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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

Leben in harter Arbeit zubringen, ohne irgend etwas von dein zu kosten, was
die Welt Genüsse nennt, ist wirkliche Zufriedenheit und echte Heiterkeit des
Gemütes sehr hänfig. Man pflegt zwar gerade vom Bauern zu sagen, er
sei nie zufrieden, aber seine bekannten Klagen über schlechte Ernte und andres
Unglück sind nicht Äußerungen wirklicher Unzufriedenheit, sondern nur diplo¬
matische Mittel zur Abwendung von Steuererhöhungen. Auch in den Kreisen
der Handwerker, der kleinern und mittlern Beamten findet sich hie und da
noch Zufriedenheit. Ein Staatsmann, der die Unzufriedenheit für einen unaus¬
rottbaren Naturfehler aller Menschen ansahe, würde durch diesen Irrtum ver¬
hindert werden, eine seiner wichtigsten Pflichten zu erfüllen, die darin besteht,
daß er die Vedingnngen der Zufriedenheit zu erforschen und nach Möglichkeit
zu fordern hat. Nicht etwa beglücken soll er die Menschen: Versuche absicht¬
licher Beglückung schlagen ja immer ins Gegenteil um, wohl aber die Wurzeln
der Zufriedenheit sorglich Pflegen und jedenfalls sich hüten, sie mutwillig aus¬
zureisen. Eine Gewissenserforschung nach dieser Seite hin kann den Staats¬
männern unsrer Zeit nicht schaden.

Der zweite Irrtum, der in jenem apokryphen Ausspruche liegt, besteht
darin, daß die Unzufriedenheit des Arbeiters mit der des Millionärs auf eine
Stufe gestellt wird. Die Unzufriedenheit des letztern ist eine Verirrung, die
des erstern in vielen Fällen Pflicht. Millionäre sind unzufrieden, entweder
weil sie die Übersättigung mit Genüssen zu Hypochondern gemacht hat, oder
weil sie vom blinden, wahnwitzigen Goldhnnger gestachelt werden. Dazu
kommt dann allerdings in unsrer Zeit noch ein achtbarer Grund, der auch die
"leisten Menschen mittlerer Lebenslage unzufrieden macht. Dank unsrer un¬
übertrefflich vollkommenen Gesellschaftsordnung, deren Aufrechterhaltung ja
nach Ansicht der maßgebendsten Persönlichkeiten die Hauptaufgabe des Staates
sein soll, schwebt jedermann beständig in solcher Existenzunsicherheit, daß er,
gleich dem Arbeiter an einem dnrch die Körperschwere eines lebendigen
Menschen in Bewegung gesetzten Schöpfrade, beständig aufwärts schreiten
muß, wenn er nicht ertrinken will; jedermann ist gezwungen, mit erlaubten
und unerlaubten Mitteln nach Bereicherung zu streben, wenn er seinen Kindern
nnr die gesellschaftliche Stellung, die er selbst inne hat, einigermaßen sichern
will. Insofern ist heute auch die Unzufriedenheit des Millionärs einigermaßen
gerechtfertigt; aber an sich ist sie ungerechtfertigt und keineswegs ein not¬
wendiges Erzeugnis der Menschennatur. Dagegen ist ein Lohnarbeiter, der
weniger als 1000 Mark einnimmt, zur Unzufriedenheit verpflichtet, und zwar
durch das Christentum verpflichtet. Denn dieser Lohnarbeiter weiß es, daß
er, wenn er nicht heiratet, vielfältig sündigen, wenn er aber heiratet, sein Weib
und seine Kinder elend machen wird, was eine noch größere Sünde ist. Der
großstädtische Arbeiter namentlich weiß ganz genau im voraus, daß er seine
Kinder nicht bloß am Leibe, sondern auch an der Seele elend machen wird;


Geschichtsphilosophische Gedanken

Leben in harter Arbeit zubringen, ohne irgend etwas von dein zu kosten, was
die Welt Genüsse nennt, ist wirkliche Zufriedenheit und echte Heiterkeit des
Gemütes sehr hänfig. Man pflegt zwar gerade vom Bauern zu sagen, er
sei nie zufrieden, aber seine bekannten Klagen über schlechte Ernte und andres
Unglück sind nicht Äußerungen wirklicher Unzufriedenheit, sondern nur diplo¬
matische Mittel zur Abwendung von Steuererhöhungen. Auch in den Kreisen
der Handwerker, der kleinern und mittlern Beamten findet sich hie und da
noch Zufriedenheit. Ein Staatsmann, der die Unzufriedenheit für einen unaus¬
rottbaren Naturfehler aller Menschen ansahe, würde durch diesen Irrtum ver¬
hindert werden, eine seiner wichtigsten Pflichten zu erfüllen, die darin besteht,
daß er die Vedingnngen der Zufriedenheit zu erforschen und nach Möglichkeit
zu fordern hat. Nicht etwa beglücken soll er die Menschen: Versuche absicht¬
licher Beglückung schlagen ja immer ins Gegenteil um, wohl aber die Wurzeln
der Zufriedenheit sorglich Pflegen und jedenfalls sich hüten, sie mutwillig aus¬
zureisen. Eine Gewissenserforschung nach dieser Seite hin kann den Staats¬
männern unsrer Zeit nicht schaden.

Der zweite Irrtum, der in jenem apokryphen Ausspruche liegt, besteht
darin, daß die Unzufriedenheit des Arbeiters mit der des Millionärs auf eine
Stufe gestellt wird. Die Unzufriedenheit des letztern ist eine Verirrung, die
des erstern in vielen Fällen Pflicht. Millionäre sind unzufrieden, entweder
weil sie die Übersättigung mit Genüssen zu Hypochondern gemacht hat, oder
weil sie vom blinden, wahnwitzigen Goldhnnger gestachelt werden. Dazu
kommt dann allerdings in unsrer Zeit noch ein achtbarer Grund, der auch die
«leisten Menschen mittlerer Lebenslage unzufrieden macht. Dank unsrer un¬
übertrefflich vollkommenen Gesellschaftsordnung, deren Aufrechterhaltung ja
nach Ansicht der maßgebendsten Persönlichkeiten die Hauptaufgabe des Staates
sein soll, schwebt jedermann beständig in solcher Existenzunsicherheit, daß er,
gleich dem Arbeiter an einem dnrch die Körperschwere eines lebendigen
Menschen in Bewegung gesetzten Schöpfrade, beständig aufwärts schreiten
muß, wenn er nicht ertrinken will; jedermann ist gezwungen, mit erlaubten
und unerlaubten Mitteln nach Bereicherung zu streben, wenn er seinen Kindern
nnr die gesellschaftliche Stellung, die er selbst inne hat, einigermaßen sichern
will. Insofern ist heute auch die Unzufriedenheit des Millionärs einigermaßen
gerechtfertigt; aber an sich ist sie ungerechtfertigt und keineswegs ein not¬
wendiges Erzeugnis der Menschennatur. Dagegen ist ein Lohnarbeiter, der
weniger als 1000 Mark einnimmt, zur Unzufriedenheit verpflichtet, und zwar
durch das Christentum verpflichtet. Denn dieser Lohnarbeiter weiß es, daß
er, wenn er nicht heiratet, vielfältig sündigen, wenn er aber heiratet, sein Weib
und seine Kinder elend machen wird, was eine noch größere Sünde ist. Der
großstädtische Arbeiter namentlich weiß ganz genau im voraus, daß er seine
Kinder nicht bloß am Leibe, sondern auch an der Seele elend machen wird;


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[0507] Geschichtsphilosophische Gedanken Leben in harter Arbeit zubringen, ohne irgend etwas von dein zu kosten, was die Welt Genüsse nennt, ist wirkliche Zufriedenheit und echte Heiterkeit des Gemütes sehr hänfig. Man pflegt zwar gerade vom Bauern zu sagen, er sei nie zufrieden, aber seine bekannten Klagen über schlechte Ernte und andres Unglück sind nicht Äußerungen wirklicher Unzufriedenheit, sondern nur diplo¬ matische Mittel zur Abwendung von Steuererhöhungen. Auch in den Kreisen der Handwerker, der kleinern und mittlern Beamten findet sich hie und da noch Zufriedenheit. Ein Staatsmann, der die Unzufriedenheit für einen unaus¬ rottbaren Naturfehler aller Menschen ansahe, würde durch diesen Irrtum ver¬ hindert werden, eine seiner wichtigsten Pflichten zu erfüllen, die darin besteht, daß er die Vedingnngen der Zufriedenheit zu erforschen und nach Möglichkeit zu fordern hat. Nicht etwa beglücken soll er die Menschen: Versuche absicht¬ licher Beglückung schlagen ja immer ins Gegenteil um, wohl aber die Wurzeln der Zufriedenheit sorglich Pflegen und jedenfalls sich hüten, sie mutwillig aus¬ zureisen. Eine Gewissenserforschung nach dieser Seite hin kann den Staats¬ männern unsrer Zeit nicht schaden. Der zweite Irrtum, der in jenem apokryphen Ausspruche liegt, besteht darin, daß die Unzufriedenheit des Arbeiters mit der des Millionärs auf eine Stufe gestellt wird. Die Unzufriedenheit des letztern ist eine Verirrung, die des erstern in vielen Fällen Pflicht. Millionäre sind unzufrieden, entweder weil sie die Übersättigung mit Genüssen zu Hypochondern gemacht hat, oder weil sie vom blinden, wahnwitzigen Goldhnnger gestachelt werden. Dazu kommt dann allerdings in unsrer Zeit noch ein achtbarer Grund, der auch die «leisten Menschen mittlerer Lebenslage unzufrieden macht. Dank unsrer un¬ übertrefflich vollkommenen Gesellschaftsordnung, deren Aufrechterhaltung ja nach Ansicht der maßgebendsten Persönlichkeiten die Hauptaufgabe des Staates sein soll, schwebt jedermann beständig in solcher Existenzunsicherheit, daß er, gleich dem Arbeiter an einem dnrch die Körperschwere eines lebendigen Menschen in Bewegung gesetzten Schöpfrade, beständig aufwärts schreiten muß, wenn er nicht ertrinken will; jedermann ist gezwungen, mit erlaubten und unerlaubten Mitteln nach Bereicherung zu streben, wenn er seinen Kindern nnr die gesellschaftliche Stellung, die er selbst inne hat, einigermaßen sichern will. Insofern ist heute auch die Unzufriedenheit des Millionärs einigermaßen gerechtfertigt; aber an sich ist sie ungerechtfertigt und keineswegs ein not¬ wendiges Erzeugnis der Menschennatur. Dagegen ist ein Lohnarbeiter, der weniger als 1000 Mark einnimmt, zur Unzufriedenheit verpflichtet, und zwar durch das Christentum verpflichtet. Denn dieser Lohnarbeiter weiß es, daß er, wenn er nicht heiratet, vielfältig sündigen, wenn er aber heiratet, sein Weib und seine Kinder elend machen wird, was eine noch größere Sünde ist. Der großstädtische Arbeiter namentlich weiß ganz genau im voraus, daß er seine Kinder nicht bloß am Leibe, sondern auch an der Seele elend machen wird;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/507>, abgerufen am 25.08.2024.