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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

Nicht geung aller. daß mau zwei, ja an deutschen Gymnasien sogar drei
fremde Sprachen für die Ausbildung in der Muttersprache heranzieht, empfiehlt
der deutsche Sprachverein noch eine dritte oder vierte - das Mittelhochdeutsche,
^es weiß, daß ich mich jetzt einer argen Ketzerei schuldig mache. Die Auf¬
klärung soll aber gleich folgen. Ein mittelhochdeutscher Text ans dein Nibe¬
lungenlied oder ein Lied Walthers dürfte dem deutschen Schüler kaum geringere
Schwierigkeiten bieten, als ein leichter englischer oder dem im Latein unter¬
richteten el" französischer Text. In allen drei Fällen wird der Schüler das
Wörterbuch häufig zu Rate ziehen müssen, jn bei dem Flexionsreichtnm des
Mittelhochdeutschen wird das Englische im Verlauf des Unterrichts sogar leichter
sein. Insofern nenne ich das Mittelhochdeutsche eine fremde Sprache. Ich
leugne durchaus nicht den ästhetischen, kulturgeschichtlichen und selbst den
grammatischen Wert mittelhochdeutscher Lektüre. Meine bescheidnen Zweifel
richten sich uur dagegen, daß das Mittelhochdeutsche besonders geeignet sei,
den mündlichen und schriftlichen Gebrauch des neuhochdeutschen bei den
Schülern zu fördern, da das Mittel hier abermals eben uur die Übersetzung
wäre. Der Sprachverein wünscht, daß man ans ältere Sprachformen zurück¬
greife, damit das Deutsche nicht als tote Büchersprnche, sondern als geschichtlich
gewordene, stetig sich fortentwickelnde, lebendige Sprache erscheine. Diesen
Zweck kann das alleinige Studium des Mittelhochdeutschen auch nicht erfüllen,
da zwischen den Sprachformen des dreizehnten Jahrhunderts und denen des
neunzehnten eine solche Kluft besteht, daß man die letztern aus den mittel-
hochdeutschen gar nicht verständlich machen kann, ohne die Entwicklung der
Sprachformen in deu sechs dazwischen liegenden Jahrhunderten zu kennen.
Daß aber diese auch und zwar an reichlichen Sprachproben gelehrt werden
sollen, wird auch der Sprachverein nicht verlangen.

Nur beiläufig will ich erwähnen, daß das Übersetzen auch die Entstehung
"ut Fortpflanzung häßlicher Sprechfehler begünstigt. Ein Beispiel: "Um das
Jahr "73 wurde England -- ob -- von deu Dänen (räuspern) überlaufen
"ovorrun", das englische Heer wurde --- wurde -- zer -- zersprengt, nuund
König Alfred mußte sich verkleiden -- mußte sich als Bauer verkleiden."
Das ist eine ans dem Leben gegriffene Übersetznngsprobe, die ein Sträußchen


lateinisch, halb französisch n. s. w. sind, eine Hnuptquelle einer ganzen Reihe der widerwär¬
tigsten Sprncherscheiuuugeu unsers heutigen Deutsch. Es lehnte sich der Mühe, das einmal
im einzelnen nachzuweisen. Alle Übersetzuugsübungen können der Muttersprache nur dann
zu Gute kommen, wenn auf der untersten Stufe schon unerbittlich nur wirkliches Deutsch, kein
gemachtes Hntbdeutsch und Halblnteiu zu Grunde gelegt wird. Wenn der Junge aber
lernen muß: is, s->., la heißt derselbe, dieselbe, dasselbe (statt er, sie, es), und in
den deutschen ÜbungSbeispieleu statt jedes vernünftigen ihm und ihn das alberne dem¬
selben und denselben dasteht, dann ist eS kein Wunder, daß unsre Sprache von diesem
D. Red. greulichen derselbe ganz verseucht ist.
Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

Nicht geung aller. daß mau zwei, ja an deutschen Gymnasien sogar drei
fremde Sprachen für die Ausbildung in der Muttersprache heranzieht, empfiehlt
der deutsche Sprachverein noch eine dritte oder vierte - das Mittelhochdeutsche,
^es weiß, daß ich mich jetzt einer argen Ketzerei schuldig mache. Die Auf¬
klärung soll aber gleich folgen. Ein mittelhochdeutscher Text ans dein Nibe¬
lungenlied oder ein Lied Walthers dürfte dem deutschen Schüler kaum geringere
Schwierigkeiten bieten, als ein leichter englischer oder dem im Latein unter¬
richteten el» französischer Text. In allen drei Fällen wird der Schüler das
Wörterbuch häufig zu Rate ziehen müssen, jn bei dem Flexionsreichtnm des
Mittelhochdeutschen wird das Englische im Verlauf des Unterrichts sogar leichter
sein. Insofern nenne ich das Mittelhochdeutsche eine fremde Sprache. Ich
leugne durchaus nicht den ästhetischen, kulturgeschichtlichen und selbst den
grammatischen Wert mittelhochdeutscher Lektüre. Meine bescheidnen Zweifel
richten sich uur dagegen, daß das Mittelhochdeutsche besonders geeignet sei,
den mündlichen und schriftlichen Gebrauch des neuhochdeutschen bei den
Schülern zu fördern, da das Mittel hier abermals eben uur die Übersetzung
wäre. Der Sprachverein wünscht, daß man ans ältere Sprachformen zurück¬
greife, damit das Deutsche nicht als tote Büchersprnche, sondern als geschichtlich
gewordene, stetig sich fortentwickelnde, lebendige Sprache erscheine. Diesen
Zweck kann das alleinige Studium des Mittelhochdeutschen auch nicht erfüllen,
da zwischen den Sprachformen des dreizehnten Jahrhunderts und denen des
neunzehnten eine solche Kluft besteht, daß man die letztern aus den mittel-
hochdeutschen gar nicht verständlich machen kann, ohne die Entwicklung der
Sprachformen in deu sechs dazwischen liegenden Jahrhunderten zu kennen.
Daß aber diese auch und zwar an reichlichen Sprachproben gelehrt werden
sollen, wird auch der Sprachverein nicht verlangen.

Nur beiläufig will ich erwähnen, daß das Übersetzen auch die Entstehung
»ut Fortpflanzung häßlicher Sprechfehler begünstigt. Ein Beispiel: „Um das
Jahr «73 wurde England — ob — von deu Dänen (räuspern) überlaufen
«ovorrun», das englische Heer wurde —- wurde — zer — zersprengt, nuund
König Alfred mußte sich verkleiden — mußte sich als Bauer verkleiden."
Das ist eine ans dem Leben gegriffene Übersetznngsprobe, die ein Sträußchen


lateinisch, halb französisch n. s. w. sind, eine Hnuptquelle einer ganzen Reihe der widerwär¬
tigsten Sprncherscheiuuugeu unsers heutigen Deutsch. Es lehnte sich der Mühe, das einmal
im einzelnen nachzuweisen. Alle Übersetzuugsübungen können der Muttersprache nur dann
zu Gute kommen, wenn auf der untersten Stufe schon unerbittlich nur wirkliches Deutsch, kein
gemachtes Hntbdeutsch und Halblnteiu zu Grunde gelegt wird. Wenn der Junge aber
lernen muß: is, s->., la heißt derselbe, dieselbe, dasselbe (statt er, sie, es), und in
den deutschen ÜbungSbeispieleu statt jedes vernünftigen ihm und ihn das alberne dem¬
selben und denselben dasteht, dann ist eS kein Wunder, daß unsre Sprache von diesem
D. Red. greulichen derselbe ganz verseucht ist.
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[0499] Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule Nicht geung aller. daß mau zwei, ja an deutschen Gymnasien sogar drei fremde Sprachen für die Ausbildung in der Muttersprache heranzieht, empfiehlt der deutsche Sprachverein noch eine dritte oder vierte - das Mittelhochdeutsche, ^es weiß, daß ich mich jetzt einer argen Ketzerei schuldig mache. Die Auf¬ klärung soll aber gleich folgen. Ein mittelhochdeutscher Text ans dein Nibe¬ lungenlied oder ein Lied Walthers dürfte dem deutschen Schüler kaum geringere Schwierigkeiten bieten, als ein leichter englischer oder dem im Latein unter¬ richteten el» französischer Text. In allen drei Fällen wird der Schüler das Wörterbuch häufig zu Rate ziehen müssen, jn bei dem Flexionsreichtnm des Mittelhochdeutschen wird das Englische im Verlauf des Unterrichts sogar leichter sein. Insofern nenne ich das Mittelhochdeutsche eine fremde Sprache. Ich leugne durchaus nicht den ästhetischen, kulturgeschichtlichen und selbst den grammatischen Wert mittelhochdeutscher Lektüre. Meine bescheidnen Zweifel richten sich uur dagegen, daß das Mittelhochdeutsche besonders geeignet sei, den mündlichen und schriftlichen Gebrauch des neuhochdeutschen bei den Schülern zu fördern, da das Mittel hier abermals eben uur die Übersetzung wäre. Der Sprachverein wünscht, daß man ans ältere Sprachformen zurück¬ greife, damit das Deutsche nicht als tote Büchersprnche, sondern als geschichtlich gewordene, stetig sich fortentwickelnde, lebendige Sprache erscheine. Diesen Zweck kann das alleinige Studium des Mittelhochdeutschen auch nicht erfüllen, da zwischen den Sprachformen des dreizehnten Jahrhunderts und denen des neunzehnten eine solche Kluft besteht, daß man die letztern aus den mittel- hochdeutschen gar nicht verständlich machen kann, ohne die Entwicklung der Sprachformen in deu sechs dazwischen liegenden Jahrhunderten zu kennen. Daß aber diese auch und zwar an reichlichen Sprachproben gelehrt werden sollen, wird auch der Sprachverein nicht verlangen. Nur beiläufig will ich erwähnen, daß das Übersetzen auch die Entstehung »ut Fortpflanzung häßlicher Sprechfehler begünstigt. Ein Beispiel: „Um das Jahr «73 wurde England — ob — von deu Dänen (räuspern) überlaufen «ovorrun», das englische Heer wurde —- wurde — zer — zersprengt, nuund König Alfred mußte sich verkleiden — mußte sich als Bauer verkleiden." Das ist eine ans dem Leben gegriffene Übersetznngsprobe, die ein Sträußchen lateinisch, halb französisch n. s. w. sind, eine Hnuptquelle einer ganzen Reihe der widerwär¬ tigsten Sprncherscheiuuugeu unsers heutigen Deutsch. Es lehnte sich der Mühe, das einmal im einzelnen nachzuweisen. Alle Übersetzuugsübungen können der Muttersprache nur dann zu Gute kommen, wenn auf der untersten Stufe schon unerbittlich nur wirkliches Deutsch, kein gemachtes Hntbdeutsch und Halblnteiu zu Grunde gelegt wird. Wenn der Junge aber lernen muß: is, s->., la heißt derselbe, dieselbe, dasselbe (statt er, sie, es), und in den deutschen ÜbungSbeispieleu statt jedes vernünftigen ihm und ihn das alberne dem¬ selben und denselben dasteht, dann ist eS kein Wunder, daß unsre Sprache von diesem D. Red. greulichen derselbe ganz verseucht ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/499>, abgerufen am 23.07.2024.