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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir das Volksleben
mit dein Leben der Gebildeten vergleichen. Da dieses eine höhere Kulturstufe
einnimmt als jenes, so pflegt der Gebildete ohne weiteres vorauszusetzen, das;
er ein geistigeres und weniger sinnliches Wesen sei, als der Manu und die
Frau aus dein Volke. Sehr hart urteilt in dieser Beziehung Ednard von
Hartmann liber das Volk. Einer seiner Aussprüche, den ich im Angenblick
nicht finden kann, lautet ungefähr! Die Religion ist die einzige Form, in der
das Ideale jenen Volksmassen zugänglich ist, die sonst keinen andern Lebens¬
zweck kennen als fressen, saufen und sich begatten. Man kann von dem ge¬
nannten Philosophen (und, nebenbei bemerkt, von den meisten Philosophen
und -- modernen Staatsmännern) sagen, was Giuv Cappvni von Maechia-
velli sagt: er kennt den Menschen, aber nicht die Menschen. Er kennt die
selbstsüchtigen Antriebe, die den Menschen bewegen, die Illusionen, die er sich
über die Ziele seines Strebens macht, die Heuchelei, mit der er sich und andre
über die Schlechtigkeit seiner Absichten, wie über die Verwerflichkeit der an¬
gewandten Mittel täuscht, kurzum den ganzen MotivationSProzesz, wie es
Schopenhauer nennt, also er kennt den Menschen im allgemeinen, und zwar
vorzugsweise seine schlechtere Seite, aber nicht die verschiednen wirklichen
Menschen, die Menschen eiues bestimmten BernfsstandeS, einer bestimmten
Landschaft, einer bestimmten Konfession, und am wenigsten natürlich die
Menschen, die ihm am fernsten stehen, die untern Klassen. So kommt Hart¬
mann an einer Stelle zu der Ansicht, daß die armen Leute kein andres Ver¬
gnügen kennten, als Essen und Trinken und jenes dritte; an einer andern Stelle
dagegen meint er, Essen und Trinken könne ihnen gar kein Vergnügen bereiten,
weil ihren Speisen der Wohlgeschmack fehle. Eins ist so falsch wie das
andre.

Auf den oben erwähnten Ausspruch könnten wir min zunächst mit einem
Satze Schopenhauers antworten, in dem der abendländische Mensch getadelt
wird, weil er "wähnt, die Tiere seien etwas von Grund aus andres als er,
und, um sich in diesem Wcihne zu befestigen, sie Bestien nennt, alle ihre ihm
gemeinsamen Lebensverrichtungen um ihnen mit Schimpfnamen belegt n. s. w."
Die Höflichkeit, die der Meister für die Tierbrüder fordert, könnte der Jünger
wohl mich den ärmer" unter den Menschenbildern zugestehen. Sodann er¬
achte ich die zur Erhaltung des Einzelnen und der Gattung dienenden Ver-
richtungen überhaupt nicht für etwas niedriges, Gemeines und Schlechtes,
von denen es erlaubt wäre verächtlich zu sprechen, sondern für etwas Wunder¬
bares, Schönes, Geheimnisvolles und Göttliches, umso mehr, als der ganze
stolze Ban des menschlichen Geisteslebens ans der durch jene Verrichtungen
genährten Wurzel hervorgeht, das künstliche, vielverzweigte Getriebe -- aber
zu was lange Worte machen über eine Sache, für die Schiller schon vor hundert
Jahren den guten kurzen Ausdruck gefunden hat:


Gcschichisphil»se>pulscha Gedanke»

Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir das Volksleben
mit dein Leben der Gebildeten vergleichen. Da dieses eine höhere Kulturstufe
einnimmt als jenes, so pflegt der Gebildete ohne weiteres vorauszusetzen, das;
er ein geistigeres und weniger sinnliches Wesen sei, als der Manu und die
Frau aus dein Volke. Sehr hart urteilt in dieser Beziehung Ednard von
Hartmann liber das Volk. Einer seiner Aussprüche, den ich im Angenblick
nicht finden kann, lautet ungefähr! Die Religion ist die einzige Form, in der
das Ideale jenen Volksmassen zugänglich ist, die sonst keinen andern Lebens¬
zweck kennen als fressen, saufen und sich begatten. Man kann von dem ge¬
nannten Philosophen (und, nebenbei bemerkt, von den meisten Philosophen
und — modernen Staatsmännern) sagen, was Giuv Cappvni von Maechia-
velli sagt: er kennt den Menschen, aber nicht die Menschen. Er kennt die
selbstsüchtigen Antriebe, die den Menschen bewegen, die Illusionen, die er sich
über die Ziele seines Strebens macht, die Heuchelei, mit der er sich und andre
über die Schlechtigkeit seiner Absichten, wie über die Verwerflichkeit der an¬
gewandten Mittel täuscht, kurzum den ganzen MotivationSProzesz, wie es
Schopenhauer nennt, also er kennt den Menschen im allgemeinen, und zwar
vorzugsweise seine schlechtere Seite, aber nicht die verschiednen wirklichen
Menschen, die Menschen eiues bestimmten BernfsstandeS, einer bestimmten
Landschaft, einer bestimmten Konfession, und am wenigsten natürlich die
Menschen, die ihm am fernsten stehen, die untern Klassen. So kommt Hart¬
mann an einer Stelle zu der Ansicht, daß die armen Leute kein andres Ver¬
gnügen kennten, als Essen und Trinken und jenes dritte; an einer andern Stelle
dagegen meint er, Essen und Trinken könne ihnen gar kein Vergnügen bereiten,
weil ihren Speisen der Wohlgeschmack fehle. Eins ist so falsch wie das
andre.

Auf den oben erwähnten Ausspruch könnten wir min zunächst mit einem
Satze Schopenhauers antworten, in dem der abendländische Mensch getadelt
wird, weil er „wähnt, die Tiere seien etwas von Grund aus andres als er,
und, um sich in diesem Wcihne zu befestigen, sie Bestien nennt, alle ihre ihm
gemeinsamen Lebensverrichtungen um ihnen mit Schimpfnamen belegt n. s. w."
Die Höflichkeit, die der Meister für die Tierbrüder fordert, könnte der Jünger
wohl mich den ärmer» unter den Menschenbildern zugestehen. Sodann er¬
achte ich die zur Erhaltung des Einzelnen und der Gattung dienenden Ver-
richtungen überhaupt nicht für etwas niedriges, Gemeines und Schlechtes,
von denen es erlaubt wäre verächtlich zu sprechen, sondern für etwas Wunder¬
bares, Schönes, Geheimnisvolles und Göttliches, umso mehr, als der ganze
stolze Ban des menschlichen Geisteslebens ans der durch jene Verrichtungen
genährten Wurzel hervorgeht, das künstliche, vielverzweigte Getriebe — aber
zu was lange Worte machen über eine Sache, für die Schiller schon vor hundert
Jahren den guten kurzen Ausdruck gefunden hat:


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[0552] Gcschichisphil»se>pulscha Gedanke» Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangen wir, wenn wir das Volksleben mit dein Leben der Gebildeten vergleichen. Da dieses eine höhere Kulturstufe einnimmt als jenes, so pflegt der Gebildete ohne weiteres vorauszusetzen, das; er ein geistigeres und weniger sinnliches Wesen sei, als der Manu und die Frau aus dein Volke. Sehr hart urteilt in dieser Beziehung Ednard von Hartmann liber das Volk. Einer seiner Aussprüche, den ich im Angenblick nicht finden kann, lautet ungefähr! Die Religion ist die einzige Form, in der das Ideale jenen Volksmassen zugänglich ist, die sonst keinen andern Lebens¬ zweck kennen als fressen, saufen und sich begatten. Man kann von dem ge¬ nannten Philosophen (und, nebenbei bemerkt, von den meisten Philosophen und — modernen Staatsmännern) sagen, was Giuv Cappvni von Maechia- velli sagt: er kennt den Menschen, aber nicht die Menschen. Er kennt die selbstsüchtigen Antriebe, die den Menschen bewegen, die Illusionen, die er sich über die Ziele seines Strebens macht, die Heuchelei, mit der er sich und andre über die Schlechtigkeit seiner Absichten, wie über die Verwerflichkeit der an¬ gewandten Mittel täuscht, kurzum den ganzen MotivationSProzesz, wie es Schopenhauer nennt, also er kennt den Menschen im allgemeinen, und zwar vorzugsweise seine schlechtere Seite, aber nicht die verschiednen wirklichen Menschen, die Menschen eiues bestimmten BernfsstandeS, einer bestimmten Landschaft, einer bestimmten Konfession, und am wenigsten natürlich die Menschen, die ihm am fernsten stehen, die untern Klassen. So kommt Hart¬ mann an einer Stelle zu der Ansicht, daß die armen Leute kein andres Ver¬ gnügen kennten, als Essen und Trinken und jenes dritte; an einer andern Stelle dagegen meint er, Essen und Trinken könne ihnen gar kein Vergnügen bereiten, weil ihren Speisen der Wohlgeschmack fehle. Eins ist so falsch wie das andre. Auf den oben erwähnten Ausspruch könnten wir min zunächst mit einem Satze Schopenhauers antworten, in dem der abendländische Mensch getadelt wird, weil er „wähnt, die Tiere seien etwas von Grund aus andres als er, und, um sich in diesem Wcihne zu befestigen, sie Bestien nennt, alle ihre ihm gemeinsamen Lebensverrichtungen um ihnen mit Schimpfnamen belegt n. s. w." Die Höflichkeit, die der Meister für die Tierbrüder fordert, könnte der Jünger wohl mich den ärmer» unter den Menschenbildern zugestehen. Sodann er¬ achte ich die zur Erhaltung des Einzelnen und der Gattung dienenden Ver- richtungen überhaupt nicht für etwas niedriges, Gemeines und Schlechtes, von denen es erlaubt wäre verächtlich zu sprechen, sondern für etwas Wunder¬ bares, Schönes, Geheimnisvolles und Göttliches, umso mehr, als der ganze stolze Ban des menschlichen Geisteslebens ans der durch jene Verrichtungen genährten Wurzel hervorgeht, das künstliche, vielverzweigte Getriebe — aber zu was lange Worte machen über eine Sache, für die Schiller schon vor hundert Jahren den guten kurzen Ausdruck gefunden hat:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/552>, abgerufen am 24.07.2024.