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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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dem er uus die ersten Begriffe und das Wesen des geometrischen Beweises
klar gemacht hatte, diktirte er den nächstfolgenden Lehrsatz und sagte: "Sucht
nun, ein jeder für sich, den Beweis." Dann ging er im Zimmer spazieren,
ohne sich um uns zu kümmern. Nachdem sich einige gemeldet hatten, die den
Beweis gefunden zu haben glaubten, ließ er sie, einen nach dem andern, das
Gefundene an der Tafel demonstriren und merzte die etwa vorkommenden
Fehlschlusse ans. War ein unanfechtbarer Beweis vereinbart, so wurde zum
folgenden Satze übergegangen. Auch übte er uns darin, die Figuren im
Veopfe zu konstruiren; der Beweisende kehrte dann der Tafel, auf der ein
andrer nach der Angabe des Beweisenden zeichnete, den Rücken. Daß es Lehr¬
bücher der Geometrie, Physik und Chemie gebe, davon hatten nur keine Ahnung.
Der Rektor brachte kein Buch in die Masse mit, wir machten uns auch hier
die Lehrbücher selbst. Die durchgenommenen Abschnitte wurden von einer
Stunde zur andern im Diarium ausgearbeitet und sollten dann ins Reinheft
eingetragen werden. Da der Rektor aber nnr aller Vierteljahre einmal die
Reinhefte einforderte, so ließ man diese Arbeit gewöhnlich liegen, bis er die
bevorstehende Durchsicht ankündigte. Dann wurde das Ganze in wenigem
Tagen zusammengeschrieben. Ich ließ mich in solchen Zeiten ein paar Tage
hinter einander von der Mutter um vier Uhr oder noch früher wecken, was
namentlich im Sommer sehr schon war, da ich vor dem Fenster, an dem ich
schrieb, eine grüne Wiese, und blane Berge als Hintergrund hatte. Bei
Sachen, die zu begreifen den Schwächern schwer fiel, wurde gewöhnlich in
Compagnie gearbeitet, wobei die Schwachen sich von denen, die es weg hatten,
vollends aufklären ließen. Das letzte, was ich auf dieser Schule in der Physik
gelernt habe, war der Bau der Taschenuhr, und in der Chemie die Gas-
öereitung. Die Zeichnungen, die ich dazu gemacht habe, trage ich noch im
Kopfe. An Physikalischen Instrumenten und andern Lehrmitteln besaß die An¬
stalt -..... nichts. Ungezogenheiten und dumme Streiche kamen in des Rektors
Stunden nicht vor. Er hat niemals ein böses Wort gesagt, noch weniger
gestraft, und bewahrte stets dieselbe freundlich ernste Ruhe. Die Sache machte
sich ganz von selbst. Wir fanden gleich in der ersten Stunde heraus, daß
sich mit der ernsten Geistesarbeit, die hier zu leisten war, Allotria nicht ver¬
trüge", und so unterblieben sie anch. Freilich war in dieser Klasse auch das
Schülermaterial schon einigermaßen durchgesiebt. Doch haben wir es "us bei
den andern Lehrern immer noch recht bequem gemacht, uns und ihnen. An
schönen Svinmernachnuttagen fanden sich die Herren H. und W. mit uns
in dem Verlangen zu schwarzen gewöhnlich zusammen. Wir erfanden die
wunderbarsten Gründe, um uns ans eine Stunde frei zu bitten, und diese
Gründe wurden fast immer stichhaltig befunden. Die Zeichenstunde wurde
zwar niemals freigegeben, aber wenn wir das Zeichnen einmal satt hatte", dann
setzten wir uns mit der Bitte: Nun erzählen Sie uns was! um Herrn W.


dem er uus die ersten Begriffe und das Wesen des geometrischen Beweises
klar gemacht hatte, diktirte er den nächstfolgenden Lehrsatz und sagte: „Sucht
nun, ein jeder für sich, den Beweis." Dann ging er im Zimmer spazieren,
ohne sich um uns zu kümmern. Nachdem sich einige gemeldet hatten, die den
Beweis gefunden zu haben glaubten, ließ er sie, einen nach dem andern, das
Gefundene an der Tafel demonstriren und merzte die etwa vorkommenden
Fehlschlusse ans. War ein unanfechtbarer Beweis vereinbart, so wurde zum
folgenden Satze übergegangen. Auch übte er uns darin, die Figuren im
Veopfe zu konstruiren; der Beweisende kehrte dann der Tafel, auf der ein
andrer nach der Angabe des Beweisenden zeichnete, den Rücken. Daß es Lehr¬
bücher der Geometrie, Physik und Chemie gebe, davon hatten nur keine Ahnung.
Der Rektor brachte kein Buch in die Masse mit, wir machten uns auch hier
die Lehrbücher selbst. Die durchgenommenen Abschnitte wurden von einer
Stunde zur andern im Diarium ausgearbeitet und sollten dann ins Reinheft
eingetragen werden. Da der Rektor aber nnr aller Vierteljahre einmal die
Reinhefte einforderte, so ließ man diese Arbeit gewöhnlich liegen, bis er die
bevorstehende Durchsicht ankündigte. Dann wurde das Ganze in wenigem
Tagen zusammengeschrieben. Ich ließ mich in solchen Zeiten ein paar Tage
hinter einander von der Mutter um vier Uhr oder noch früher wecken, was
namentlich im Sommer sehr schon war, da ich vor dem Fenster, an dem ich
schrieb, eine grüne Wiese, und blane Berge als Hintergrund hatte. Bei
Sachen, die zu begreifen den Schwächern schwer fiel, wurde gewöhnlich in
Compagnie gearbeitet, wobei die Schwachen sich von denen, die es weg hatten,
vollends aufklären ließen. Das letzte, was ich auf dieser Schule in der Physik
gelernt habe, war der Bau der Taschenuhr, und in der Chemie die Gas-
öereitung. Die Zeichnungen, die ich dazu gemacht habe, trage ich noch im
Kopfe. An Physikalischen Instrumenten und andern Lehrmitteln besaß die An¬
stalt -..... nichts. Ungezogenheiten und dumme Streiche kamen in des Rektors
Stunden nicht vor. Er hat niemals ein böses Wort gesagt, noch weniger
gestraft, und bewahrte stets dieselbe freundlich ernste Ruhe. Die Sache machte
sich ganz von selbst. Wir fanden gleich in der ersten Stunde heraus, daß
sich mit der ernsten Geistesarbeit, die hier zu leisten war, Allotria nicht ver¬
trüge», und so unterblieben sie anch. Freilich war in dieser Klasse auch das
Schülermaterial schon einigermaßen durchgesiebt. Doch haben wir es »us bei
den andern Lehrern immer noch recht bequem gemacht, uns und ihnen. An
schönen Svinmernachnuttagen fanden sich die Herren H. und W. mit uns
in dem Verlangen zu schwarzen gewöhnlich zusammen. Wir erfanden die
wunderbarsten Gründe, um uns ans eine Stunde frei zu bitten, und diese
Gründe wurden fast immer stichhaltig befunden. Die Zeichenstunde wurde
zwar niemals freigegeben, aber wenn wir das Zeichnen einmal satt hatte», dann
setzten wir uns mit der Bitte: Nun erzählen Sie uns was! um Herrn W.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/66>, abgerufen am 23.07.2024.