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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

duch für höhere Lehranstalten" hätte wenig Aussicht auf Genehmigung der
Behörde, wenn es nicht ans den "besten" Quellen schöpfte. Das äußerste, was
mau aber dein Jüngling zumuten darf, ist, daß er den Sinn einer Stelle in
seiner gebauten- und gemütstiefen Anthologie obenhin erfaßt -- dem großen
Denker zu folgen in der fremden Sprache und diesen Gedanken Ausdruck zu
geben in der eignen, übersteigt seine Kräfte vollständig. Da entspricht kein
Wort dem Worte, kein Satz dem Satze, kein Bild deckt sich mit dem Bilde,
kein Witz mit dem Witze, ja kaum ein einziger Gedanken mit dem Gedanken
in der Muttersprache, sobald er dem angeborenen sprachlichen Ausdruck entrissen
wird (Tycho Mommsen). Jedes Wort ist. wenn nicht im Begriffsinhalt, so
doch in seiner lebendigen phraseologischen Erscheinung in jeder Sprache ein
besondres Wesen, und spricht mau dafür das entsprechendste Wort einer andern
Sprache ans. so erweckt es dieselben, aber daneben noch einige neue Gedanken¬
bildungen. Jede Übersetzung ist also eine "VerWässerung." "die .Kehrseite eines
Teppichs" (Lagarde), ja das Übersetzen ist in sich eine Unmöglichkeit und viel¬
fach unlösbar (Tycho Mommsen). Ein Suetonübersetzer des sechzehnten Jahr¬
hunderts sagt: ..Ich muß bekennen, daß mir wohl hierin mag widerfahren, als
der Poet sagt, daß ich hätt' wollen ein Hafen fvriuiren, aber im Lauf des Rath
ein Krug daraus worden, besser im Kopf gehabt, dann ich es ius Teutsch möcht'
bringen." Man kann sich mich bei Wilhelm von Humboldt erkundigen, der
den Aschylos übersetzt hat. Deshalb fehlt selbst der trefflichsten Übersetzung
der Zauber des Originals, den mau erfährt, wenn mau einen Roman von
Dickens liest. In der Übersetzung sind es nicht mehr dieselben Menschen, der¬
selbe Humor, dieselbe,, Gedanken. und je besser die Übersetzung ist. desto mehr
verleugnen die Charaktere ihre ursprüngliche Nationalität. Nein, die Kunst
der Übersetzung gehört nicht in die Schule; mau kann Französisch und Englisch
lernen, ohne daß man es unternimmt. den Gedankenausdruck fremder Denker
>" der Muttersprache nachzuahmen. Während in der Mathematik der Haupt¬
reiz und das eigentliche Wirksame des Unterrichts in der sich immer wieder¬
holenden Befriedigung einer vollkommen gelösten geistigen Aufgabe liegt, kaun
die Aufgabe des Übersetzens nie ganz gelöst werden, es bleibt immer ein un-
gelöster Rest übrig. Muß nicht durch dieses stets unbefriedigende Bemühe"
in dem Schüler das Vorurteil großgezogen werden, daß das Ungenügende
in der Muttersprache selbst liege? Muß nicht dadurch gerade das Gegenteil
von dem erreicht werde", was der deutsche Sprachverein in Punkt "i fordert,
nämlich die Überzeugung, daß die Muttersprache eines der köstlichstem Güter
unsers Volkes sei? Dem Schüler ist jeder Gegenstand lieb, den er bezwingen
kann, und die Ideen machen den tiefsten "ud bleibendsten Eindruck auf deu
jugendlichen Geist, sagt Locke, die entweder von Vergnügen (xlötiKurv) oder
Schmerz (pain) begleitet werden. Wenn man die Klagen aller der vernimmt,
die einst selbst als Knaben von den Freuden deo Übersetzeus gekostet haben,


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Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

duch für höhere Lehranstalten" hätte wenig Aussicht auf Genehmigung der
Behörde, wenn es nicht ans den „besten" Quellen schöpfte. Das äußerste, was
mau aber dein Jüngling zumuten darf, ist, daß er den Sinn einer Stelle in
seiner gebauten- und gemütstiefen Anthologie obenhin erfaßt — dem großen
Denker zu folgen in der fremden Sprache und diesen Gedanken Ausdruck zu
geben in der eignen, übersteigt seine Kräfte vollständig. Da entspricht kein
Wort dem Worte, kein Satz dem Satze, kein Bild deckt sich mit dem Bilde,
kein Witz mit dem Witze, ja kaum ein einziger Gedanken mit dem Gedanken
in der Muttersprache, sobald er dem angeborenen sprachlichen Ausdruck entrissen
wird (Tycho Mommsen). Jedes Wort ist. wenn nicht im Begriffsinhalt, so
doch in seiner lebendigen phraseologischen Erscheinung in jeder Sprache ein
besondres Wesen, und spricht mau dafür das entsprechendste Wort einer andern
Sprache ans. so erweckt es dieselben, aber daneben noch einige neue Gedanken¬
bildungen. Jede Übersetzung ist also eine „VerWässerung." „die .Kehrseite eines
Teppichs" (Lagarde), ja das Übersetzen ist in sich eine Unmöglichkeit und viel¬
fach unlösbar (Tycho Mommsen). Ein Suetonübersetzer des sechzehnten Jahr¬
hunderts sagt: ..Ich muß bekennen, daß mir wohl hierin mag widerfahren, als
der Poet sagt, daß ich hätt' wollen ein Hafen fvriuiren, aber im Lauf des Rath
ein Krug daraus worden, besser im Kopf gehabt, dann ich es ius Teutsch möcht'
bringen." Man kann sich mich bei Wilhelm von Humboldt erkundigen, der
den Aschylos übersetzt hat. Deshalb fehlt selbst der trefflichsten Übersetzung
der Zauber des Originals, den mau erfährt, wenn mau einen Roman von
Dickens liest. In der Übersetzung sind es nicht mehr dieselben Menschen, der¬
selbe Humor, dieselbe,, Gedanken. und je besser die Übersetzung ist. desto mehr
verleugnen die Charaktere ihre ursprüngliche Nationalität. Nein, die Kunst
der Übersetzung gehört nicht in die Schule; mau kann Französisch und Englisch
lernen, ohne daß man es unternimmt. den Gedankenausdruck fremder Denker
>» der Muttersprache nachzuahmen. Während in der Mathematik der Haupt¬
reiz und das eigentliche Wirksame des Unterrichts in der sich immer wieder¬
holenden Befriedigung einer vollkommen gelösten geistigen Aufgabe liegt, kaun
die Aufgabe des Übersetzens nie ganz gelöst werden, es bleibt immer ein un-
gelöster Rest übrig. Muß nicht durch dieses stets unbefriedigende Bemühe»
in dem Schüler das Vorurteil großgezogen werden, daß das Ungenügende
in der Muttersprache selbst liege? Muß nicht dadurch gerade das Gegenteil
von dem erreicht werde», was der deutsche Sprachverein in Punkt «i fordert,
nämlich die Überzeugung, daß die Muttersprache eines der köstlichstem Güter
unsers Volkes sei? Dem Schüler ist jeder Gegenstand lieb, den er bezwingen
kann, und die Ideen machen den tiefsten »ud bleibendsten Eindruck auf deu
jugendlichen Geist, sagt Locke, die entweder von Vergnügen (xlötiKurv) oder
Schmerz (pain) begleitet werden. Wenn man die Klagen aller der vernimmt,
die einst selbst als Knaben von den Freuden deo Übersetzeus gekostet haben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/497>, abgerufen am 23.07.2024.