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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Artikel 3l der Reichsverfassmig

Setzung) zweifellos vollkommen gleichbedeutend ist unt Sitzung, so hätte die
Reichsverfassung ebensogut in Artikel 26 von einer "Sitzung," wie in Artikel 31
-- dein Dopvelfremdwvrt "Legislaturperiode" entsprechend von einer
"Sessivnsperivdc," einem Sitzungsnmlauf reden können.

Sitzung, Session bezeichnet sprachlich ursprünglich einen Zustand: das
Ruhen des Körpers auf dem Gesäß, In Artikel 26 ist aber die Bedeutung
des Wortes eine andre, abgeleitete, da bezeichnet es die Zeit, während der
die Reichstagsabgeordneten sich in diesem Zustande befinden, die Zeit, während
der der Reichstag "tagt," versammelt ist. Sitzung ist gleich Tagung. Was
bedeutet aber das Wort Tagung, was bedeuten die Worte Reichstag, Landtag?
Der Zusammenhang zwischen Volksvertretung und Sonnenlicht ist ans den
ersten Blick dunkel, man möchte zuweilen an die Ableitung tuon" -r um lueemllv
denken, insofern mitunter lange Zeit vergeht, bis es in den Köpfen mancher
Volksvertreter tagt, hell wird.

Der Landtag ist der Tag, an dem die Landsgemeinde zusammenkommt,
sich versammelt, um ihre Angelegenheiten zu beraten, daraus abgeleitet: die
Versammlung der Landsgemeinde. Mit der Beratung ihrer Angelegenheiten
mochte sie wohl ursprünglich an einem Tage fertig werden, wie heute uoch
die Appenzeller; je verwickelter aber die Verhältnisse wurden, um so weniger
reichte die Zeit von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenuntergang
hin, die Beratung dehnte sich also auf mehrere Tage ans, ein einziger Land-
Tag dauert nun viel länger als der lange Tag der Juden, er umfaßt Wochen
und Monate, der ganze Zeitraum, die Vielheit der Tage gilt zufolge staats¬
rechtlicher Fiktion als ein Tag. Tagung, Sitzung, Session ist also der Zeit¬
raum, während dessen der Reichstag versammelt ist oder kraft des Gesetzes als
versammelt gilt.

Wie verhält sich nnn dieser Zeitraum zur "Legislaturperiode"? Die
Autwort aus diese Frage giebt der Artikel 13 der Reichsverfassung: "Die Be¬
rufung des Reichstags findet alljährlich statt." Mit jeder Berufung beginnt
eine neue Tagung, die Legislaturperiode umfaßt mehrere Tagungen oder
Sessionen. Wie viele? "Alljährlich" kann bedeuten: jedes Jahr, aber auch:
des Jahres (nur) einmal. In Artikel 13 hat das Wort nicht die zweite Be¬
deutung, wie sich aus Artikel 14 ergiebt; der Bundesrat wird nach Artikel 13
gerade so wie der Reichstag "alljährlich" berufen, seine Berufung muß aber
nach Artikel 14 (außerdem) stets erfolgen, sobald sie von einem Drittel der
Stimmenzahl verlangt wird, also anch dann, wenn in dem betreffenden Jahre
die "alljährliche" Berufung schon stattgefunden hat. Alljährlich kann demnach
nicht bedeuten: "des Jahres (nur) einmal," sondern muß bedeuten: "des
Jahres mindestens einmal." Ob die Berufung einmal oder mehreremal im
Jahre stattfindet, das richtet sich nach dem Bedürfnis. Damit kommen wir
auf den Zweck zunächst des Artikels 13.


Artikel 3l der Reichsverfassmig

Setzung) zweifellos vollkommen gleichbedeutend ist unt Sitzung, so hätte die
Reichsverfassung ebensogut in Artikel 26 von einer „Sitzung," wie in Artikel 31
— dein Dopvelfremdwvrt „Legislaturperiode" entsprechend von einer
„Sessivnsperivdc," einem Sitzungsnmlauf reden können.

Sitzung, Session bezeichnet sprachlich ursprünglich einen Zustand: das
Ruhen des Körpers auf dem Gesäß, In Artikel 26 ist aber die Bedeutung
des Wortes eine andre, abgeleitete, da bezeichnet es die Zeit, während der
die Reichstagsabgeordneten sich in diesem Zustande befinden, die Zeit, während
der der Reichstag „tagt," versammelt ist. Sitzung ist gleich Tagung. Was
bedeutet aber das Wort Tagung, was bedeuten die Worte Reichstag, Landtag?
Der Zusammenhang zwischen Volksvertretung und Sonnenlicht ist ans den
ersten Blick dunkel, man möchte zuweilen an die Ableitung tuon» -r um lueemllv
denken, insofern mitunter lange Zeit vergeht, bis es in den Köpfen mancher
Volksvertreter tagt, hell wird.

Der Landtag ist der Tag, an dem die Landsgemeinde zusammenkommt,
sich versammelt, um ihre Angelegenheiten zu beraten, daraus abgeleitet: die
Versammlung der Landsgemeinde. Mit der Beratung ihrer Angelegenheiten
mochte sie wohl ursprünglich an einem Tage fertig werden, wie heute uoch
die Appenzeller; je verwickelter aber die Verhältnisse wurden, um so weniger
reichte die Zeit von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenuntergang
hin, die Beratung dehnte sich also auf mehrere Tage ans, ein einziger Land-
Tag dauert nun viel länger als der lange Tag der Juden, er umfaßt Wochen
und Monate, der ganze Zeitraum, die Vielheit der Tage gilt zufolge staats¬
rechtlicher Fiktion als ein Tag. Tagung, Sitzung, Session ist also der Zeit¬
raum, während dessen der Reichstag versammelt ist oder kraft des Gesetzes als
versammelt gilt.

Wie verhält sich nnn dieser Zeitraum zur „Legislaturperiode"? Die
Autwort aus diese Frage giebt der Artikel 13 der Reichsverfassung: „Die Be¬
rufung des Reichstags findet alljährlich statt." Mit jeder Berufung beginnt
eine neue Tagung, die Legislaturperiode umfaßt mehrere Tagungen oder
Sessionen. Wie viele? „Alljährlich" kann bedeuten: jedes Jahr, aber auch:
des Jahres (nur) einmal. In Artikel 13 hat das Wort nicht die zweite Be¬
deutung, wie sich aus Artikel 14 ergiebt; der Bundesrat wird nach Artikel 13
gerade so wie der Reichstag „alljährlich" berufen, seine Berufung muß aber
nach Artikel 14 (außerdem) stets erfolgen, sobald sie von einem Drittel der
Stimmenzahl verlangt wird, also anch dann, wenn in dem betreffenden Jahre
die „alljährliche" Berufung schon stattgefunden hat. Alljährlich kann demnach
nicht bedeuten: „des Jahres (nur) einmal," sondern muß bedeuten: „des
Jahres mindestens einmal." Ob die Berufung einmal oder mehreremal im
Jahre stattfindet, das richtet sich nach dem Bedürfnis. Damit kommen wir
auf den Zweck zunächst des Artikels 13.


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[0346] Artikel 3l der Reichsverfassmig Setzung) zweifellos vollkommen gleichbedeutend ist unt Sitzung, so hätte die Reichsverfassung ebensogut in Artikel 26 von einer „Sitzung," wie in Artikel 31 — dein Dopvelfremdwvrt „Legislaturperiode" entsprechend von einer „Sessivnsperivdc," einem Sitzungsnmlauf reden können. Sitzung, Session bezeichnet sprachlich ursprünglich einen Zustand: das Ruhen des Körpers auf dem Gesäß, In Artikel 26 ist aber die Bedeutung des Wortes eine andre, abgeleitete, da bezeichnet es die Zeit, während der die Reichstagsabgeordneten sich in diesem Zustande befinden, die Zeit, während der der Reichstag „tagt," versammelt ist. Sitzung ist gleich Tagung. Was bedeutet aber das Wort Tagung, was bedeuten die Worte Reichstag, Landtag? Der Zusammenhang zwischen Volksvertretung und Sonnenlicht ist ans den ersten Blick dunkel, man möchte zuweilen an die Ableitung tuon» -r um lueemllv denken, insofern mitunter lange Zeit vergeht, bis es in den Köpfen mancher Volksvertreter tagt, hell wird. Der Landtag ist der Tag, an dem die Landsgemeinde zusammenkommt, sich versammelt, um ihre Angelegenheiten zu beraten, daraus abgeleitet: die Versammlung der Landsgemeinde. Mit der Beratung ihrer Angelegenheiten mochte sie wohl ursprünglich an einem Tage fertig werden, wie heute uoch die Appenzeller; je verwickelter aber die Verhältnisse wurden, um so weniger reichte die Zeit von einem Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenuntergang hin, die Beratung dehnte sich also auf mehrere Tage ans, ein einziger Land- Tag dauert nun viel länger als der lange Tag der Juden, er umfaßt Wochen und Monate, der ganze Zeitraum, die Vielheit der Tage gilt zufolge staats¬ rechtlicher Fiktion als ein Tag. Tagung, Sitzung, Session ist also der Zeit¬ raum, während dessen der Reichstag versammelt ist oder kraft des Gesetzes als versammelt gilt. Wie verhält sich nnn dieser Zeitraum zur „Legislaturperiode"? Die Autwort aus diese Frage giebt der Artikel 13 der Reichsverfassung: „Die Be¬ rufung des Reichstags findet alljährlich statt." Mit jeder Berufung beginnt eine neue Tagung, die Legislaturperiode umfaßt mehrere Tagungen oder Sessionen. Wie viele? „Alljährlich" kann bedeuten: jedes Jahr, aber auch: des Jahres (nur) einmal. In Artikel 13 hat das Wort nicht die zweite Be¬ deutung, wie sich aus Artikel 14 ergiebt; der Bundesrat wird nach Artikel 13 gerade so wie der Reichstag „alljährlich" berufen, seine Berufung muß aber nach Artikel 14 (außerdem) stets erfolgen, sobald sie von einem Drittel der Stimmenzahl verlangt wird, also anch dann, wenn in dem betreffenden Jahre die „alljährliche" Berufung schon stattgefunden hat. Alljährlich kann demnach nicht bedeuten: „des Jahres (nur) einmal," sondern muß bedeuten: „des Jahres mindestens einmal." Ob die Berufung einmal oder mehreremal im Jahre stattfindet, das richtet sich nach dem Bedürfnis. Damit kommen wir auf den Zweck zunächst des Artikels 13.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/346>, abgerufen am 26.06.2024.