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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

Luthers Zeiten die Schätze fremder Litteraturen in unsrer Muttersprache An¬
gänglich gemacht haben. Im Reformationszeitalter hatte die deutsche Sprache,
als sie zur Selbständigkeit erwachte, zuerst mit dem übermächtigen Latein,
später mit dem immer mehr an Macht gewinnenden Französisch zu ringen.
Sie war noch nicht reif genug, für einen großartigen geistigen Gehalt gleich¬
wertige Formen zu finden und dem Eindringen fremder Wörter, fremder Wen¬
dungen Widerstand zu leisten. Sie war dazu zu schwach, zu jung, ihr
Sprachgefühl und ihr sprachliches Gewissen gegenüber den beiden Weltsprachen
zu wenig entwickelt; sie war zu schüchtern, nur ein sprachliches Selbstbewußt¬
sein aufkommen zu lassen. In einer ganz ähnlichen ungünstigen Lage, wie
die deutsche Sprache vor mehr als dreihundert Jahren, befindet sich noch jetzt
die Sprache jedes einzelnen deutschen Knaben. Er besitzt nach der Beschränkung
seines Vorstellungskreises und seines Gemütslebens einen nur geringen Wort¬
schatz, ein unentwickeltes Sprachgefühl, sobald Wörter und Wendungen in
Betracht kommen, die über die Kindersprache hinausgehen, und so gut wie gar
kein Sprachgewissen. Diese sprachliche Verfassung wird nnn gegenüber jeder
fremden Sprache, die ans ihn im jugendlichen Alter eindringt, insofern noch
ungünstiger, als ihm bei gering entwickelter Denkkraft anch das Verständnis
für einen großartigen Gedankengehalt und bei seiner geringen ethischen Er¬
fahrung anch das Mitgefühl mit tiefgehenden seelischen Vorgängen fehlt. Die
Schuljugend spricht und versteht ihre eigue Muttersprache noch in einem viel
zu geringen Umfange, als daß sie die ihr beim Lesen entgegentretenden Ge¬
danken in edler Form ganz verstehen, schätzen und sprachlich nachahmen konnte.
Wenn sie ihm jedoch in einer fremden Sprache entgegentreten, dann spielt
diese thatsächlich die Rolle, die ihr Talleyrand zuwies: sie teilt nicht Gedanken
mit, sondern sie verbirgt sie. Soll sich also der große geschichtliche Vorgang,
der für die Reinheit der deutschen Sprache so übel abgelaufen ist, bei jedem
einzelnen deutschen Knaben noch dazu methodisch wiederholen, indem man ihm
die Muttersprache besonders durch das Mittel einer fre'indem lehren will?
Sollte man nicht vielmehr nach Luthers Rat an die kindliche Sprache mit
ihrem geringen und ungefügen Wortschatz anknüpfen, ihnen "aufs Maul sehen,
wie sie reden," ihre Sprache in wohlüberlegten Fortschritt fortbilden, ihr
schwankendes Sprachgefühl stützen, bis zum Spmchgewissen stählen in der
Muttersprache, "auf daß sie es merken, daß man deutsch mit ihnen rede?"

Wenn in unsern Schulen Französisch oder Englisch gelehrt wird, so ist es,
wie ich glaube, die erste, selbstverständliche und jedem einleuchtende Forderung,
daß die fremde Sprache bis zu einem gewissen Grade erlernt werde. Dieses
Ziel kann aber, wie gesagt, nur daun erreicht werden, wenn die fremde Sprache
ans ihr selbst gelehrt und gelernt wird. Die Muttersprache, die im Anfangs¬
unterricht als Verständigungsmittel dient, muß stets zurücktreten, sobald ein
genügend großer fremdsprachlicher Wortschatz vorhanden ist, der die Verstau-


Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule

Luthers Zeiten die Schätze fremder Litteraturen in unsrer Muttersprache An¬
gänglich gemacht haben. Im Reformationszeitalter hatte die deutsche Sprache,
als sie zur Selbständigkeit erwachte, zuerst mit dem übermächtigen Latein,
später mit dem immer mehr an Macht gewinnenden Französisch zu ringen.
Sie war noch nicht reif genug, für einen großartigen geistigen Gehalt gleich¬
wertige Formen zu finden und dem Eindringen fremder Wörter, fremder Wen¬
dungen Widerstand zu leisten. Sie war dazu zu schwach, zu jung, ihr
Sprachgefühl und ihr sprachliches Gewissen gegenüber den beiden Weltsprachen
zu wenig entwickelt; sie war zu schüchtern, nur ein sprachliches Selbstbewußt¬
sein aufkommen zu lassen. In einer ganz ähnlichen ungünstigen Lage, wie
die deutsche Sprache vor mehr als dreihundert Jahren, befindet sich noch jetzt
die Sprache jedes einzelnen deutschen Knaben. Er besitzt nach der Beschränkung
seines Vorstellungskreises und seines Gemütslebens einen nur geringen Wort¬
schatz, ein unentwickeltes Sprachgefühl, sobald Wörter und Wendungen in
Betracht kommen, die über die Kindersprache hinausgehen, und so gut wie gar
kein Sprachgewissen. Diese sprachliche Verfassung wird nnn gegenüber jeder
fremden Sprache, die ans ihn im jugendlichen Alter eindringt, insofern noch
ungünstiger, als ihm bei gering entwickelter Denkkraft anch das Verständnis
für einen großartigen Gedankengehalt und bei seiner geringen ethischen Er¬
fahrung anch das Mitgefühl mit tiefgehenden seelischen Vorgängen fehlt. Die
Schuljugend spricht und versteht ihre eigue Muttersprache noch in einem viel
zu geringen Umfange, als daß sie die ihr beim Lesen entgegentretenden Ge¬
danken in edler Form ganz verstehen, schätzen und sprachlich nachahmen konnte.
Wenn sie ihm jedoch in einer fremden Sprache entgegentreten, dann spielt
diese thatsächlich die Rolle, die ihr Talleyrand zuwies: sie teilt nicht Gedanken
mit, sondern sie verbirgt sie. Soll sich also der große geschichtliche Vorgang,
der für die Reinheit der deutschen Sprache so übel abgelaufen ist, bei jedem
einzelnen deutschen Knaben noch dazu methodisch wiederholen, indem man ihm
die Muttersprache besonders durch das Mittel einer fre'indem lehren will?
Sollte man nicht vielmehr nach Luthers Rat an die kindliche Sprache mit
ihrem geringen und ungefügen Wortschatz anknüpfen, ihnen „aufs Maul sehen,
wie sie reden," ihre Sprache in wohlüberlegten Fortschritt fortbilden, ihr
schwankendes Sprachgefühl stützen, bis zum Spmchgewissen stählen in der
Muttersprache, „auf daß sie es merken, daß man deutsch mit ihnen rede?"

Wenn in unsern Schulen Französisch oder Englisch gelehrt wird, so ist es,
wie ich glaube, die erste, selbstverständliche und jedem einleuchtende Forderung,
daß die fremde Sprache bis zu einem gewissen Grade erlernt werde. Dieses
Ziel kann aber, wie gesagt, nur daun erreicht werden, wenn die fremde Sprache
ans ihr selbst gelehrt und gelernt wird. Die Muttersprache, die im Anfangs¬
unterricht als Verständigungsmittel dient, muß stets zurücktreten, sobald ein
genügend großer fremdsprachlicher Wortschatz vorhanden ist, der die Verstau-


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[0495] Der deutsche Sprachverein und die deutsche Schule Luthers Zeiten die Schätze fremder Litteraturen in unsrer Muttersprache An¬ gänglich gemacht haben. Im Reformationszeitalter hatte die deutsche Sprache, als sie zur Selbständigkeit erwachte, zuerst mit dem übermächtigen Latein, später mit dem immer mehr an Macht gewinnenden Französisch zu ringen. Sie war noch nicht reif genug, für einen großartigen geistigen Gehalt gleich¬ wertige Formen zu finden und dem Eindringen fremder Wörter, fremder Wen¬ dungen Widerstand zu leisten. Sie war dazu zu schwach, zu jung, ihr Sprachgefühl und ihr sprachliches Gewissen gegenüber den beiden Weltsprachen zu wenig entwickelt; sie war zu schüchtern, nur ein sprachliches Selbstbewußt¬ sein aufkommen zu lassen. In einer ganz ähnlichen ungünstigen Lage, wie die deutsche Sprache vor mehr als dreihundert Jahren, befindet sich noch jetzt die Sprache jedes einzelnen deutschen Knaben. Er besitzt nach der Beschränkung seines Vorstellungskreises und seines Gemütslebens einen nur geringen Wort¬ schatz, ein unentwickeltes Sprachgefühl, sobald Wörter und Wendungen in Betracht kommen, die über die Kindersprache hinausgehen, und so gut wie gar kein Sprachgewissen. Diese sprachliche Verfassung wird nnn gegenüber jeder fremden Sprache, die ans ihn im jugendlichen Alter eindringt, insofern noch ungünstiger, als ihm bei gering entwickelter Denkkraft anch das Verständnis für einen großartigen Gedankengehalt und bei seiner geringen ethischen Er¬ fahrung anch das Mitgefühl mit tiefgehenden seelischen Vorgängen fehlt. Die Schuljugend spricht und versteht ihre eigue Muttersprache noch in einem viel zu geringen Umfange, als daß sie die ihr beim Lesen entgegentretenden Ge¬ danken in edler Form ganz verstehen, schätzen und sprachlich nachahmen konnte. Wenn sie ihm jedoch in einer fremden Sprache entgegentreten, dann spielt diese thatsächlich die Rolle, die ihr Talleyrand zuwies: sie teilt nicht Gedanken mit, sondern sie verbirgt sie. Soll sich also der große geschichtliche Vorgang, der für die Reinheit der deutschen Sprache so übel abgelaufen ist, bei jedem einzelnen deutschen Knaben noch dazu methodisch wiederholen, indem man ihm die Muttersprache besonders durch das Mittel einer fre'indem lehren will? Sollte man nicht vielmehr nach Luthers Rat an die kindliche Sprache mit ihrem geringen und ungefügen Wortschatz anknüpfen, ihnen „aufs Maul sehen, wie sie reden," ihre Sprache in wohlüberlegten Fortschritt fortbilden, ihr schwankendes Sprachgefühl stützen, bis zum Spmchgewissen stählen in der Muttersprache, „auf daß sie es merken, daß man deutsch mit ihnen rede?" Wenn in unsern Schulen Französisch oder Englisch gelehrt wird, so ist es, wie ich glaube, die erste, selbstverständliche und jedem einleuchtende Forderung, daß die fremde Sprache bis zu einem gewissen Grade erlernt werde. Dieses Ziel kann aber, wie gesagt, nur daun erreicht werden, wenn die fremde Sprache ans ihr selbst gelehrt und gelernt wird. Die Muttersprache, die im Anfangs¬ unterricht als Verständigungsmittel dient, muß stets zurücktreten, sobald ein genügend großer fremdsprachlicher Wortschatz vorhanden ist, der die Verstau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/495>, abgerufen am 23.07.2024.