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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Streifzuge durch die französische Litteratur der Gegenwart

thatenlos dastehen, weil sie dafür die richtige Form und den natürlichen Aus¬
druck nicht zu finden vermögen. Eine solche Stauung und Ermattung war
besonders am Schluß des sechzehnten und am Anfang des siebzehnten Jahr¬
hunderts erfolgt, wo der kirchenfeindliche und schlüpfrige Thoophile de Viau
seine Schelmenlieder schrieb, die ihn ins Gefängnis brachten; wo der geniale
Cyrano Vergerae mit seinen haarscharfen Pointen gegen die überlieferte
Dichterei zu Felde zog; wo der liederliche sunt-Amand seine lärmenden Zech¬
lieder verfaßte, und der urwüchsige Mathuriu Rognier die derbe Sprache des
Volkes in die überfeinerte Poesie hineinzuschmuggeln versuchte. In diesen allen
steckt etwas von dem unverwüstlichen Geiste eines Franoois Viktor.

Richepin hat die Erbschaft dieser litterarischen Landstreicher angetreten,
denn er feiert Viktor als den roi 6os xoötos su guomllö8, er nennt in seinen
Li^plrömos den "feinen" Thvophile und den "guten, dicken" Saint-Amcint
seine Führer durch die Schenken und Lasterhöhlen und stimmt Thvophiles
Schmähungen auf Rom von neuem an. Auch das Schicksal, das die LlMirsmi
Ä68 (Z-usux über Richepin gebracht hat, seine Verurteilung zu dreißig Tagen
Gefängnis, zeigt viel Ähnlichkeit mit den trüben Erfahrungen jener Kraftgeister
im siebzehnten Jahrhundert. L!o livro ost von soulsmoirt rür mauvais livro,
Mais Moors rav nmuvgi8ö aotion! Mit diesem kritischen Urteilsspruch wurde
über Nichepins Vettlerlieder der Stab gebrochen, obwohl von rudern
Schlimmeres und später von ihm selbst viel ärgere Dinge veröffentlicht worden
sind. In dieser Beziehung hatte er dasselbe Los wie Baudelaire, mis dieser
seine I'Iours ein Ast geschrieben hatte, und wie Flaubert, als sein Roman
Ug.ela.iuo Lovar^ erschienen war.

Man hat Richepins LImnson. ckos (^uoux als einen höhnischen Angriff auf
unsre gesellschaftlichen Verhältnisse und staatlichen Gesetze bezeichnet, als eine
Apotheose des Vagabuudentums mit all seiner Roheit und Versunkenheit, mit
allen seinen Gebrechen und Lastern; doch scheint es uns, als zeigte er in diesen
Gedichten gar nicht die Absicht, für die Not und das Elend der Enterbten
irgendwie Stimmung zu machen, wie etwa Victor Hugo mit seinen UilsorMos,
oder gar die Massen zu revolutionärer Selbsthilfe darin aufzureizen. Es siud
sast alles bloße Studien, kleine Genrebilder nach Art der Holländer, oder auch
nur schelmische Versspielereien, worin er den Ton und die Sprache eines
Viktor, eines Marot oder Rabelais nachzuahmen sucht. Daher braucht man
seinen Worten auch nicht vollen Glauben zu schenken, wenn er in der Vorrede
zu seinen Bettlerliedern sagt: "Ich liebe meine Helden, meine armen Strolche,
die nach jeder Richtung hin beklagenswert sind, denn nicht nur ihr Gewand,
auch ihr Gewissen ist zerlumpt. Ich liebe sie nicht deswegen, sondern weil
ich meine Blicke auf ihr Elend gerichtet habe, weil ich meinen Finger in ihre
Wunden gelegt, ihre Thränen von ihren schmutzigen Bärten gesogen (man
denke!), von ihrem sauern Brote gegessen, von ihrem bernuschendeu Fuselweiu


Streifzuge durch die französische Litteratur der Gegenwart

thatenlos dastehen, weil sie dafür die richtige Form und den natürlichen Aus¬
druck nicht zu finden vermögen. Eine solche Stauung und Ermattung war
besonders am Schluß des sechzehnten und am Anfang des siebzehnten Jahr¬
hunderts erfolgt, wo der kirchenfeindliche und schlüpfrige Thoophile de Viau
seine Schelmenlieder schrieb, die ihn ins Gefängnis brachten; wo der geniale
Cyrano Vergerae mit seinen haarscharfen Pointen gegen die überlieferte
Dichterei zu Felde zog; wo der liederliche sunt-Amand seine lärmenden Zech¬
lieder verfaßte, und der urwüchsige Mathuriu Rognier die derbe Sprache des
Volkes in die überfeinerte Poesie hineinzuschmuggeln versuchte. In diesen allen
steckt etwas von dem unverwüstlichen Geiste eines Franoois Viktor.

Richepin hat die Erbschaft dieser litterarischen Landstreicher angetreten,
denn er feiert Viktor als den roi 6os xoötos su guomllö8, er nennt in seinen
Li^plrömos den „feinen" Thvophile und den „guten, dicken" Saint-Amcint
seine Führer durch die Schenken und Lasterhöhlen und stimmt Thvophiles
Schmähungen auf Rom von neuem an. Auch das Schicksal, das die LlMirsmi
Ä68 (Z-usux über Richepin gebracht hat, seine Verurteilung zu dreißig Tagen
Gefängnis, zeigt viel Ähnlichkeit mit den trüben Erfahrungen jener Kraftgeister
im siebzehnten Jahrhundert. L!o livro ost von soulsmoirt rür mauvais livro,
Mais Moors rav nmuvgi8ö aotion! Mit diesem kritischen Urteilsspruch wurde
über Nichepins Vettlerlieder der Stab gebrochen, obwohl von rudern
Schlimmeres und später von ihm selbst viel ärgere Dinge veröffentlicht worden
sind. In dieser Beziehung hatte er dasselbe Los wie Baudelaire, mis dieser
seine I'Iours ein Ast geschrieben hatte, und wie Flaubert, als sein Roman
Ug.ela.iuo Lovar^ erschienen war.

Man hat Richepins LImnson. ckos (^uoux als einen höhnischen Angriff auf
unsre gesellschaftlichen Verhältnisse und staatlichen Gesetze bezeichnet, als eine
Apotheose des Vagabuudentums mit all seiner Roheit und Versunkenheit, mit
allen seinen Gebrechen und Lastern; doch scheint es uns, als zeigte er in diesen
Gedichten gar nicht die Absicht, für die Not und das Elend der Enterbten
irgendwie Stimmung zu machen, wie etwa Victor Hugo mit seinen UilsorMos,
oder gar die Massen zu revolutionärer Selbsthilfe darin aufzureizen. Es siud
sast alles bloße Studien, kleine Genrebilder nach Art der Holländer, oder auch
nur schelmische Versspielereien, worin er den Ton und die Sprache eines
Viktor, eines Marot oder Rabelais nachzuahmen sucht. Daher braucht man
seinen Worten auch nicht vollen Glauben zu schenken, wenn er in der Vorrede
zu seinen Bettlerliedern sagt: „Ich liebe meine Helden, meine armen Strolche,
die nach jeder Richtung hin beklagenswert sind, denn nicht nur ihr Gewand,
auch ihr Gewissen ist zerlumpt. Ich liebe sie nicht deswegen, sondern weil
ich meine Blicke auf ihr Elend gerichtet habe, weil ich meinen Finger in ihre
Wunden gelegt, ihre Thränen von ihren schmutzigen Bärten gesogen (man
denke!), von ihrem sauern Brote gegessen, von ihrem bernuschendeu Fuselweiu


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[0279] Streifzuge durch die französische Litteratur der Gegenwart thatenlos dastehen, weil sie dafür die richtige Form und den natürlichen Aus¬ druck nicht zu finden vermögen. Eine solche Stauung und Ermattung war besonders am Schluß des sechzehnten und am Anfang des siebzehnten Jahr¬ hunderts erfolgt, wo der kirchenfeindliche und schlüpfrige Thoophile de Viau seine Schelmenlieder schrieb, die ihn ins Gefängnis brachten; wo der geniale Cyrano Vergerae mit seinen haarscharfen Pointen gegen die überlieferte Dichterei zu Felde zog; wo der liederliche sunt-Amand seine lärmenden Zech¬ lieder verfaßte, und der urwüchsige Mathuriu Rognier die derbe Sprache des Volkes in die überfeinerte Poesie hineinzuschmuggeln versuchte. In diesen allen steckt etwas von dem unverwüstlichen Geiste eines Franoois Viktor. Richepin hat die Erbschaft dieser litterarischen Landstreicher angetreten, denn er feiert Viktor als den roi 6os xoötos su guomllö8, er nennt in seinen Li^plrömos den „feinen" Thvophile und den „guten, dicken" Saint-Amcint seine Führer durch die Schenken und Lasterhöhlen und stimmt Thvophiles Schmähungen auf Rom von neuem an. Auch das Schicksal, das die LlMirsmi Ä68 (Z-usux über Richepin gebracht hat, seine Verurteilung zu dreißig Tagen Gefängnis, zeigt viel Ähnlichkeit mit den trüben Erfahrungen jener Kraftgeister im siebzehnten Jahrhundert. L!o livro ost von soulsmoirt rür mauvais livro, Mais Moors rav nmuvgi8ö aotion! Mit diesem kritischen Urteilsspruch wurde über Nichepins Vettlerlieder der Stab gebrochen, obwohl von rudern Schlimmeres und später von ihm selbst viel ärgere Dinge veröffentlicht worden sind. In dieser Beziehung hatte er dasselbe Los wie Baudelaire, mis dieser seine I'Iours ein Ast geschrieben hatte, und wie Flaubert, als sein Roman Ug.ela.iuo Lovar^ erschienen war. Man hat Richepins LImnson. ckos (^uoux als einen höhnischen Angriff auf unsre gesellschaftlichen Verhältnisse und staatlichen Gesetze bezeichnet, als eine Apotheose des Vagabuudentums mit all seiner Roheit und Versunkenheit, mit allen seinen Gebrechen und Lastern; doch scheint es uns, als zeigte er in diesen Gedichten gar nicht die Absicht, für die Not und das Elend der Enterbten irgendwie Stimmung zu machen, wie etwa Victor Hugo mit seinen UilsorMos, oder gar die Massen zu revolutionärer Selbsthilfe darin aufzureizen. Es siud sast alles bloße Studien, kleine Genrebilder nach Art der Holländer, oder auch nur schelmische Versspielereien, worin er den Ton und die Sprache eines Viktor, eines Marot oder Rabelais nachzuahmen sucht. Daher braucht man seinen Worten auch nicht vollen Glauben zu schenken, wenn er in der Vorrede zu seinen Bettlerliedern sagt: „Ich liebe meine Helden, meine armen Strolche, die nach jeder Richtung hin beklagenswert sind, denn nicht nur ihr Gewand, auch ihr Gewissen ist zerlumpt. Ich liebe sie nicht deswegen, sondern weil ich meine Blicke auf ihr Elend gerichtet habe, weil ich meinen Finger in ihre Wunden gelegt, ihre Thränen von ihren schmutzigen Bärten gesogen (man denke!), von ihrem sauern Brote gegessen, von ihrem bernuschendeu Fuselweiu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/279>, abgerufen am 23.07.2024.