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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Uberlmrdung

Damit ist das Schlimmste erzählt; die ander" Lehrer waren mild und
genügsam. Der Ordinarius forderte zwar viel, war jedoch für mich wenigstens
geradezu der gute Genius, der mich dnrch seine freie Auffassung und Behand¬
lung aller Dinge in die Bürgerschnlatmosphäre znrückzanberte. Fiir die vier
Unterklassen (die Tertia war einjährig) bestand die Einrichtung, daß jeder Or¬
dinarius seinen Jahrgang von Sexta bis Tertia führte und dann zur Sexta
zurückkehrte, um eine neue Familie in Empfang zu nehmen, sodaß sich die vier
Ordinarien immer hinter einander im kreise herum bewegten. Unser Ordi¬
narius B,, den wir also mich noch in der Tertia hatten, unterrichtete uns in
Latein, Deutsch und Naturgeschichte. Er war Schöngeist, Hnmanist, nebenbei
ein wenig materialistisch angehanchter Naturwissenschaftler und abgesagter Feind
alles pedantischen Negelwesens, von Leibesgestalt klein, aber rund und stark,
schön von Angesicht, elegant und tüchtiger Turner. Im Vorlesen, Erzählen
und Schildern war er Meister. Bald zauberte er uns italienisches Straszen-
leben, bald eine Theatervorstellung vor (z. B. eine von König Renos Tochter).
Da er manchmal zwei oder drei Stunden hinter einander hatte, so benutzte er
das, um uns längere Sachen, wie Hermann und Dorothea und Iphigenie auf
Turris, in einem Zuge vorzulesen. Ob der Stundenplan inne gehalten werde,
darum kümmerte sich glücklicherweise kein Mensch. Seine Schilderung deo
perikleischen Zeitalters, wozu der Cornelius Nepos Gelegenheit gab, begeisterte
mich zu einem Aufsatze, der wiederum ihn förmlich begeisterte -- er las ihn
der Klasse vor --, und wir wurden von dem Tage an die dicksten Freunde.
Im Latein proklamirte er den Grundsatz, Grammatiklernen sei Unsinn, dao
Sprachgefühl müsse jedem die Grammatik eingeben, lind wer l'eins habe, dein
könne der Zumpt nicht helfen. Zur Einübung der nicht gelernten, nnr durch¬
gelesenen Regeln lies; er uns sehr viel ans dem Deutschen ins Lateinische-
übersetzen, und zwar schriftlich, sodaß nur in der Tertia ungemein viel zu
arbeiten hatten. Ich litt das ganze Jahr hindurch an Augenentzündung und
auch noch andern Krankheiten, habe aber nicht eine Stunde Schule versäumt,
am Ende des Schuljahres eine Prämie bekommen und -- mich niemals über¬
bürdet gefühlt. Für die Lektüre wählte er in Tertia den Justin -- die
Lehrer hatten darin freie Hand. ES wurde rasch hinter einander weg über¬
setzt, und zu Anfang jeder Stunde daS in der vorhergehenden dnrchgenommene
lateinisch frei wieder erzählt, so gut oder so schlecht es gehen wollte. Anfangs
ging es natürlich schlecht, mit der Zeit besser. Die Specimina oder, wie sie
damals hießen, .Kompositionen fielen freilich nicht besonders glänzend ans.
Einmal bestellte Dr. B. seine besten Lateiner in seine Wohnung und verteilte
die Hefte der andern zum Korrigiren nnter uns (die Klassen waren sehr stark>.
Zuerst ging er unsre eignen Arbeiten mit uns dnrch; ich hatte dreizehn Fehler/
Außer einigem Erröten meinerseits und Kopfschütteln seinerseits hatte das
weiter keine Folgen.


Die Uberlmrdung

Damit ist das Schlimmste erzählt; die ander» Lehrer waren mild und
genügsam. Der Ordinarius forderte zwar viel, war jedoch für mich wenigstens
geradezu der gute Genius, der mich dnrch seine freie Auffassung und Behand¬
lung aller Dinge in die Bürgerschnlatmosphäre znrückzanberte. Fiir die vier
Unterklassen (die Tertia war einjährig) bestand die Einrichtung, daß jeder Or¬
dinarius seinen Jahrgang von Sexta bis Tertia führte und dann zur Sexta
zurückkehrte, um eine neue Familie in Empfang zu nehmen, sodaß sich die vier
Ordinarien immer hinter einander im kreise herum bewegten. Unser Ordi¬
narius B,, den wir also mich noch in der Tertia hatten, unterrichtete uns in
Latein, Deutsch und Naturgeschichte. Er war Schöngeist, Hnmanist, nebenbei
ein wenig materialistisch angehanchter Naturwissenschaftler und abgesagter Feind
alles pedantischen Negelwesens, von Leibesgestalt klein, aber rund und stark,
schön von Angesicht, elegant und tüchtiger Turner. Im Vorlesen, Erzählen
und Schildern war er Meister. Bald zauberte er uns italienisches Straszen-
leben, bald eine Theatervorstellung vor (z. B. eine von König Renos Tochter).
Da er manchmal zwei oder drei Stunden hinter einander hatte, so benutzte er
das, um uns längere Sachen, wie Hermann und Dorothea und Iphigenie auf
Turris, in einem Zuge vorzulesen. Ob der Stundenplan inne gehalten werde,
darum kümmerte sich glücklicherweise kein Mensch. Seine Schilderung deo
perikleischen Zeitalters, wozu der Cornelius Nepos Gelegenheit gab, begeisterte
mich zu einem Aufsatze, der wiederum ihn förmlich begeisterte — er las ihn
der Klasse vor —, und wir wurden von dem Tage an die dicksten Freunde.
Im Latein proklamirte er den Grundsatz, Grammatiklernen sei Unsinn, dao
Sprachgefühl müsse jedem die Grammatik eingeben, lind wer l'eins habe, dein
könne der Zumpt nicht helfen. Zur Einübung der nicht gelernten, nnr durch¬
gelesenen Regeln lies; er uns sehr viel ans dem Deutschen ins Lateinische-
übersetzen, und zwar schriftlich, sodaß nur in der Tertia ungemein viel zu
arbeiten hatten. Ich litt das ganze Jahr hindurch an Augenentzündung und
auch noch andern Krankheiten, habe aber nicht eine Stunde Schule versäumt,
am Ende des Schuljahres eine Prämie bekommen und — mich niemals über¬
bürdet gefühlt. Für die Lektüre wählte er in Tertia den Justin — die
Lehrer hatten darin freie Hand. ES wurde rasch hinter einander weg über¬
setzt, und zu Anfang jeder Stunde daS in der vorhergehenden dnrchgenommene
lateinisch frei wieder erzählt, so gut oder so schlecht es gehen wollte. Anfangs
ging es natürlich schlecht, mit der Zeit besser. Die Specimina oder, wie sie
damals hießen, .Kompositionen fielen freilich nicht besonders glänzend ans.
Einmal bestellte Dr. B. seine besten Lateiner in seine Wohnung und verteilte
die Hefte der andern zum Korrigiren nnter uns (die Klassen waren sehr stark>.
Zuerst ging er unsre eignen Arbeiten mit uns dnrch; ich hatte dreizehn Fehler/
Außer einigem Erröten meinerseits und Kopfschütteln seinerseits hatte das
weiter keine Folgen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/70>, abgerufen am 23.07.2024.