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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Die Stenographie in der Schule

größern Umfang annehmen wird, selbst wenn mau eine" Teil der Übungen
auf jene mündlichen Vortrage und Disputationen abwälzt, deren Wert und
Nutzen höchst zweifelhaft ist. Das eine Ziel der höhern Lehranstalten, die
Schiller zur richtigen, klaren, bestimmten und knappen Darstellung ihrer Ge¬
danken in der Muttersprache heranzubilden, läßt sich am besten durch vieles
Lesen in guten Schriftstellern und durch fleißige eigne Handhabung der Feder
erreichen. Das selbstthätige Schreiben ist dabei noch wichtiger als das Lesen.
Jean Paul sagt in der Levana einmal: "In der erziehenden Welt geht nichts
über das Schreiben, nicht einmal Lesen und Sprechen, und ein Mensch liest
dreißig Jahre mit weniger Ertrag seiner Bildung, als er ein halbes schreibt."
Ob der fränkische Humorist mit diesen Zahlen das Wertverhältnis ganz richtig
getroffen hat, mag dahingestellt bleiben, es ist das nicht von großem Belang.
Man kann gern das Lesen im allgemeinen in ein günstigeres Verhältnis zum
Schreiben rücken, man kann weiter, da Jean Paul mehr an Erwachsene denkt,
die empfangende Thätigkeit des Lesens für die Jugendzeit insbesondre nochmals
hinausschieben gegenüber der schaffenden Arbeit des Schreibens, das Schluß-
ergebnis wird doch immer dahin lauten, daß das Schreiben wichtiger ist.

Liegen aber die Dinge so, dann läßt sich eine Beschränkung des Schreibens
ohne Schädigung der Unterrichtserfolge nicht herbeiführen. Soll man sich nun
da allein mit dem Kräutlein Geduld begnügen, das bekanntlich jede Bürde
leichter macht? Giebt es nicht vielleicht ein Mittel zur Erleichterung der
Schulen bei dein schaffende" sowohl wie bei dem wiedergebenden Schreiben?
Gewiß! Eine solche Hilfe ist vorhanden und wird jetzt überall auf den Straßen
und an den Zäunen ausgeboten: es ist die Stenographie.

Die Stenographie ist keine teuflische Hexenkunst, sie ist auch nicht, wie
immer noch viele glauben, eine gliederverrcnkeude Fingerseiltänzerei zur Heran¬
bildung etlicher Fertigkeitshelden, die sich ans dem schwebenden Trapez des
Nachschreibens schneller Reden sehen und bewundern lassen wollen. Sie ist
vielmehr nach ebenso nüchterner wie zutreffender Erklärung eine Schriftart mit
einfachem Alphabet, der die prosaische, aber nützliche und segensreiche Aufgabe
zugefallen ist, der schreibgeplagten Menschheit Zeit und Kräfte sparen zu helfen.
Von den Kunstgriffen, Kniffen und Schlichen, durch die berufsmäßige Parla-
mentsstenvgraphen in langer Schulung sich hinausarbeiten zu der schwindelnden
Höhe sechs- bis achtfacher Schreibgeschwindigkeit, die ihr sanerer Beruf
manchmal verlangt, weiß die eigentliche Stenographie nichts. Sie begnügt sich
mit Verkürzung der Schreibarbeit ans etwa ein Viertel im Vergleiche zu der
gewöhnlichen Schrift, fordert dafür aber much Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und
diplomatische Treue, um die sich berufsmäßige Virtuosen der Stenographie nicht
zu kümmern brauchen. An Einfachheit kann sich die Stenographie freilich mit der
gewöhnlichen Schrift nicht messen, sie bedeutet gegen diese bisher vollkommenste
Schriftart einen Rückschritt, mit dein man eben den Vorteil der größern Kürze


Die Stenographie in der Schule

größern Umfang annehmen wird, selbst wenn mau eine» Teil der Übungen
auf jene mündlichen Vortrage und Disputationen abwälzt, deren Wert und
Nutzen höchst zweifelhaft ist. Das eine Ziel der höhern Lehranstalten, die
Schiller zur richtigen, klaren, bestimmten und knappen Darstellung ihrer Ge¬
danken in der Muttersprache heranzubilden, läßt sich am besten durch vieles
Lesen in guten Schriftstellern und durch fleißige eigne Handhabung der Feder
erreichen. Das selbstthätige Schreiben ist dabei noch wichtiger als das Lesen.
Jean Paul sagt in der Levana einmal: „In der erziehenden Welt geht nichts
über das Schreiben, nicht einmal Lesen und Sprechen, und ein Mensch liest
dreißig Jahre mit weniger Ertrag seiner Bildung, als er ein halbes schreibt."
Ob der fränkische Humorist mit diesen Zahlen das Wertverhältnis ganz richtig
getroffen hat, mag dahingestellt bleiben, es ist das nicht von großem Belang.
Man kann gern das Lesen im allgemeinen in ein günstigeres Verhältnis zum
Schreiben rücken, man kann weiter, da Jean Paul mehr an Erwachsene denkt,
die empfangende Thätigkeit des Lesens für die Jugendzeit insbesondre nochmals
hinausschieben gegenüber der schaffenden Arbeit des Schreibens, das Schluß-
ergebnis wird doch immer dahin lauten, daß das Schreiben wichtiger ist.

Liegen aber die Dinge so, dann läßt sich eine Beschränkung des Schreibens
ohne Schädigung der Unterrichtserfolge nicht herbeiführen. Soll man sich nun
da allein mit dem Kräutlein Geduld begnügen, das bekanntlich jede Bürde
leichter macht? Giebt es nicht vielleicht ein Mittel zur Erleichterung der
Schulen bei dein schaffende» sowohl wie bei dem wiedergebenden Schreiben?
Gewiß! Eine solche Hilfe ist vorhanden und wird jetzt überall auf den Straßen
und an den Zäunen ausgeboten: es ist die Stenographie.

Die Stenographie ist keine teuflische Hexenkunst, sie ist auch nicht, wie
immer noch viele glauben, eine gliederverrcnkeude Fingerseiltänzerei zur Heran¬
bildung etlicher Fertigkeitshelden, die sich ans dem schwebenden Trapez des
Nachschreibens schneller Reden sehen und bewundern lassen wollen. Sie ist
vielmehr nach ebenso nüchterner wie zutreffender Erklärung eine Schriftart mit
einfachem Alphabet, der die prosaische, aber nützliche und segensreiche Aufgabe
zugefallen ist, der schreibgeplagten Menschheit Zeit und Kräfte sparen zu helfen.
Von den Kunstgriffen, Kniffen und Schlichen, durch die berufsmäßige Parla-
mentsstenvgraphen in langer Schulung sich hinausarbeiten zu der schwindelnden
Höhe sechs- bis achtfacher Schreibgeschwindigkeit, die ihr sanerer Beruf
manchmal verlangt, weiß die eigentliche Stenographie nichts. Sie begnügt sich
mit Verkürzung der Schreibarbeit ans etwa ein Viertel im Vergleiche zu der
gewöhnlichen Schrift, fordert dafür aber much Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und
diplomatische Treue, um die sich berufsmäßige Virtuosen der Stenographie nicht
zu kümmern brauchen. An Einfachheit kann sich die Stenographie freilich mit der
gewöhnlichen Schrift nicht messen, sie bedeutet gegen diese bisher vollkommenste
Schriftart einen Rückschritt, mit dein man eben den Vorteil der größern Kürze


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[0362] Die Stenographie in der Schule größern Umfang annehmen wird, selbst wenn mau eine» Teil der Übungen auf jene mündlichen Vortrage und Disputationen abwälzt, deren Wert und Nutzen höchst zweifelhaft ist. Das eine Ziel der höhern Lehranstalten, die Schiller zur richtigen, klaren, bestimmten und knappen Darstellung ihrer Ge¬ danken in der Muttersprache heranzubilden, läßt sich am besten durch vieles Lesen in guten Schriftstellern und durch fleißige eigne Handhabung der Feder erreichen. Das selbstthätige Schreiben ist dabei noch wichtiger als das Lesen. Jean Paul sagt in der Levana einmal: „In der erziehenden Welt geht nichts über das Schreiben, nicht einmal Lesen und Sprechen, und ein Mensch liest dreißig Jahre mit weniger Ertrag seiner Bildung, als er ein halbes schreibt." Ob der fränkische Humorist mit diesen Zahlen das Wertverhältnis ganz richtig getroffen hat, mag dahingestellt bleiben, es ist das nicht von großem Belang. Man kann gern das Lesen im allgemeinen in ein günstigeres Verhältnis zum Schreiben rücken, man kann weiter, da Jean Paul mehr an Erwachsene denkt, die empfangende Thätigkeit des Lesens für die Jugendzeit insbesondre nochmals hinausschieben gegenüber der schaffenden Arbeit des Schreibens, das Schluß- ergebnis wird doch immer dahin lauten, daß das Schreiben wichtiger ist. Liegen aber die Dinge so, dann läßt sich eine Beschränkung des Schreibens ohne Schädigung der Unterrichtserfolge nicht herbeiführen. Soll man sich nun da allein mit dem Kräutlein Geduld begnügen, das bekanntlich jede Bürde leichter macht? Giebt es nicht vielleicht ein Mittel zur Erleichterung der Schulen bei dein schaffende» sowohl wie bei dem wiedergebenden Schreiben? Gewiß! Eine solche Hilfe ist vorhanden und wird jetzt überall auf den Straßen und an den Zäunen ausgeboten: es ist die Stenographie. Die Stenographie ist keine teuflische Hexenkunst, sie ist auch nicht, wie immer noch viele glauben, eine gliederverrcnkeude Fingerseiltänzerei zur Heran¬ bildung etlicher Fertigkeitshelden, die sich ans dem schwebenden Trapez des Nachschreibens schneller Reden sehen und bewundern lassen wollen. Sie ist vielmehr nach ebenso nüchterner wie zutreffender Erklärung eine Schriftart mit einfachem Alphabet, der die prosaische, aber nützliche und segensreiche Aufgabe zugefallen ist, der schreibgeplagten Menschheit Zeit und Kräfte sparen zu helfen. Von den Kunstgriffen, Kniffen und Schlichen, durch die berufsmäßige Parla- mentsstenvgraphen in langer Schulung sich hinausarbeiten zu der schwindelnden Höhe sechs- bis achtfacher Schreibgeschwindigkeit, die ihr sanerer Beruf manchmal verlangt, weiß die eigentliche Stenographie nichts. Sie begnügt sich mit Verkürzung der Schreibarbeit ans etwa ein Viertel im Vergleiche zu der gewöhnlichen Schrift, fordert dafür aber much Zuverlässigkeit, Lesbarkeit und diplomatische Treue, um die sich berufsmäßige Virtuosen der Stenographie nicht zu kümmern brauchen. An Einfachheit kann sich die Stenographie freilich mit der gewöhnlichen Schrift nicht messen, sie bedeutet gegen diese bisher vollkommenste Schriftart einen Rückschritt, mit dein man eben den Vorteil der größern Kürze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/362>, abgerufen am 25.08.2024.