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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Artikel 5^ der Reichsverfassmig

Warum muß der Reichstag mindestens einmal im Jahre berufen werden?
Doch wohl nicht zu dem Zweck, damit man "wieder einmal beisammen gewesen"
sei, sondern darum, weil eine innere Notwendigkeit für diese Berufung vor-
handen ist. Diese Notwendigkeit liegt in den Artikeln 69 bis 72 der Ver¬
fassung: der Reichshaushalt muß für jedes Jahr besonders dnrch Gesetz
festgestellt werden, nud daraus würde sich auch ohne den Artikel 13 die Not¬
wendigkeit der alljährlichen Verufuug des Reichstags ergeben. Denn wenn
es auch, woraus wir hier nicht weiter eingehen, statthaft sein mag, im Jahre
1890 den Reichshaushalt sowohl für das Jahr 1891 als auch für das Jahr
1892 festzustellen, so kann doch der Reichstag zu einer solchen Feststellung
ans zwei Jahre nicht genötigt werden, er kann, ohne die Verfassung dem
Buchstaben oder dem Geiste nach zu verletzen, das Eintreten in die Bereitung
des Haushaltsgesetzes sür 1892 zur Zeit ablehnen. Aber auch abgesehen davon:
schon der Artikel 72, der verordnet, daß über die Verwendung der Einnahmen
des Reiches dem Reichstag jährlich -- d. h. in jedem Jahre, nicht: sür jedes
Jahr -- Rechnung abzulegen sei, macht die jährliche Einberufung des Reichs¬
tags unbedingt notwendig. Die Reichstagssitzung, in der das "Budget" fest¬
gestellt wird, können wir die ordentliche Session nennen im Gegensatz zur
außerordentlichen, zu der der Reichstag zur Beratung eines andern (dringenden!
Gesetzes berufen wird, nachdem der Budgetreichstag geschlossen ist. Die
Reichsverfassung unterscheidet zwar nicht zwischen ordentlicher und außer¬
ordentlicher Session, in einem Reichsgesetz aber (vom 23. Dezember 1874. be¬
treffend die geschäftliche Behandlung eines Gerichtsverfassungsgesetzes u. s. w.)
begegnen wir wirklich der Bezeichnung "ordentliche Session."

Mit dem Zweck der Berufung hängt die Dauer der Session eng zu¬
sammen. Die Tagung des Reichstags beginnt mit der Berufung. Wann
endigt sie? Die Verfassung kennt drei Arten der Beendigung: Auflösung,
Schließung nud Vertagung. Die Auflösung macht nicht nur der Session,
sondern dem ganzen Reichstag, sie macht der "Legislaturperiode" ein (vor¬
zeitiges) Ende; der Schluß des Reichstags bedeutet das Ende der Session,
die Vertagung beendigt, wie der Artikel 26 ergiebt, die Session nicht, sie unter¬
bricht sie bloß. Die Auflösung bedeutet den gewaltsamen Tod, die Schließung
den natürlichen Tod, die Vertagung den Schlaf der Session. Der Schlaf aber
ist der Zwillingsbruder des natürlichen Todes.

Zur Auflösung des Reichstags ("während derselben," d. h. während der
"Legislaturperiode" sügt der Artikel 24 sehr unnötig bei) ist ein Beschluß des
Bundesrates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich; das Recht, den
Reichstag zu vertagen und zu schließen, steht ebenso wie die Berufung und
Eröffnung nach Artikel 12 dein Kaiser allein zu. Diese Rechte des Kaisers
sind im wesentlichen bloße Ehrenrechte, ohne sachlichen Gehalt. Bei der Er¬
öffnung ist dies von selbst klar. Die Berufung ist zwar nicht der Form,


Artikel 5^ der Reichsverfassmig

Warum muß der Reichstag mindestens einmal im Jahre berufen werden?
Doch wohl nicht zu dem Zweck, damit man „wieder einmal beisammen gewesen"
sei, sondern darum, weil eine innere Notwendigkeit für diese Berufung vor-
handen ist. Diese Notwendigkeit liegt in den Artikeln 69 bis 72 der Ver¬
fassung: der Reichshaushalt muß für jedes Jahr besonders dnrch Gesetz
festgestellt werden, nud daraus würde sich auch ohne den Artikel 13 die Not¬
wendigkeit der alljährlichen Verufuug des Reichstags ergeben. Denn wenn
es auch, woraus wir hier nicht weiter eingehen, statthaft sein mag, im Jahre
1890 den Reichshaushalt sowohl für das Jahr 1891 als auch für das Jahr
1892 festzustellen, so kann doch der Reichstag zu einer solchen Feststellung
ans zwei Jahre nicht genötigt werden, er kann, ohne die Verfassung dem
Buchstaben oder dem Geiste nach zu verletzen, das Eintreten in die Bereitung
des Haushaltsgesetzes sür 1892 zur Zeit ablehnen. Aber auch abgesehen davon:
schon der Artikel 72, der verordnet, daß über die Verwendung der Einnahmen
des Reiches dem Reichstag jährlich — d. h. in jedem Jahre, nicht: sür jedes
Jahr — Rechnung abzulegen sei, macht die jährliche Einberufung des Reichs¬
tags unbedingt notwendig. Die Reichstagssitzung, in der das „Budget" fest¬
gestellt wird, können wir die ordentliche Session nennen im Gegensatz zur
außerordentlichen, zu der der Reichstag zur Beratung eines andern (dringenden!
Gesetzes berufen wird, nachdem der Budgetreichstag geschlossen ist. Die
Reichsverfassung unterscheidet zwar nicht zwischen ordentlicher und außer¬
ordentlicher Session, in einem Reichsgesetz aber (vom 23. Dezember 1874. be¬
treffend die geschäftliche Behandlung eines Gerichtsverfassungsgesetzes u. s. w.)
begegnen wir wirklich der Bezeichnung „ordentliche Session."

Mit dem Zweck der Berufung hängt die Dauer der Session eng zu¬
sammen. Die Tagung des Reichstags beginnt mit der Berufung. Wann
endigt sie? Die Verfassung kennt drei Arten der Beendigung: Auflösung,
Schließung nud Vertagung. Die Auflösung macht nicht nur der Session,
sondern dem ganzen Reichstag, sie macht der „Legislaturperiode" ein (vor¬
zeitiges) Ende; der Schluß des Reichstags bedeutet das Ende der Session,
die Vertagung beendigt, wie der Artikel 26 ergiebt, die Session nicht, sie unter¬
bricht sie bloß. Die Auflösung bedeutet den gewaltsamen Tod, die Schließung
den natürlichen Tod, die Vertagung den Schlaf der Session. Der Schlaf aber
ist der Zwillingsbruder des natürlichen Todes.

Zur Auflösung des Reichstags („während derselben," d. h. während der
„Legislaturperiode" sügt der Artikel 24 sehr unnötig bei) ist ein Beschluß des
Bundesrates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich; das Recht, den
Reichstag zu vertagen und zu schließen, steht ebenso wie die Berufung und
Eröffnung nach Artikel 12 dein Kaiser allein zu. Diese Rechte des Kaisers
sind im wesentlichen bloße Ehrenrechte, ohne sachlichen Gehalt. Bei der Er¬
öffnung ist dies von selbst klar. Die Berufung ist zwar nicht der Form,


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[0347] Artikel 5^ der Reichsverfassmig Warum muß der Reichstag mindestens einmal im Jahre berufen werden? Doch wohl nicht zu dem Zweck, damit man „wieder einmal beisammen gewesen" sei, sondern darum, weil eine innere Notwendigkeit für diese Berufung vor- handen ist. Diese Notwendigkeit liegt in den Artikeln 69 bis 72 der Ver¬ fassung: der Reichshaushalt muß für jedes Jahr besonders dnrch Gesetz festgestellt werden, nud daraus würde sich auch ohne den Artikel 13 die Not¬ wendigkeit der alljährlichen Verufuug des Reichstags ergeben. Denn wenn es auch, woraus wir hier nicht weiter eingehen, statthaft sein mag, im Jahre 1890 den Reichshaushalt sowohl für das Jahr 1891 als auch für das Jahr 1892 festzustellen, so kann doch der Reichstag zu einer solchen Feststellung ans zwei Jahre nicht genötigt werden, er kann, ohne die Verfassung dem Buchstaben oder dem Geiste nach zu verletzen, das Eintreten in die Bereitung des Haushaltsgesetzes sür 1892 zur Zeit ablehnen. Aber auch abgesehen davon: schon der Artikel 72, der verordnet, daß über die Verwendung der Einnahmen des Reiches dem Reichstag jährlich — d. h. in jedem Jahre, nicht: sür jedes Jahr — Rechnung abzulegen sei, macht die jährliche Einberufung des Reichs¬ tags unbedingt notwendig. Die Reichstagssitzung, in der das „Budget" fest¬ gestellt wird, können wir die ordentliche Session nennen im Gegensatz zur außerordentlichen, zu der der Reichstag zur Beratung eines andern (dringenden! Gesetzes berufen wird, nachdem der Budgetreichstag geschlossen ist. Die Reichsverfassung unterscheidet zwar nicht zwischen ordentlicher und außer¬ ordentlicher Session, in einem Reichsgesetz aber (vom 23. Dezember 1874. be¬ treffend die geschäftliche Behandlung eines Gerichtsverfassungsgesetzes u. s. w.) begegnen wir wirklich der Bezeichnung „ordentliche Session." Mit dem Zweck der Berufung hängt die Dauer der Session eng zu¬ sammen. Die Tagung des Reichstags beginnt mit der Berufung. Wann endigt sie? Die Verfassung kennt drei Arten der Beendigung: Auflösung, Schließung nud Vertagung. Die Auflösung macht nicht nur der Session, sondern dem ganzen Reichstag, sie macht der „Legislaturperiode" ein (vor¬ zeitiges) Ende; der Schluß des Reichstags bedeutet das Ende der Session, die Vertagung beendigt, wie der Artikel 26 ergiebt, die Session nicht, sie unter¬ bricht sie bloß. Die Auflösung bedeutet den gewaltsamen Tod, die Schließung den natürlichen Tod, die Vertagung den Schlaf der Session. Der Schlaf aber ist der Zwillingsbruder des natürlichen Todes. Zur Auflösung des Reichstags („während derselben," d. h. während der „Legislaturperiode" sügt der Artikel 24 sehr unnötig bei) ist ein Beschluß des Bundesrates unter Zustimmung des Kaisers erforderlich; das Recht, den Reichstag zu vertagen und zu schließen, steht ebenso wie die Berufung und Eröffnung nach Artikel 12 dein Kaiser allein zu. Diese Rechte des Kaisers sind im wesentlichen bloße Ehrenrechte, ohne sachlichen Gehalt. Bei der Er¬ öffnung ist dies von selbst klar. Die Berufung ist zwar nicht der Form,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/347>, abgerufen am 28.09.2024.