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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Ranke und Gentz

türkischen Angelegenheiten zu mischen, einen Vorwand zu finden, an die Donan-
fiirstentümer zu besetzen, ja Wohl gar die Donau zu überschreiten. Es leuchtet
ein, wie sehr dadurch die österreichischen Interessen berührt werden mußten.
Aber die gehoffte Wendung trat nicht ein, England blieb zunächst noch in den
Bahnen der Canniugschen Politik. Am ^. September ließen die drei ver¬
bündeten Mächte dem Reis Effendi eröffnen, daß sie die Waffenruhe für die
Griechen erzwingen und dem türkischen Geschwader nicht gestatten würden, an
den Küsten von Morea zu landen. Zugleich erschien ein russisches Korps
unter der Anführung von Wittgenstein am Prnth. Als dann die großherr¬
liche Flotte dennoch in den griechischen Gewässern kreuzte, ward sie am
20. Oktober in der Bai von Navarin durch das Geschwader der Verbündeten
vernichtet. Dieses Ereignis rief in Wien in der Stnatskanzlei die größte Ent¬
rüstung hervor. Der Sultan berief am 2. Dezember den großen Rat und
erklärte, die verbündeten Mächte hätten durch unerhörte Veleidiguugeu und
Augriffe alle Verträge zerrissen, den Muhammedanern bliebe nichts übrig, als
ihre Religion und Freiheit mit den Waffen zu verteidigen. Die französischen,
englischen und russischen Schisse in türkischen Häfen wurden in Beschlag ge¬
nommen, die Ajilns aufgeboten, viele Fremde Vertriebe". Die Traktatmächte
hielten im Dezember 1827 in London eine Konferenz ub, um die weitern Ma߬
regeln gegen die Pforte zu beraten. Hier traten die Pläne Rußlands schon
deutlich hervor, denn es beantragte die Besetzung der Donaufürstentümer durch
seiue Truppen. Dagegen wendete nnn England ein: ein Angriff ans das
türkische Reich werde überall Bedenken erregen und erscheine zur Ausführung
des Julivertrages nicht notwendig. Doch Rußland entgegnete -- Depesche
Resselrodes an Lieven, den russischen Botschafter in London vom Februar
1828 --, sein Recht zur Abwehr sei unbestreitbar, der Kaiser erstrebe keinen
besondern Vorteil für sich, werde aber die Waffen nicht niederlegen, ohne volle
Genugthuung für sich und die Ausführung des Londoner Vertrages erlangt
zu haben. Er gebe den Alliirten anheim, sich an den Maßregeln, die Nu߬
land auf der Konferenz beantragt habe, zu beteiligen, bleibe er aber ohne
Unterstützung, so werde er nur seine eignen Interessen zu Rate ziehen. Am
2V. April 1828 folgte das russische Kriegsmanifest, am 7. Mai überschritt
Wittgenstein mit 105000 Mann und 458 Geschützen den Pruth, um die Mitte
des Monats war er Herr der Douaufürsteutümer, General Rndgewitsch über¬
schritt bei Ismail die Donau und betrat hiermit das Gebiet der eigentlichen
Türkei. Ende Juli standen die Russen vor den drei Hanptstützpnutten der
türkischen Verteidigung, Silistria, Schnmla und Varna. Ungefähr zu derselben
Zeit nahmen sie nnter Paskiewitsch in Asien Kars und andre feste Plätze in
Türkisch-Armenien.

Dies waren die Ereignisse, die während der Anwesenheit Rankes in Wien
die Wiener Staatsmänner in Atem hielten. Als er ankam, hatten sie noch


Ranke und Gentz

türkischen Angelegenheiten zu mischen, einen Vorwand zu finden, an die Donan-
fiirstentümer zu besetzen, ja Wohl gar die Donau zu überschreiten. Es leuchtet
ein, wie sehr dadurch die österreichischen Interessen berührt werden mußten.
Aber die gehoffte Wendung trat nicht ein, England blieb zunächst noch in den
Bahnen der Canniugschen Politik. Am ^. September ließen die drei ver¬
bündeten Mächte dem Reis Effendi eröffnen, daß sie die Waffenruhe für die
Griechen erzwingen und dem türkischen Geschwader nicht gestatten würden, an
den Küsten von Morea zu landen. Zugleich erschien ein russisches Korps
unter der Anführung von Wittgenstein am Prnth. Als dann die großherr¬
liche Flotte dennoch in den griechischen Gewässern kreuzte, ward sie am
20. Oktober in der Bai von Navarin durch das Geschwader der Verbündeten
vernichtet. Dieses Ereignis rief in Wien in der Stnatskanzlei die größte Ent¬
rüstung hervor. Der Sultan berief am 2. Dezember den großen Rat und
erklärte, die verbündeten Mächte hätten durch unerhörte Veleidiguugeu und
Augriffe alle Verträge zerrissen, den Muhammedanern bliebe nichts übrig, als
ihre Religion und Freiheit mit den Waffen zu verteidigen. Die französischen,
englischen und russischen Schisse in türkischen Häfen wurden in Beschlag ge¬
nommen, die Ajilns aufgeboten, viele Fremde Vertriebe«. Die Traktatmächte
hielten im Dezember 1827 in London eine Konferenz ub, um die weitern Ma߬
regeln gegen die Pforte zu beraten. Hier traten die Pläne Rußlands schon
deutlich hervor, denn es beantragte die Besetzung der Donaufürstentümer durch
seiue Truppen. Dagegen wendete nnn England ein: ein Angriff ans das
türkische Reich werde überall Bedenken erregen und erscheine zur Ausführung
des Julivertrages nicht notwendig. Doch Rußland entgegnete — Depesche
Resselrodes an Lieven, den russischen Botschafter in London vom Februar
1828 —, sein Recht zur Abwehr sei unbestreitbar, der Kaiser erstrebe keinen
besondern Vorteil für sich, werde aber die Waffen nicht niederlegen, ohne volle
Genugthuung für sich und die Ausführung des Londoner Vertrages erlangt
zu haben. Er gebe den Alliirten anheim, sich an den Maßregeln, die Nu߬
land auf der Konferenz beantragt habe, zu beteiligen, bleibe er aber ohne
Unterstützung, so werde er nur seine eignen Interessen zu Rate ziehen. Am
2V. April 1828 folgte das russische Kriegsmanifest, am 7. Mai überschritt
Wittgenstein mit 105000 Mann und 458 Geschützen den Pruth, um die Mitte
des Monats war er Herr der Douaufürsteutümer, General Rndgewitsch über¬
schritt bei Ismail die Donau und betrat hiermit das Gebiet der eigentlichen
Türkei. Ende Juli standen die Russen vor den drei Hanptstützpnutten der
türkischen Verteidigung, Silistria, Schnmla und Varna. Ungefähr zu derselben
Zeit nahmen sie nnter Paskiewitsch in Asien Kars und andre feste Plätze in
Türkisch-Armenien.

Dies waren die Ereignisse, die während der Anwesenheit Rankes in Wien
die Wiener Staatsmänner in Atem hielten. Als er ankam, hatten sie noch


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[0421] Ranke und Gentz türkischen Angelegenheiten zu mischen, einen Vorwand zu finden, an die Donan- fiirstentümer zu besetzen, ja Wohl gar die Donau zu überschreiten. Es leuchtet ein, wie sehr dadurch die österreichischen Interessen berührt werden mußten. Aber die gehoffte Wendung trat nicht ein, England blieb zunächst noch in den Bahnen der Canniugschen Politik. Am ^. September ließen die drei ver¬ bündeten Mächte dem Reis Effendi eröffnen, daß sie die Waffenruhe für die Griechen erzwingen und dem türkischen Geschwader nicht gestatten würden, an den Küsten von Morea zu landen. Zugleich erschien ein russisches Korps unter der Anführung von Wittgenstein am Prnth. Als dann die großherr¬ liche Flotte dennoch in den griechischen Gewässern kreuzte, ward sie am 20. Oktober in der Bai von Navarin durch das Geschwader der Verbündeten vernichtet. Dieses Ereignis rief in Wien in der Stnatskanzlei die größte Ent¬ rüstung hervor. Der Sultan berief am 2. Dezember den großen Rat und erklärte, die verbündeten Mächte hätten durch unerhörte Veleidiguugeu und Augriffe alle Verträge zerrissen, den Muhammedanern bliebe nichts übrig, als ihre Religion und Freiheit mit den Waffen zu verteidigen. Die französischen, englischen und russischen Schisse in türkischen Häfen wurden in Beschlag ge¬ nommen, die Ajilns aufgeboten, viele Fremde Vertriebe«. Die Traktatmächte hielten im Dezember 1827 in London eine Konferenz ub, um die weitern Ma߬ regeln gegen die Pforte zu beraten. Hier traten die Pläne Rußlands schon deutlich hervor, denn es beantragte die Besetzung der Donaufürstentümer durch seiue Truppen. Dagegen wendete nnn England ein: ein Angriff ans das türkische Reich werde überall Bedenken erregen und erscheine zur Ausführung des Julivertrages nicht notwendig. Doch Rußland entgegnete — Depesche Resselrodes an Lieven, den russischen Botschafter in London vom Februar 1828 —, sein Recht zur Abwehr sei unbestreitbar, der Kaiser erstrebe keinen besondern Vorteil für sich, werde aber die Waffen nicht niederlegen, ohne volle Genugthuung für sich und die Ausführung des Londoner Vertrages erlangt zu haben. Er gebe den Alliirten anheim, sich an den Maßregeln, die Nu߬ land auf der Konferenz beantragt habe, zu beteiligen, bleibe er aber ohne Unterstützung, so werde er nur seine eignen Interessen zu Rate ziehen. Am 2V. April 1828 folgte das russische Kriegsmanifest, am 7. Mai überschritt Wittgenstein mit 105000 Mann und 458 Geschützen den Pruth, um die Mitte des Monats war er Herr der Douaufürsteutümer, General Rndgewitsch über¬ schritt bei Ismail die Donau und betrat hiermit das Gebiet der eigentlichen Türkei. Ende Juli standen die Russen vor den drei Hanptstützpnutten der türkischen Verteidigung, Silistria, Schnmla und Varna. Ungefähr zu derselben Zeit nahmen sie nnter Paskiewitsch in Asien Kars und andre feste Plätze in Türkisch-Armenien. Dies waren die Ereignisse, die während der Anwesenheit Rankes in Wien die Wiener Staatsmänner in Atem hielten. Als er ankam, hatten sie noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/421>, abgerufen am 23.07.2024.