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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Stenographie in der Schule

des Kultusministeriums vom 14. Juli 1873. Zwar erklärt das Reskript weiter,
daß, wem" entschiedne Vorzüge andrer Systeme nachgewiesen würden, die den
sächsischen Unterrichtsanstalten gegebene Weisung entsprechend geändert werden
solle; aber diese Erklärung geht von der Voraussetzung aus, als habe schon
einmal eine wissenschaftliche und pädagogische Vergleichung dem System Gabels-
bergers den Lorbeerkranz erteilt, was doch noch nie der Fall gewesen ist. Das
sächsische Kultusministerium hat den Knoten durchhauen, aber nicht auf dem
Wege wissenschaftlicher Untersuchung gelöst.

Wollte sich der preußische Staat ebenfalls von rein äußerlichen Gründen
bestimmen lassen, so müßte er bei Einführung der Stenographie in seinen
höhern Schulen ohne weiteres das System von Stolze anerkennen. Stolze
war ein geborner Berliner und lebte in Berlin, in Berlin hat er sein System
erfunden und mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums heraus¬
gegeben, in Preußen besitzt es eine Verbreitung, die sämtliche andern Systeme
dort nur zusammengenommen erreichen, und in den preußischen Kammern dient
zum Nachschreiben der Reden nur die Stolzische Stenographie. Es ist aber
nicht zu wünschen und auch nicht anzunehmen, daß die preußischen Unterrichts-
behvrdcn ohne Prüfung und lediglich aus Rücksicht auf die l><zg,t,i posÄäöntW
ihre Entscheidung treffen werden. An Petitionen und Vorstellungen der ver-
schiednen Systeme wird es nicht fehlen, und jedes wird alle Rechtstitel für sich
in Anspruch nehmen, wohl auch einseitige Deutschesten überreichen, in denen
vom eignen Wesen die Vorzüge, von dem der wettbewerbenden Systeme die
Schattenseiten möglichst hervorgehoben sind. Auch verstehen es die Vertreter
Gabelsbergers vermöge ihrer festen staatlichen Nückhaltspuukte meisterlich, auf
die Klinker diplomatischer Hilfeleistung zu drücken. Aber in Preußen ist es
niemals Brauch und Herkommen gewesen, unbesehen das nachzumachen, was
von andern Staaten gethan worden ist, Preußen kann bei seiner führenden
Stellung in Deutschland vielmehr erwarten, daß wohlerwogne Maßregeln, die
es veranstaltet, früher oder später als Vorbild im Reiche benutzt werden und
Schule machen. Von Preußen muß auch die Lösung der stenographischen
Frage ausgehen, das ist unter den Anhängern der Stenographie die allgemeine
Überzeugung. Daher denn bei den einen die Besorgnis, ihren Boden wieder
zu verlieren, bei den andern die Zuversicht, allgemeine Geltung zu erringen.
Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß das von Preußen einmal gutgeheißene
System der Stenographie nach und nach die andern zurückdrängen wird. All¬
mählich wird dann das deutsche Reich auch auf diesem Gebiete in größerer
Einigkeit dastehen, und von der gegenwärtigen Zersplitterung in zahlreiche
Systeme und Systemchen, die der allgemeinen Verwertung der Stenographie
hinderlich sind und den Nutzen wieder einschränken, wird dann nicht viel mehr
übrig bleiben. Vollständige Einheit wird freilich anch denn kaum zu erreichen
sein, denn der unbändige deutsche Drang nach Freiheit und nach Bethätigung


Die Stenographie in der Schule

des Kultusministeriums vom 14. Juli 1873. Zwar erklärt das Reskript weiter,
daß, wem« entschiedne Vorzüge andrer Systeme nachgewiesen würden, die den
sächsischen Unterrichtsanstalten gegebene Weisung entsprechend geändert werden
solle; aber diese Erklärung geht von der Voraussetzung aus, als habe schon
einmal eine wissenschaftliche und pädagogische Vergleichung dem System Gabels-
bergers den Lorbeerkranz erteilt, was doch noch nie der Fall gewesen ist. Das
sächsische Kultusministerium hat den Knoten durchhauen, aber nicht auf dem
Wege wissenschaftlicher Untersuchung gelöst.

Wollte sich der preußische Staat ebenfalls von rein äußerlichen Gründen
bestimmen lassen, so müßte er bei Einführung der Stenographie in seinen
höhern Schulen ohne weiteres das System von Stolze anerkennen. Stolze
war ein geborner Berliner und lebte in Berlin, in Berlin hat er sein System
erfunden und mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums heraus¬
gegeben, in Preußen besitzt es eine Verbreitung, die sämtliche andern Systeme
dort nur zusammengenommen erreichen, und in den preußischen Kammern dient
zum Nachschreiben der Reden nur die Stolzische Stenographie. Es ist aber
nicht zu wünschen und auch nicht anzunehmen, daß die preußischen Unterrichts-
behvrdcn ohne Prüfung und lediglich aus Rücksicht auf die l><zg,t,i posÄäöntW
ihre Entscheidung treffen werden. An Petitionen und Vorstellungen der ver-
schiednen Systeme wird es nicht fehlen, und jedes wird alle Rechtstitel für sich
in Anspruch nehmen, wohl auch einseitige Deutschesten überreichen, in denen
vom eignen Wesen die Vorzüge, von dem der wettbewerbenden Systeme die
Schattenseiten möglichst hervorgehoben sind. Auch verstehen es die Vertreter
Gabelsbergers vermöge ihrer festen staatlichen Nückhaltspuukte meisterlich, auf
die Klinker diplomatischer Hilfeleistung zu drücken. Aber in Preußen ist es
niemals Brauch und Herkommen gewesen, unbesehen das nachzumachen, was
von andern Staaten gethan worden ist, Preußen kann bei seiner führenden
Stellung in Deutschland vielmehr erwarten, daß wohlerwogne Maßregeln, die
es veranstaltet, früher oder später als Vorbild im Reiche benutzt werden und
Schule machen. Von Preußen muß auch die Lösung der stenographischen
Frage ausgehen, das ist unter den Anhängern der Stenographie die allgemeine
Überzeugung. Daher denn bei den einen die Besorgnis, ihren Boden wieder
zu verlieren, bei den andern die Zuversicht, allgemeine Geltung zu erringen.
Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß das von Preußen einmal gutgeheißene
System der Stenographie nach und nach die andern zurückdrängen wird. All¬
mählich wird dann das deutsche Reich auch auf diesem Gebiete in größerer
Einigkeit dastehen, und von der gegenwärtigen Zersplitterung in zahlreiche
Systeme und Systemchen, die der allgemeinen Verwertung der Stenographie
hinderlich sind und den Nutzen wieder einschränken, wird dann nicht viel mehr
übrig bleiben. Vollständige Einheit wird freilich anch denn kaum zu erreichen
sein, denn der unbändige deutsche Drang nach Freiheit und nach Bethätigung


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[0371] Die Stenographie in der Schule des Kultusministeriums vom 14. Juli 1873. Zwar erklärt das Reskript weiter, daß, wem« entschiedne Vorzüge andrer Systeme nachgewiesen würden, die den sächsischen Unterrichtsanstalten gegebene Weisung entsprechend geändert werden solle; aber diese Erklärung geht von der Voraussetzung aus, als habe schon einmal eine wissenschaftliche und pädagogische Vergleichung dem System Gabels- bergers den Lorbeerkranz erteilt, was doch noch nie der Fall gewesen ist. Das sächsische Kultusministerium hat den Knoten durchhauen, aber nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Untersuchung gelöst. Wollte sich der preußische Staat ebenfalls von rein äußerlichen Gründen bestimmen lassen, so müßte er bei Einführung der Stenographie in seinen höhern Schulen ohne weiteres das System von Stolze anerkennen. Stolze war ein geborner Berliner und lebte in Berlin, in Berlin hat er sein System erfunden und mit Unterstützung des preußischen Kultusministeriums heraus¬ gegeben, in Preußen besitzt es eine Verbreitung, die sämtliche andern Systeme dort nur zusammengenommen erreichen, und in den preußischen Kammern dient zum Nachschreiben der Reden nur die Stolzische Stenographie. Es ist aber nicht zu wünschen und auch nicht anzunehmen, daß die preußischen Unterrichts- behvrdcn ohne Prüfung und lediglich aus Rücksicht auf die l><zg,t,i posÄäöntW ihre Entscheidung treffen werden. An Petitionen und Vorstellungen der ver- schiednen Systeme wird es nicht fehlen, und jedes wird alle Rechtstitel für sich in Anspruch nehmen, wohl auch einseitige Deutschesten überreichen, in denen vom eignen Wesen die Vorzüge, von dem der wettbewerbenden Systeme die Schattenseiten möglichst hervorgehoben sind. Auch verstehen es die Vertreter Gabelsbergers vermöge ihrer festen staatlichen Nückhaltspuukte meisterlich, auf die Klinker diplomatischer Hilfeleistung zu drücken. Aber in Preußen ist es niemals Brauch und Herkommen gewesen, unbesehen das nachzumachen, was von andern Staaten gethan worden ist, Preußen kann bei seiner führenden Stellung in Deutschland vielmehr erwarten, daß wohlerwogne Maßregeln, die es veranstaltet, früher oder später als Vorbild im Reiche benutzt werden und Schule machen. Von Preußen muß auch die Lösung der stenographischen Frage ausgehen, das ist unter den Anhängern der Stenographie die allgemeine Überzeugung. Daher denn bei den einen die Besorgnis, ihren Boden wieder zu verlieren, bei den andern die Zuversicht, allgemeine Geltung zu erringen. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß das von Preußen einmal gutgeheißene System der Stenographie nach und nach die andern zurückdrängen wird. All¬ mählich wird dann das deutsche Reich auch auf diesem Gebiete in größerer Einigkeit dastehen, und von der gegenwärtigen Zersplitterung in zahlreiche Systeme und Systemchen, die der allgemeinen Verwertung der Stenographie hinderlich sind und den Nutzen wieder einschränken, wird dann nicht viel mehr übrig bleiben. Vollständige Einheit wird freilich anch denn kaum zu erreichen sein, denn der unbändige deutsche Drang nach Freiheit und nach Bethätigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/371>, abgerufen am 23.07.2024.