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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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darin verständig Maß gehalten. Als Untersekundaner -- der Philosoph muß
ja alles kennen -- habe ich das Kneipen und in einer geheimen Verbindung das
politische Vereinstreiben (es war die Zeit von Z848 --4i>) absolvirt, sodns;
ich es später nicht mehr nötig hatte, Zeit damit zu verlieren.

Wenn man unter Erziehung die stete Beaufsichtigung und eine planmäßige
Einwirkung auf die Sitte" versteht, so haben wir gar keine genossen, und das
ist, glaube ich, für Knaben und Jünglinge die denkbar beste. Was den Gehor¬
sam anlangt, so haben wir jenen männlichen gelernt, der in der Unterordnung
unter das Gesetz und in der Einfügung in eine vernünftige Ordnung besteht,
im Unterschiede von dem kindlichen und weiblichen, der einer gebietenden Person
geleistet wird. Und was den Charakter anlangt, so kann der doch nur durch
Behauptung des eignen Willens und der eignen Grundsätze gegenüber den ver-
schiednen einander widerstreitenden Einflüssen des Gebens gebildet werden, mag
sich dieses Leben auch vorläufig auf die kleine Schülerwelt beschränken. Der
gesellschaftliche Schliff, der uns vor der Hand abging, war später leicht nach¬
zuholen. "Br., Sie sind ein ungeschliffener -- Diamant!" sagte der Direktor
einmal zu einem von uns. Was nützt hingegen ein vorzeitiger Schliff, wenn
er, wie oft geschieht, den werdenden Diamanten, den noch nicht gehärteten
Willen selber mit fortnimmt? Ganz verlassen waren nur übrigens in dieser
Beziehung doch nicht. Der Regens, der ein sehr feiner Mann und dabei sehr
väterlich gesinnt war, machte uns gelegentlich mit feinen scherzhaften An¬
deutungen ans diese oder jene Ungeschicklichkeit oder Unschicklichkeit anfmerkscnn,
zog anch Schüler, die Riegen der weiten Entfernung von Hanse über Weih¬
nachten in der Anstalt blieben, wie ich es zweimal gemacht habe, an seinen
Familientisch. Diese Selbsterziehung hat sich bewährt; es sind, soweit ich den
Lebensweg meiner Schulkameraden zu verfolgen vermag, ans den meisten
tüchtige Männer geworden. Von den weit sorgfältiger beaufsichtigten jungen
Leuten heutiger Zeit scheinen mir verhältnismäßig mehr unterzugehen; freilich
trügt daran anch der Umstand mit die Schuld, daß das Leben täglich
schwieriger wird.

Keine Aufsichtsbehörde belästigte uns und die Lehrer. Der Schulrat, ein
beinahe kindischer alter Mann, wurde, wenn er die Abiturieuteuprüfnng abhielt,
von Lehrern und Schülern als Null behandelt. Inspektionen gab es nicht;
auch dachte der Direktor nicht daran, den Unterricht der ihm untergebenen
Lehrer zu inspiziren. Im Jahre 1853 trat ein neuer strammer Provinzial-
schnlrat sein Amt an, und das gemütliche "Ländlich, sittlich" hatte in seinem
Reich ein Ende. Ich schätzte mich glücklich, daß ich die Abgangsprüfnng schon
ein Jahr vorher gemacht hatte.

Die Leser Nüssen nun schon, was ich meine. Die alten Sprachen sind
nicht schuld an der Überbürdung, obwohl ihre falsche Behandlung allerdings
dazu beitrüge. An sich aber macht den kleinen Knaben das Auswendiglernen


Grenzten 1 1891 9

darin verständig Maß gehalten. Als Untersekundaner — der Philosoph muß
ja alles kennen — habe ich das Kneipen und in einer geheimen Verbindung das
politische Vereinstreiben (es war die Zeit von Z848 —4i>) absolvirt, sodns;
ich es später nicht mehr nötig hatte, Zeit damit zu verlieren.

Wenn man unter Erziehung die stete Beaufsichtigung und eine planmäßige
Einwirkung auf die Sitte» versteht, so haben wir gar keine genossen, und das
ist, glaube ich, für Knaben und Jünglinge die denkbar beste. Was den Gehor¬
sam anlangt, so haben wir jenen männlichen gelernt, der in der Unterordnung
unter das Gesetz und in der Einfügung in eine vernünftige Ordnung besteht,
im Unterschiede von dem kindlichen und weiblichen, der einer gebietenden Person
geleistet wird. Und was den Charakter anlangt, so kann der doch nur durch
Behauptung des eignen Willens und der eignen Grundsätze gegenüber den ver-
schiednen einander widerstreitenden Einflüssen des Gebens gebildet werden, mag
sich dieses Leben auch vorläufig auf die kleine Schülerwelt beschränken. Der
gesellschaftliche Schliff, der uns vor der Hand abging, war später leicht nach¬
zuholen. „Br., Sie sind ein ungeschliffener — Diamant!" sagte der Direktor
einmal zu einem von uns. Was nützt hingegen ein vorzeitiger Schliff, wenn
er, wie oft geschieht, den werdenden Diamanten, den noch nicht gehärteten
Willen selber mit fortnimmt? Ganz verlassen waren nur übrigens in dieser
Beziehung doch nicht. Der Regens, der ein sehr feiner Mann und dabei sehr
väterlich gesinnt war, machte uns gelegentlich mit feinen scherzhaften An¬
deutungen ans diese oder jene Ungeschicklichkeit oder Unschicklichkeit anfmerkscnn,
zog anch Schüler, die Riegen der weiten Entfernung von Hanse über Weih¬
nachten in der Anstalt blieben, wie ich es zweimal gemacht habe, an seinen
Familientisch. Diese Selbsterziehung hat sich bewährt; es sind, soweit ich den
Lebensweg meiner Schulkameraden zu verfolgen vermag, ans den meisten
tüchtige Männer geworden. Von den weit sorgfältiger beaufsichtigten jungen
Leuten heutiger Zeit scheinen mir verhältnismäßig mehr unterzugehen; freilich
trügt daran anch der Umstand mit die Schuld, daß das Leben täglich
schwieriger wird.

Keine Aufsichtsbehörde belästigte uns und die Lehrer. Der Schulrat, ein
beinahe kindischer alter Mann, wurde, wenn er die Abiturieuteuprüfnng abhielt,
von Lehrern und Schülern als Null behandelt. Inspektionen gab es nicht;
auch dachte der Direktor nicht daran, den Unterricht der ihm untergebenen
Lehrer zu inspiziren. Im Jahre 1853 trat ein neuer strammer Provinzial-
schnlrat sein Amt an, und das gemütliche „Ländlich, sittlich" hatte in seinem
Reich ein Ende. Ich schätzte mich glücklich, daß ich die Abgangsprüfnng schon
ein Jahr vorher gemacht hatte.

Die Leser Nüssen nun schon, was ich meine. Die alten Sprachen sind
nicht schuld an der Überbürdung, obwohl ihre falsche Behandlung allerdings
dazu beitrüge. An sich aber macht den kleinen Knaben das Auswendiglernen


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[0073] darin verständig Maß gehalten. Als Untersekundaner — der Philosoph muß ja alles kennen — habe ich das Kneipen und in einer geheimen Verbindung das politische Vereinstreiben (es war die Zeit von Z848 —4i>) absolvirt, sodns; ich es später nicht mehr nötig hatte, Zeit damit zu verlieren. Wenn man unter Erziehung die stete Beaufsichtigung und eine planmäßige Einwirkung auf die Sitte» versteht, so haben wir gar keine genossen, und das ist, glaube ich, für Knaben und Jünglinge die denkbar beste. Was den Gehor¬ sam anlangt, so haben wir jenen männlichen gelernt, der in der Unterordnung unter das Gesetz und in der Einfügung in eine vernünftige Ordnung besteht, im Unterschiede von dem kindlichen und weiblichen, der einer gebietenden Person geleistet wird. Und was den Charakter anlangt, so kann der doch nur durch Behauptung des eignen Willens und der eignen Grundsätze gegenüber den ver- schiednen einander widerstreitenden Einflüssen des Gebens gebildet werden, mag sich dieses Leben auch vorläufig auf die kleine Schülerwelt beschränken. Der gesellschaftliche Schliff, der uns vor der Hand abging, war später leicht nach¬ zuholen. „Br., Sie sind ein ungeschliffener — Diamant!" sagte der Direktor einmal zu einem von uns. Was nützt hingegen ein vorzeitiger Schliff, wenn er, wie oft geschieht, den werdenden Diamanten, den noch nicht gehärteten Willen selber mit fortnimmt? Ganz verlassen waren nur übrigens in dieser Beziehung doch nicht. Der Regens, der ein sehr feiner Mann und dabei sehr väterlich gesinnt war, machte uns gelegentlich mit feinen scherzhaften An¬ deutungen ans diese oder jene Ungeschicklichkeit oder Unschicklichkeit anfmerkscnn, zog anch Schüler, die Riegen der weiten Entfernung von Hanse über Weih¬ nachten in der Anstalt blieben, wie ich es zweimal gemacht habe, an seinen Familientisch. Diese Selbsterziehung hat sich bewährt; es sind, soweit ich den Lebensweg meiner Schulkameraden zu verfolgen vermag, ans den meisten tüchtige Männer geworden. Von den weit sorgfältiger beaufsichtigten jungen Leuten heutiger Zeit scheinen mir verhältnismäßig mehr unterzugehen; freilich trügt daran anch der Umstand mit die Schuld, daß das Leben täglich schwieriger wird. Keine Aufsichtsbehörde belästigte uns und die Lehrer. Der Schulrat, ein beinahe kindischer alter Mann, wurde, wenn er die Abiturieuteuprüfnng abhielt, von Lehrern und Schülern als Null behandelt. Inspektionen gab es nicht; auch dachte der Direktor nicht daran, den Unterricht der ihm untergebenen Lehrer zu inspiziren. Im Jahre 1853 trat ein neuer strammer Provinzial- schnlrat sein Amt an, und das gemütliche „Ländlich, sittlich" hatte in seinem Reich ein Ende. Ich schätzte mich glücklich, daß ich die Abgangsprüfnng schon ein Jahr vorher gemacht hatte. Die Leser Nüssen nun schon, was ich meine. Die alten Sprachen sind nicht schuld an der Überbürdung, obwohl ihre falsche Behandlung allerdings dazu beitrüge. An sich aber macht den kleinen Knaben das Auswendiglernen Grenzten 1 1891 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/73>, abgerufen am 23.07.2024.