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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Stenographie in der Schule

der Individualität wird vermutlich auch in stenographischen Dingen immer nach
Ausdruck suchen; aber diesen Sonderbestrebungen wird doch die eigentliche
Lebensader unterbunden sein, da ihnen der Nährboden der Schule fehlt, und
deshalb mögen sie unbehelligt nebenherlanfeu. Bringen sie wirklich etwas
Neues und Besseres, so wird es stets die Aufgabe der obersten Schulbehörde
sein, den Fortschritt für das Schulsystem zu verwerten.

Man darf sich die Sache überhaupt nicht so vorstellen, als ob das einmal
gebilligte System nun ewig starr und unverändert bleiben sollte; nein, wie
sich jede Sprache und Aussprache unaufhaltsam weiterbildet und dadurch von
Zeit zu Zeit Änderungen der von selbst sich nicht entwickelnden Schrift nötig
werden, um beide im Einklang zu erhalten, so muß sich auch die Stenographie
als eine Unterart der Schrift in gewissen Zwischenräumen Abänderungen
unterwerfen. Zudem sollen dein menschlichen Erfindungsgeiste keine Schranken
gezogen werden. Das System, das heute als das beste aus der Prüfung
hervorgeht, braucht, wenn man es dem Fortschritt verschließt, nach fünfzig
oder hundert Jahren nicht mehr an erster Stelle zu stehen. Zwar lassen sich
neue "Quantitäten" schwerlich noch entdecken, aber der Scharfsinn und Fleiß
befähigter Geister kaun doch wohl einmal noch neue "Qualitäten" zu Tage
fördern und in der Ökonomie der schon vorhandenen Mittel noch bessere Wege
einschlagen. Alle solche Vervollkommnungen und neue Gedanken müßten
regelmäßig verfolgt und nach Möglichkeit im Schulsystem zur Geltung gebracht
werden, damit sich dieses stets auf der Höhe der Forderungen halte. Die
Sache ans Rücksicht auf künftige Fortschritte anstehen lassen, bis etwas Voll¬
kommenes erreicht sei, hieße mit dem horazischen Landmann warten, bis sich
der Fluß verlaufen habe, ick illo IMrur et labetur! In den Naturwissen-
schaften folgt eine neue Erkenntnis ans die andre, aber die Schule lehrt trotz¬
dem Naturwissenschaften! und schließt sich deren neuen Ergebnissen Schritt für
Schritt an, ohne damit bis zu den griechischen Knienden des einstigen Ab¬
schlusses der Forschung zu säumen.

Tritt die preußische Schulbehörde der stenographischen Frage herzhaft
näher, so würde zunächst wohl ein Ausschuß von Pädagogen und Germanisten
einzusetzen sein, um sich über die Forderungen zu einigen, auf denen Schule
und Wissenschaft gegenüber der Stenographie unweigerlich bestehen müssen,
und über die Wertfolge, in der diese Forderungen als Maßstab zu dienen
haben. Der Zuziehung von stenographischen Fachmännern wird es auf dieser
Vorbereituugsstufe kaum bedürfen, zumal da in der Litteratur schon manche
einschlägige Werke zur Belehrung vorhanden sind. Gegenüber einseitigen und
gehässigen Parteischrifteu, wie z. B. denen von Kaselitz, Eggers und rudern, ist
allerdings nur ein ^rooul nolasti! am Platze, dagegen verdienen die besonnenen
und ruhigen Arbeiten stenographiebeflisseuer Schulmänner, wie z. B. Henke und
Brauns, sorgfältige Beachtung. Wenn man zur Einigung über diese Grund-


Die Stenographie in der Schule

der Individualität wird vermutlich auch in stenographischen Dingen immer nach
Ausdruck suchen; aber diesen Sonderbestrebungen wird doch die eigentliche
Lebensader unterbunden sein, da ihnen der Nährboden der Schule fehlt, und
deshalb mögen sie unbehelligt nebenherlanfeu. Bringen sie wirklich etwas
Neues und Besseres, so wird es stets die Aufgabe der obersten Schulbehörde
sein, den Fortschritt für das Schulsystem zu verwerten.

Man darf sich die Sache überhaupt nicht so vorstellen, als ob das einmal
gebilligte System nun ewig starr und unverändert bleiben sollte; nein, wie
sich jede Sprache und Aussprache unaufhaltsam weiterbildet und dadurch von
Zeit zu Zeit Änderungen der von selbst sich nicht entwickelnden Schrift nötig
werden, um beide im Einklang zu erhalten, so muß sich auch die Stenographie
als eine Unterart der Schrift in gewissen Zwischenräumen Abänderungen
unterwerfen. Zudem sollen dein menschlichen Erfindungsgeiste keine Schranken
gezogen werden. Das System, das heute als das beste aus der Prüfung
hervorgeht, braucht, wenn man es dem Fortschritt verschließt, nach fünfzig
oder hundert Jahren nicht mehr an erster Stelle zu stehen. Zwar lassen sich
neue „Quantitäten" schwerlich noch entdecken, aber der Scharfsinn und Fleiß
befähigter Geister kaun doch wohl einmal noch neue „Qualitäten" zu Tage
fördern und in der Ökonomie der schon vorhandenen Mittel noch bessere Wege
einschlagen. Alle solche Vervollkommnungen und neue Gedanken müßten
regelmäßig verfolgt und nach Möglichkeit im Schulsystem zur Geltung gebracht
werden, damit sich dieses stets auf der Höhe der Forderungen halte. Die
Sache ans Rücksicht auf künftige Fortschritte anstehen lassen, bis etwas Voll¬
kommenes erreicht sei, hieße mit dem horazischen Landmann warten, bis sich
der Fluß verlaufen habe, ick illo IMrur et labetur! In den Naturwissen-
schaften folgt eine neue Erkenntnis ans die andre, aber die Schule lehrt trotz¬
dem Naturwissenschaften! und schließt sich deren neuen Ergebnissen Schritt für
Schritt an, ohne damit bis zu den griechischen Knienden des einstigen Ab¬
schlusses der Forschung zu säumen.

Tritt die preußische Schulbehörde der stenographischen Frage herzhaft
näher, so würde zunächst wohl ein Ausschuß von Pädagogen und Germanisten
einzusetzen sein, um sich über die Forderungen zu einigen, auf denen Schule
und Wissenschaft gegenüber der Stenographie unweigerlich bestehen müssen,
und über die Wertfolge, in der diese Forderungen als Maßstab zu dienen
haben. Der Zuziehung von stenographischen Fachmännern wird es auf dieser
Vorbereituugsstufe kaum bedürfen, zumal da in der Litteratur schon manche
einschlägige Werke zur Belehrung vorhanden sind. Gegenüber einseitigen und
gehässigen Parteischrifteu, wie z. B. denen von Kaselitz, Eggers und rudern, ist
allerdings nur ein ^rooul nolasti! am Platze, dagegen verdienen die besonnenen
und ruhigen Arbeiten stenographiebeflisseuer Schulmänner, wie z. B. Henke und
Brauns, sorgfältige Beachtung. Wenn man zur Einigung über diese Grund-


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[0372] Die Stenographie in der Schule der Individualität wird vermutlich auch in stenographischen Dingen immer nach Ausdruck suchen; aber diesen Sonderbestrebungen wird doch die eigentliche Lebensader unterbunden sein, da ihnen der Nährboden der Schule fehlt, und deshalb mögen sie unbehelligt nebenherlanfeu. Bringen sie wirklich etwas Neues und Besseres, so wird es stets die Aufgabe der obersten Schulbehörde sein, den Fortschritt für das Schulsystem zu verwerten. Man darf sich die Sache überhaupt nicht so vorstellen, als ob das einmal gebilligte System nun ewig starr und unverändert bleiben sollte; nein, wie sich jede Sprache und Aussprache unaufhaltsam weiterbildet und dadurch von Zeit zu Zeit Änderungen der von selbst sich nicht entwickelnden Schrift nötig werden, um beide im Einklang zu erhalten, so muß sich auch die Stenographie als eine Unterart der Schrift in gewissen Zwischenräumen Abänderungen unterwerfen. Zudem sollen dein menschlichen Erfindungsgeiste keine Schranken gezogen werden. Das System, das heute als das beste aus der Prüfung hervorgeht, braucht, wenn man es dem Fortschritt verschließt, nach fünfzig oder hundert Jahren nicht mehr an erster Stelle zu stehen. Zwar lassen sich neue „Quantitäten" schwerlich noch entdecken, aber der Scharfsinn und Fleiß befähigter Geister kaun doch wohl einmal noch neue „Qualitäten" zu Tage fördern und in der Ökonomie der schon vorhandenen Mittel noch bessere Wege einschlagen. Alle solche Vervollkommnungen und neue Gedanken müßten regelmäßig verfolgt und nach Möglichkeit im Schulsystem zur Geltung gebracht werden, damit sich dieses stets auf der Höhe der Forderungen halte. Die Sache ans Rücksicht auf künftige Fortschritte anstehen lassen, bis etwas Voll¬ kommenes erreicht sei, hieße mit dem horazischen Landmann warten, bis sich der Fluß verlaufen habe, ick illo IMrur et labetur! In den Naturwissen- schaften folgt eine neue Erkenntnis ans die andre, aber die Schule lehrt trotz¬ dem Naturwissenschaften! und schließt sich deren neuen Ergebnissen Schritt für Schritt an, ohne damit bis zu den griechischen Knienden des einstigen Ab¬ schlusses der Forschung zu säumen. Tritt die preußische Schulbehörde der stenographischen Frage herzhaft näher, so würde zunächst wohl ein Ausschuß von Pädagogen und Germanisten einzusetzen sein, um sich über die Forderungen zu einigen, auf denen Schule und Wissenschaft gegenüber der Stenographie unweigerlich bestehen müssen, und über die Wertfolge, in der diese Forderungen als Maßstab zu dienen haben. Der Zuziehung von stenographischen Fachmännern wird es auf dieser Vorbereituugsstufe kaum bedürfen, zumal da in der Litteratur schon manche einschlägige Werke zur Belehrung vorhanden sind. Gegenüber einseitigen und gehässigen Parteischrifteu, wie z. B. denen von Kaselitz, Eggers und rudern, ist allerdings nur ein ^rooul nolasti! am Platze, dagegen verdienen die besonnenen und ruhigen Arbeiten stenographiebeflisseuer Schulmänner, wie z. B. Henke und Brauns, sorgfältige Beachtung. Wenn man zur Einigung über diese Grund-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/372>, abgerufen am 03.07.2024.