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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die deutsche Einheit

völkeruugsmenge diesem teilweise sogar überlegen. Dennoch ist das Bewußt¬
sein davon, daß Rom die Hauptstadt ist und als solche die selbstverständ¬
liche Führerin ans allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in der Politik wie
in der Wissenschaft und Kunst, der geistige Mittelpunkt, dem die Schwester¬
städte sich gern und willig beugen, so alldurchdringend, jedem Italiener ein
so unantastbarer Grundpfeiler seines Staatsgebäudes, daß wir Deutschen vor
solchem Nationalgefühl beschämt die Augen niederschlagen müssen.

Wenn ein Ausländer in München oder Stuttgart die Postwertzeichen des
Reiches für ungiltig erklärt sieht, wenn er liest, was kürzlich eine Zeitung
rügte, wie es Baiern nur habe zugeben können, daß die Versicherungsmarken
für Alter und Invalidität auch innerhalb der blauweißen Grenzen den Reichs¬
adler tragen statt des allein berechtigten bairischen Löwen, wenn er bei Triuk-
sprüchen auf den Landesherrn diesen auch als oberste,? Kriegsherrn der Armee
gefeiert hört, wenn er in den Hauptstädten der europäischen Großmächte neben
dem deutschen Botschafter eine Schar von diplomatischen Vertretern der deutschen
Mittelstaaten ein zweckloses, aber darum nicht weniger selbstbewußtes Dasein
führen sieht, wie in den Zeiten des seligen deutscheu Bundes -- dann muß er
einen sonderbaren Begriff von der deutschen Einheit bekommen. Dein Deutschen
aber, der an diese Punkte rührt, wird mit dem Pathos loyalster Entrüstung
das Wort "Reservate!" entgegengeschleudert. Hände weg! das ist heiliges
Land! Ja wohl, da sind sie, die Neservatrechte, von der Verfnsfung des Reiches
verbrieft und geschirmt, und wohl kann von der Seite nicht daran gerüttelt
werden, die sie bewilligt hat. Aber daß sie leben, zwanzig Jahre uach der Kaiser-
feier zu Versailles, daß sie nicht allein Verteidiger finden, sondern Freunde,
die sie erweitern und verstärken möchten, das ist das Unbegreifliche. Damals
waren sie nicht zu umgehen, um den mühsamen Bau des Reiches unter Dach
zu bringen; sie waren der aufgedrungene Verzicht auf manche Klammer für
die Festigung des Reiches. Wir haben damals froh und dankerfüllt das Richt-
fest des hehren Domes deutscher Einheit gefeiert. Aber wir haben anch ge¬
meint, er sollte im Innern ausgebaut, vollendet werden, dnrch opfermutige
Arbeit aller, die daran wirken, durch eine heilige Liebe zum großen Vater¬
lande, die willig von der eignen Hoheit hingäbe zur Ehre und zum Heile des
Ganzen! Es ist nicht geschehen. Die Lücken und die Fugen sind nicht ge¬
schlossen, und leise, aber merklich nagt der Zeiten wechselvoller Lauf an dem
schlecht verwahrten Bau.

Was wir hier schildern und was sich als Bild aus den Einzelzügen zu¬
sammensetzt, das ist viel mehr, als ein gelegentliches Aufflackern des Partiku-
larismus. Es ist ein chronischer Partikularismus, das heißt, das mangelnde
Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geist der Spaltung und Zerklüftung,
des Lockerns und Anseinanderstrebens. "Ihr Kaiser kommt zu uns," sagte zu
mir, dem Preußen, vor Jahren einmal eine Frau aus den Dresdner Hofkreisen.


Die deutsche Einheit

völkeruugsmenge diesem teilweise sogar überlegen. Dennoch ist das Bewußt¬
sein davon, daß Rom die Hauptstadt ist und als solche die selbstverständ¬
liche Führerin ans allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in der Politik wie
in der Wissenschaft und Kunst, der geistige Mittelpunkt, dem die Schwester¬
städte sich gern und willig beugen, so alldurchdringend, jedem Italiener ein
so unantastbarer Grundpfeiler seines Staatsgebäudes, daß wir Deutschen vor
solchem Nationalgefühl beschämt die Augen niederschlagen müssen.

Wenn ein Ausländer in München oder Stuttgart die Postwertzeichen des
Reiches für ungiltig erklärt sieht, wenn er liest, was kürzlich eine Zeitung
rügte, wie es Baiern nur habe zugeben können, daß die Versicherungsmarken
für Alter und Invalidität auch innerhalb der blauweißen Grenzen den Reichs¬
adler tragen statt des allein berechtigten bairischen Löwen, wenn er bei Triuk-
sprüchen auf den Landesherrn diesen auch als oberste,? Kriegsherrn der Armee
gefeiert hört, wenn er in den Hauptstädten der europäischen Großmächte neben
dem deutschen Botschafter eine Schar von diplomatischen Vertretern der deutschen
Mittelstaaten ein zweckloses, aber darum nicht weniger selbstbewußtes Dasein
führen sieht, wie in den Zeiten des seligen deutscheu Bundes — dann muß er
einen sonderbaren Begriff von der deutschen Einheit bekommen. Dein Deutschen
aber, der an diese Punkte rührt, wird mit dem Pathos loyalster Entrüstung
das Wort „Reservate!" entgegengeschleudert. Hände weg! das ist heiliges
Land! Ja wohl, da sind sie, die Neservatrechte, von der Verfnsfung des Reiches
verbrieft und geschirmt, und wohl kann von der Seite nicht daran gerüttelt
werden, die sie bewilligt hat. Aber daß sie leben, zwanzig Jahre uach der Kaiser-
feier zu Versailles, daß sie nicht allein Verteidiger finden, sondern Freunde,
die sie erweitern und verstärken möchten, das ist das Unbegreifliche. Damals
waren sie nicht zu umgehen, um den mühsamen Bau des Reiches unter Dach
zu bringen; sie waren der aufgedrungene Verzicht auf manche Klammer für
die Festigung des Reiches. Wir haben damals froh und dankerfüllt das Richt-
fest des hehren Domes deutscher Einheit gefeiert. Aber wir haben anch ge¬
meint, er sollte im Innern ausgebaut, vollendet werden, dnrch opfermutige
Arbeit aller, die daran wirken, durch eine heilige Liebe zum großen Vater¬
lande, die willig von der eignen Hoheit hingäbe zur Ehre und zum Heile des
Ganzen! Es ist nicht geschehen. Die Lücken und die Fugen sind nicht ge¬
schlossen, und leise, aber merklich nagt der Zeiten wechselvoller Lauf an dem
schlecht verwahrten Bau.

Was wir hier schildern und was sich als Bild aus den Einzelzügen zu¬
sammensetzt, das ist viel mehr, als ein gelegentliches Aufflackern des Partiku-
larismus. Es ist ein chronischer Partikularismus, das heißt, das mangelnde
Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geist der Spaltung und Zerklüftung,
des Lockerns und Anseinanderstrebens. „Ihr Kaiser kommt zu uns," sagte zu
mir, dem Preußen, vor Jahren einmal eine Frau aus den Dresdner Hofkreisen.


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[0589] Die deutsche Einheit völkeruugsmenge diesem teilweise sogar überlegen. Dennoch ist das Bewußt¬ sein davon, daß Rom die Hauptstadt ist und als solche die selbstverständ¬ liche Führerin ans allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in der Politik wie in der Wissenschaft und Kunst, der geistige Mittelpunkt, dem die Schwester¬ städte sich gern und willig beugen, so alldurchdringend, jedem Italiener ein so unantastbarer Grundpfeiler seines Staatsgebäudes, daß wir Deutschen vor solchem Nationalgefühl beschämt die Augen niederschlagen müssen. Wenn ein Ausländer in München oder Stuttgart die Postwertzeichen des Reiches für ungiltig erklärt sieht, wenn er liest, was kürzlich eine Zeitung rügte, wie es Baiern nur habe zugeben können, daß die Versicherungsmarken für Alter und Invalidität auch innerhalb der blauweißen Grenzen den Reichs¬ adler tragen statt des allein berechtigten bairischen Löwen, wenn er bei Triuk- sprüchen auf den Landesherrn diesen auch als oberste,? Kriegsherrn der Armee gefeiert hört, wenn er in den Hauptstädten der europäischen Großmächte neben dem deutschen Botschafter eine Schar von diplomatischen Vertretern der deutschen Mittelstaaten ein zweckloses, aber darum nicht weniger selbstbewußtes Dasein führen sieht, wie in den Zeiten des seligen deutscheu Bundes — dann muß er einen sonderbaren Begriff von der deutschen Einheit bekommen. Dein Deutschen aber, der an diese Punkte rührt, wird mit dem Pathos loyalster Entrüstung das Wort „Reservate!" entgegengeschleudert. Hände weg! das ist heiliges Land! Ja wohl, da sind sie, die Neservatrechte, von der Verfnsfung des Reiches verbrieft und geschirmt, und wohl kann von der Seite nicht daran gerüttelt werden, die sie bewilligt hat. Aber daß sie leben, zwanzig Jahre uach der Kaiser- feier zu Versailles, daß sie nicht allein Verteidiger finden, sondern Freunde, die sie erweitern und verstärken möchten, das ist das Unbegreifliche. Damals waren sie nicht zu umgehen, um den mühsamen Bau des Reiches unter Dach zu bringen; sie waren der aufgedrungene Verzicht auf manche Klammer für die Festigung des Reiches. Wir haben damals froh und dankerfüllt das Richt- fest des hehren Domes deutscher Einheit gefeiert. Aber wir haben anch ge¬ meint, er sollte im Innern ausgebaut, vollendet werden, dnrch opfermutige Arbeit aller, die daran wirken, durch eine heilige Liebe zum großen Vater¬ lande, die willig von der eignen Hoheit hingäbe zur Ehre und zum Heile des Ganzen! Es ist nicht geschehen. Die Lücken und die Fugen sind nicht ge¬ schlossen, und leise, aber merklich nagt der Zeiten wechselvoller Lauf an dem schlecht verwahrten Bau. Was wir hier schildern und was sich als Bild aus den Einzelzügen zu¬ sammensetzt, das ist viel mehr, als ein gelegentliches Aufflackern des Partiku- larismus. Es ist ein chronischer Partikularismus, das heißt, das mangelnde Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geist der Spaltung und Zerklüftung, des Lockerns und Anseinanderstrebens. „Ihr Kaiser kommt zu uns," sagte zu mir, dem Preußen, vor Jahren einmal eine Frau aus den Dresdner Hofkreisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/589>, abgerufen am 23.07.2024.