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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Btto Ludwig in Leipzig

worden war, und hielt die seelischen und physischen Schmerzen, die ihm das!
neue, ungewohnte Leben bereitete, für den Einstand, den jeder Neuling zu
zahlen habe. Otto Ludwig war im Herbst 1839 nach jedermanns Urteil und
die Dinge mit aller Augen, nur nicht mit den seinen gesehen, zur guten
Stunde uach Leipzig gekommen. Seit einem halben Jahrhundert hatte die
Pleißenstadt sich keines so weithin sichtbaren Aufschwungs in Geist und Kunst
erfreut, als zu Ausgang der dreißiger und Eingang der vierziger Jahre.

Zwar die Tage, in denen Leipzig ohne Frage der geistige Mittel¬
punkt Deutschlands gewesen war, lagen weit und nahezu ein Jahr¬
hundert zurück. Das denkwürdige Menschenalter zwischen 1725 und 1760,
wo Gottsched und Gellert, der gefürchtete Geschmacksdiktator und der
liebenswürdigste, gefeiertste und gelesenste Schriftsteller der Zeit, an der Leip¬
ziger Universität gelehrt und jeder einen andern Kreis von dichtenden, über¬
setzenden, schöngeistigen Magistern, Kandidaten undStudenten um sich gesammelt^
hatte, wo Johann Sebastian Bach als Kantor der Thomasschule die ge¬
waltige Meisterschaft und schöpferische Fruchtbarkeit entfaltet hatte, deren reiche'
Früchte den Leipzigern mit den unsterblichen Kantaten und Orgelwerken des
Meisters bei sonntägigen Kirchenmusiken und Sonnabcndmotetten zuteil ge¬
worden waren, ohne daß man die ganze, Jahrhunderte überragende Größe des
schöpferischen Vermögens des Komponisten auch nur ahnte, das.Menschen-
nlter, wo in Leipziger Studentenstuben die ersten Gesänge des Klopstvckischen
"Messias" und Lessings Jugendlustspiel "Der junge Gelehrte" entstanden
waren, wo Karoline Reuber mit ihrer vielberühmten Komödiantentruppe
den Hanswurst zu Grabe getragen und das regelmäßige Drama stattlich auf¬
gerichtet hatte, die Zeit, wo Leipzig zu dem "Klein-Paris" geworden war,
das der junge Frankfurter Student Wolfgang Goethe noch vorfand, sie hatte
sich nicht erneuert. Leipzig war einer der Mittelpunkte des deutschen Kultur¬
lebens geblieben, aber nie wieder der Mittelpunkt geworden, wie in den
Tagen, wo man die meißnische Mundart für das beste Deutsch hielt. Die
Saat des achtzehnten Jahrhunderts war eben nicht überall, doch vielfach auf¬
gegangen; im Auf und Ab der Jahrzehnte hatte die Leipziger Universität mehr
oder minder berühmte, für die allgemeine Bildung und den Geschmack wichtige
oder gleichgiltige Lehrer besessen, dem großen Bach waren bescheidenere, aber
meist verdienstvolle und tüchtige Musiker im Kcmtorat der Thomasschule ge¬
folgt; die stehend gewordene Bühne hatte glänzende und dürftige Perioden
gesehen. Aber wie die Stadt selbst unablässig, auch zwischen und unmittelbar
nach den weltgeschichtlichen Stürmen, an Ausdehnung, an Wohlstand, Reich¬
tum und Gemeinsinn ihrer Bewohner gewachsen war, hatten sich anch gewisse
andre Dinge unablässig entwickelt. Leipzig war seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts unbestritten der Hnuptmittelpnnkt des deutschen Buch- und
Musikalienhandels, der Verlag und Vertrieb immer ausgedehnter und beten-


Btto Ludwig in Leipzig

worden war, und hielt die seelischen und physischen Schmerzen, die ihm das!
neue, ungewohnte Leben bereitete, für den Einstand, den jeder Neuling zu
zahlen habe. Otto Ludwig war im Herbst 1839 nach jedermanns Urteil und
die Dinge mit aller Augen, nur nicht mit den seinen gesehen, zur guten
Stunde uach Leipzig gekommen. Seit einem halben Jahrhundert hatte die
Pleißenstadt sich keines so weithin sichtbaren Aufschwungs in Geist und Kunst
erfreut, als zu Ausgang der dreißiger und Eingang der vierziger Jahre.

Zwar die Tage, in denen Leipzig ohne Frage der geistige Mittel¬
punkt Deutschlands gewesen war, lagen weit und nahezu ein Jahr¬
hundert zurück. Das denkwürdige Menschenalter zwischen 1725 und 1760,
wo Gottsched und Gellert, der gefürchtete Geschmacksdiktator und der
liebenswürdigste, gefeiertste und gelesenste Schriftsteller der Zeit, an der Leip¬
ziger Universität gelehrt und jeder einen andern Kreis von dichtenden, über¬
setzenden, schöngeistigen Magistern, Kandidaten undStudenten um sich gesammelt^
hatte, wo Johann Sebastian Bach als Kantor der Thomasschule die ge¬
waltige Meisterschaft und schöpferische Fruchtbarkeit entfaltet hatte, deren reiche'
Früchte den Leipzigern mit den unsterblichen Kantaten und Orgelwerken des
Meisters bei sonntägigen Kirchenmusiken und Sonnabcndmotetten zuteil ge¬
worden waren, ohne daß man die ganze, Jahrhunderte überragende Größe des
schöpferischen Vermögens des Komponisten auch nur ahnte, das.Menschen-
nlter, wo in Leipziger Studentenstuben die ersten Gesänge des Klopstvckischen
„Messias" und Lessings Jugendlustspiel „Der junge Gelehrte" entstanden
waren, wo Karoline Reuber mit ihrer vielberühmten Komödiantentruppe
den Hanswurst zu Grabe getragen und das regelmäßige Drama stattlich auf¬
gerichtet hatte, die Zeit, wo Leipzig zu dem „Klein-Paris" geworden war,
das der junge Frankfurter Student Wolfgang Goethe noch vorfand, sie hatte
sich nicht erneuert. Leipzig war einer der Mittelpunkte des deutschen Kultur¬
lebens geblieben, aber nie wieder der Mittelpunkt geworden, wie in den
Tagen, wo man die meißnische Mundart für das beste Deutsch hielt. Die
Saat des achtzehnten Jahrhunderts war eben nicht überall, doch vielfach auf¬
gegangen; im Auf und Ab der Jahrzehnte hatte die Leipziger Universität mehr
oder minder berühmte, für die allgemeine Bildung und den Geschmack wichtige
oder gleichgiltige Lehrer besessen, dem großen Bach waren bescheidenere, aber
meist verdienstvolle und tüchtige Musiker im Kcmtorat der Thomasschule ge¬
folgt; die stehend gewordene Bühne hatte glänzende und dürftige Perioden
gesehen. Aber wie die Stadt selbst unablässig, auch zwischen und unmittelbar
nach den weltgeschichtlichen Stürmen, an Ausdehnung, an Wohlstand, Reich¬
tum und Gemeinsinn ihrer Bewohner gewachsen war, hatten sich anch gewisse
andre Dinge unablässig entwickelt. Leipzig war seit dem Ende des achtzehnten
Jahrhunderts unbestritten der Hnuptmittelpnnkt des deutschen Buch- und
Musikalienhandels, der Verlag und Vertrieb immer ausgedehnter und beten-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/40>, abgerufen am 23.07.2024.