissenschaftlich auszudrücken — so viel Ermüdungs-
stvfse in den heutigen Schülergehirneu anhäuft, das ist die Freiheitsberaubung
und die Vernichtung der Individualität. Vom sechsten bis zum neunzehnten
Jahre, oder wenn er einigemal sitzen bleibt, bis zum einundzwanzigsten Jahre
wird der heutige Sohn besserer Familien in einen geistigen Schraubstock ein¬
gezwängt, der zeitweise auch zum körperlichen wird, und in dem er sich nicht
rühren noch regen oder doch nur nach Vorschrift rühren und regen darf. Es
ist alles vorgeschrieben, bis ans die Farben der Schreibhefte, die Zahl der
Blätter darin und die Zahl der Linien ans jedem Blatt; nichts bleibt der
freien Wahl überlassen. Ob dumm oder klug, schnell oder langsam, Phantasie
voll oder zum Rechnen oder Beobachten angelegt, der Knabe muß täglich mit
den übrigen genau dasselbe Pensum durchmachen, in jedem Fache genau dasselbe
leisten wie seine Kameraden und von feinem Wissen und .Wurm genau in der
vorgeschriebenen Form Rechenschaft ablegen. Alle müssen genau dasselbe Klassen¬
ziel erreichen oder wenigstens erreicht zu haben scheinen, indem sie durchschnittlich
nicht mehr als vier Fehler im deutschen (orthographischen), lateinische», fran¬
zösischen und Rechcnspezimen haben dürfe», wenn sie weiter kommen wolle».
Zuweilen wirkt die Ungleichheit des Alters einigermaßen ausgleichend, wenn
nämlich schwächer begabte ältere und talentvolle jüngere Knaben in einer Klasse
sitzen. Kommen dagegen talentvollere ältere und unbegabtere jüngere Schüler
zusammen, so mnltiplizireu sich die Ungleichheiten, und die talentvolleren, die
zu Dingen gezwungen werden, über die sie hinaus sind, fühlen sich ganz ebenso
„überbürdet" wie die schwachen. Dazu kommt die ungleiche Begabung für
die verschiedenen Fächer. Das Verständnis für den Sinn des mathematischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0074" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209307"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Überbürdung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_192" prev="#ID_191"> Vergnügen, und es ist ihnen ziemlich gleichgiltig, ob sie deutsche Verse oder<lb/>
lateinische Vokabeln oder das ^innvsche System oder die Beschreibung des<lb/>
Pferdes auswendig lernen und herplappern müssen: &#x201E;Der Rumpf ist walzen¬<lb/>
förmig." (So steht nämlich in manchen Beschreibungen; als ob nicht mit Aus¬<lb/>
nahme der Austern und Seesterne alle organischen Wesen die Grundform der<lb/>
Walze zeigten, und als ob nicht gerade bei einem fein gebauten Pferde diese<lb/>
Grundform am wenigsten erkennbar wäre!) Auch das Übermaß der häuslichen<lb/>
Arbeiten macht es noch nicht, obwohl allerdings darin viel gesündigt wird,<lb/>
namentlich, wenn die Lehrer nicht auf deu Stundenplan Rücksicht nehmen, und<lb/>
manchmal auf den einen Tag eine nicht zu bewältigende Menge, ans einen<lb/>
andern gar nichts fällt. Auch heute giebt es, wie ich bestimmt weiß, Gymnasien,<lb/>
an denen die talentvollen Schüler mit ihren Arbeiten ganz bequem fertig werden:<lb/>
unbegabte Knaben aber gehören eben nicht aufs Gymnasium. stramme Arbeit<lb/>
ist dem gesunden Menschen Bedürfnis. Staatsmänner und politische Agitatoren<lb/>
pflegen bei ihrer &#x201E;aufreibenden" Arbeit täglich dicker zu werde». Ihre Nerven<lb/>
fangen sie erst dann an zu fühlen, wenn die Widerstände, ans die sie stoßen,<lb/>
unüberwindlich sind, und wenn der &#x201E;Erfolg" ausbleibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193" next="#ID_194"> Was &#x2014; um mich naturwissenschaftlich auszudrücken &#x2014; so viel Ermüdungs-<lb/>
stvfse in den heutigen Schülergehirneu anhäuft, das ist die Freiheitsberaubung<lb/>
und die Vernichtung der Individualität. Vom sechsten bis zum neunzehnten<lb/>
Jahre, oder wenn er einigemal sitzen bleibt, bis zum einundzwanzigsten Jahre<lb/>
wird der heutige Sohn besserer Familien in einen geistigen Schraubstock ein¬<lb/>
gezwängt, der zeitweise auch zum körperlichen wird, und in dem er sich nicht<lb/>
rühren noch regen oder doch nur nach Vorschrift rühren und regen darf. Es<lb/>
ist alles vorgeschrieben, bis ans die Farben der Schreibhefte, die Zahl der<lb/>
Blätter darin und die Zahl der Linien ans jedem Blatt; nichts bleibt der<lb/>
freien Wahl überlassen. Ob dumm oder klug, schnell oder langsam, Phantasie<lb/>
voll oder zum Rechnen oder Beobachten angelegt, der Knabe muß täglich mit<lb/>
den übrigen genau dasselbe Pensum durchmachen, in jedem Fache genau dasselbe<lb/>
leisten wie seine Kameraden und von feinem Wissen und .Wurm genau in der<lb/>
vorgeschriebenen Form Rechenschaft ablegen. Alle müssen genau dasselbe Klassen¬<lb/>
ziel erreichen oder wenigstens erreicht zu haben scheinen, indem sie durchschnittlich<lb/>
nicht mehr als vier Fehler im deutschen (orthographischen), lateinische», fran¬<lb/>
zösischen und Rechcnspezimen haben dürfe», wenn sie weiter kommen wolle».<lb/>
Zuweilen wirkt die Ungleichheit des Alters einigermaßen ausgleichend, wenn<lb/>
nämlich schwächer begabte ältere und talentvolle jüngere Knaben in einer Klasse<lb/>
sitzen. Kommen dagegen talentvollere ältere und unbegabtere jüngere Schüler<lb/>
zusammen, so mnltiplizireu sich die Ungleichheiten, und die talentvolleren, die<lb/>
zu Dingen gezwungen werden, über die sie hinaus sind, fühlen sich ganz ebenso<lb/>
&#x201E;überbürdet" wie die schwachen. Dazu kommt die ungleiche Begabung für<lb/>
die verschiedenen Fächer. Das Verständnis für den Sinn des mathematischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0074] Die Überbürdung Vergnügen, und es ist ihnen ziemlich gleichgiltig, ob sie deutsche Verse oder lateinische Vokabeln oder das ^innvsche System oder die Beschreibung des Pferdes auswendig lernen und herplappern müssen: „Der Rumpf ist walzen¬ förmig." (So steht nämlich in manchen Beschreibungen; als ob nicht mit Aus¬ nahme der Austern und Seesterne alle organischen Wesen die Grundform der Walze zeigten, und als ob nicht gerade bei einem fein gebauten Pferde diese Grundform am wenigsten erkennbar wäre!) Auch das Übermaß der häuslichen Arbeiten macht es noch nicht, obwohl allerdings darin viel gesündigt wird, namentlich, wenn die Lehrer nicht auf deu Stundenplan Rücksicht nehmen, und manchmal auf den einen Tag eine nicht zu bewältigende Menge, ans einen andern gar nichts fällt. Auch heute giebt es, wie ich bestimmt weiß, Gymnasien, an denen die talentvollen Schüler mit ihren Arbeiten ganz bequem fertig werden: unbegabte Knaben aber gehören eben nicht aufs Gymnasium. stramme Arbeit ist dem gesunden Menschen Bedürfnis. Staatsmänner und politische Agitatoren pflegen bei ihrer „aufreibenden" Arbeit täglich dicker zu werde». Ihre Nerven fangen sie erst dann an zu fühlen, wenn die Widerstände, ans die sie stoßen, unüberwindlich sind, und wenn der „Erfolg" ausbleibt. Was — um mich naturwissenschaftlich auszudrücken — so viel Ermüdungs- stvfse in den heutigen Schülergehirneu anhäuft, das ist die Freiheitsberaubung und die Vernichtung der Individualität. Vom sechsten bis zum neunzehnten Jahre, oder wenn er einigemal sitzen bleibt, bis zum einundzwanzigsten Jahre wird der heutige Sohn besserer Familien in einen geistigen Schraubstock ein¬ gezwängt, der zeitweise auch zum körperlichen wird, und in dem er sich nicht rühren noch regen oder doch nur nach Vorschrift rühren und regen darf. Es ist alles vorgeschrieben, bis ans die Farben der Schreibhefte, die Zahl der Blätter darin und die Zahl der Linien ans jedem Blatt; nichts bleibt der freien Wahl überlassen. Ob dumm oder klug, schnell oder langsam, Phantasie voll oder zum Rechnen oder Beobachten angelegt, der Knabe muß täglich mit den übrigen genau dasselbe Pensum durchmachen, in jedem Fache genau dasselbe leisten wie seine Kameraden und von feinem Wissen und .Wurm genau in der vorgeschriebenen Form Rechenschaft ablegen. Alle müssen genau dasselbe Klassen¬ ziel erreichen oder wenigstens erreicht zu haben scheinen, indem sie durchschnittlich nicht mehr als vier Fehler im deutschen (orthographischen), lateinische», fran¬ zösischen und Rechcnspezimen haben dürfe», wenn sie weiter kommen wolle». Zuweilen wirkt die Ungleichheit des Alters einigermaßen ausgleichend, wenn nämlich schwächer begabte ältere und talentvolle jüngere Knaben in einer Klasse sitzen. Kommen dagegen talentvollere ältere und unbegabtere jüngere Schüler zusammen, so mnltiplizireu sich die Ungleichheiten, und die talentvolleren, die zu Dingen gezwungen werden, über die sie hinaus sind, fühlen sich ganz ebenso „überbürdet" wie die schwachen. Dazu kommt die ungleiche Begabung für die verschiedenen Fächer. Das Verständnis für den Sinn des mathematischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/74
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/74>, abgerufen am 23.07.2024.