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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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denn wenn er auch den dritten Teil seiner Einnahme von 6 bis 800 Mark
auf Wohnung verwendet, so wird diese Wohnung immer noch dermaßen be¬
schränkt sein, das; sie sowohl das leibliche Gedeihen der Kinder wie ein züch¬
tiges Familienleben unmöglich macht. Er weiß es also, daß er auf alle Fülle
sündigen wird, mag er heiraten oder ledig bleiben. Demnach ist er zur Un¬
zufriedenheit verpflichtet, so lange es ihm nicht gelingt, sein Einkommen so
weit zu erhöhen, bis es ihm die Grundlage für ein anstündiges Familienleben
darbietet. Der Apostel sagt zwar: "Wenn wir Nahrung und Kleidung haben,
so lasset uus daran genügen." Aber er sagt nicht, daß wir uns mit weniger
begnügen sollen, und er hat nicht vorausgewußt, was der Nvrdeuropüer im
neunzehnten Jahrhundert nötig haben wird.

Ist es also jederzeit Pflicht der öffentlichen Gewalten, die Bedingungen
der Zufriedenheit und Glückseligkeit, wie auch der innig damit verbundenen
geistigen Ausbildung und Sittlichkeit zu fördern (letzteres durch Pflege der
Ideale, durch Erziehung des Pflichtgefühls und dnrch Einprägung gesunder
Grundsätze), so muß es doch dem guten Genius jedes Einzelnen und den
herrschenden geistigen Strömungen überlassen bleiben, den allgemeinen Begriffen
der Glückseligkeit und Sittlichkeit den bestimmten Inhalt zu geben. Eine be¬
stimmte Art von Glückseligkeit oder Sittlichkeit einem ganzen Volke mit Ge¬
walt aufzwingen wollen, ist so gut Fanatismus, wie der Zwang zu dem allein
wahren Glauben, sei es nach spanischer Methode mit Feuer, sei es nach schot¬
tischer mit dem Schwert, und die Ezzelin von Romano und Robespierre sind
um nichts besser als die Torquemada. Wie kindisch das sozialdemokrntische
Glückseligkeitsideal ist, wenn auch als Ersatz für die abhanden gekommenen
bessern Ideale vor der Hand nicht zu entbehren (wie sich anch schon von jeher
mancher Mensch, dem es schlecht ging, nur durch Luftschlösser oder die Hoff¬
nung auf das große Los aufrecht erhalten konnte), das ist neulich in der Be¬
sprechung von Bebels Buch über die Frau in diesen Blättern hervorgehoben
worden. Dem Vielen, was über diesen Gegenstand in Ernst und Scherz schon
gesagt worden ist, braucht nichts mehr hinzugefügt zu werden; nnr das Ideal
des zweistündigen Arbeitstages wollen wir nicht ganz unbeleuchtet lassen, weil
die Sozialdemokraten sich damit ans Kant und Fichte berufen könnten. Diese
beiden halten nämlich die Anstrengung für etwas der Natur widerstrebendes
und eben darum höchst sittliches. Daraus könnten die Sozialdemokraten die
Folgerung ziehen, daß Müßiggang oder ein möglichst niedriges Maß von Ar¬
beit eine Forderung des natürlichen Glückseligkeitstriebes und daher notwen¬
diger Bestandteil eines Ideals sei, das dein kantischen Rigorismus gerade
entgegengesetzt ist. "Trägheit -- sagt Fichte (in der Sittenlehre) -- ist das
wahre, angeborne, in der menschlichen Natur selbst liegende radikale Übel; der
Mensch ist von Natur faul, sagt .Kant sehr richtig." Das Gegenteil ist richtig,
wie ein Blick auf gesunde Kinder lehrt, bei denen der Thätigkeitstrieb alle


denn wenn er auch den dritten Teil seiner Einnahme von 6 bis 800 Mark
auf Wohnung verwendet, so wird diese Wohnung immer noch dermaßen be¬
schränkt sein, das; sie sowohl das leibliche Gedeihen der Kinder wie ein züch¬
tiges Familienleben unmöglich macht. Er weiß es also, daß er auf alle Fülle
sündigen wird, mag er heiraten oder ledig bleiben. Demnach ist er zur Un¬
zufriedenheit verpflichtet, so lange es ihm nicht gelingt, sein Einkommen so
weit zu erhöhen, bis es ihm die Grundlage für ein anstündiges Familienleben
darbietet. Der Apostel sagt zwar: „Wenn wir Nahrung und Kleidung haben,
so lasset uus daran genügen." Aber er sagt nicht, daß wir uns mit weniger
begnügen sollen, und er hat nicht vorausgewußt, was der Nvrdeuropüer im
neunzehnten Jahrhundert nötig haben wird.

Ist es also jederzeit Pflicht der öffentlichen Gewalten, die Bedingungen
der Zufriedenheit und Glückseligkeit, wie auch der innig damit verbundenen
geistigen Ausbildung und Sittlichkeit zu fördern (letzteres durch Pflege der
Ideale, durch Erziehung des Pflichtgefühls und dnrch Einprägung gesunder
Grundsätze), so muß es doch dem guten Genius jedes Einzelnen und den
herrschenden geistigen Strömungen überlassen bleiben, den allgemeinen Begriffen
der Glückseligkeit und Sittlichkeit den bestimmten Inhalt zu geben. Eine be¬
stimmte Art von Glückseligkeit oder Sittlichkeit einem ganzen Volke mit Ge¬
walt aufzwingen wollen, ist so gut Fanatismus, wie der Zwang zu dem allein
wahren Glauben, sei es nach spanischer Methode mit Feuer, sei es nach schot¬
tischer mit dem Schwert, und die Ezzelin von Romano und Robespierre sind
um nichts besser als die Torquemada. Wie kindisch das sozialdemokrntische
Glückseligkeitsideal ist, wenn auch als Ersatz für die abhanden gekommenen
bessern Ideale vor der Hand nicht zu entbehren (wie sich anch schon von jeher
mancher Mensch, dem es schlecht ging, nur durch Luftschlösser oder die Hoff¬
nung auf das große Los aufrecht erhalten konnte), das ist neulich in der Be¬
sprechung von Bebels Buch über die Frau in diesen Blättern hervorgehoben
worden. Dem Vielen, was über diesen Gegenstand in Ernst und Scherz schon
gesagt worden ist, braucht nichts mehr hinzugefügt zu werden; nnr das Ideal
des zweistündigen Arbeitstages wollen wir nicht ganz unbeleuchtet lassen, weil
die Sozialdemokraten sich damit ans Kant und Fichte berufen könnten. Diese
beiden halten nämlich die Anstrengung für etwas der Natur widerstrebendes
und eben darum höchst sittliches. Daraus könnten die Sozialdemokraten die
Folgerung ziehen, daß Müßiggang oder ein möglichst niedriges Maß von Ar¬
beit eine Forderung des natürlichen Glückseligkeitstriebes und daher notwen¬
diger Bestandteil eines Ideals sei, das dein kantischen Rigorismus gerade
entgegengesetzt ist. „Trägheit — sagt Fichte (in der Sittenlehre) — ist das
wahre, angeborne, in der menschlichen Natur selbst liegende radikale Übel; der
Mensch ist von Natur faul, sagt .Kant sehr richtig." Das Gegenteil ist richtig,
wie ein Blick auf gesunde Kinder lehrt, bei denen der Thätigkeitstrieb alle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/508>, abgerufen am 23.07.2024.