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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

ins Burleske überschlagen, die trotzige Verbissenheit und oft lächerliche Wut
gegen alle menschlichen Ideale brauchen noch keine Merkmale einer in Auf¬
lösung geratenen Zeit zu sein. Wir finden zu allen Zeiten diese Ausbrüche
brutaler Sinnlichkeit, diese verzweifelten Versuche, alles Göttliche und Mensch¬
liche in den Staub herunter zu reißen und Front zu machen gegen eine tiber¬
mäßige Verfeinerung unsrer gesellschaftlichen Gewohnheiten, das litterarische
Zigeunertum, worin sich viele Züge des alten gallischen Volksgeistes unver¬
fälscht erhalten haben, ist in der französischen Litteratur niemals ausgestorben,
auch heutzutage nicht, das beweist uns gerade Jean Nichepw. Er behauptet
zwar in seinen Blasphemien, er sei weder Lateiner noch Gallier, er gehöre
überhaupt nicht zu der arischen Nasse, denn er stamme von dem Nomaden-
Volke der Turanen ab, denen er an Körperban, Hautfarbe und Angenbildung
gleiche; von ihnen habe er das unruhige Blut geerbt, den ungläubigen Sinn,
den unbändigen Freiheitsdrang, l/horreur as se es soll alö. UiZlmt.
Aber diese hochtrabende Begeisterung für seine uralisch-altaischen Borfahren ist
nicht ernst zu nehmen. Im Grunde bleibt Nichepin doch ein echter Gaulvis,
dessen urwüchsige Natur nnter der Hülle des modernen Franzosen und klassisch
gebildeten Mannes immer wieder hervorbricht.

Er giebt es selbst zu, wenn er in seinem ersten Werke: I^a, olmrison clss
Oucmx sein Vorbild, Fran^vis Viktor, in einer Ballade besingt, den genialsten
und liederlichsten Poeten des fünfzehnten Jahrhunderts, der sich bekanntlich nur
durch seine Verse vom Galgen loskaufte:


Viktor, du Dichterkönig, ganz in Lumpen,
Du Meister und du Bettler, stolz und roh!
Du Mcidchcujäger, Grübler vor dem Humpen,
O Spielmann lockrer Weisen frisch und froh.
Du großer Träumer auf dem Sack voll Stroh --
Ja, deine Schelmeulieder schwinden nie,
Wie seliges Feuer sprühu sie lichterloh,
Du Lump, du schürt, du Spitzbub -- du Genie!

Insofern mit Nichepin jene bald matter, bald kräftiger pulsirende Ilnter-
strömung des altfranzösischen Volksgeistes auch gegenwärtig wieder an die
Oberfläche hervorbricht und sich unter die andern litterarischen Richtungen
mischt, ist gerade dieser Dichter für den Literarhistoriker eine äußerst inter¬
essante Persönlichkeit. Schon Lotheißen hat in seiner Geschichte der französischen
Litteratur im siebzehnten Jahrhundert ans die bemerkenswerte Thatsache hin¬
gewiesen, daß dieser Durchbruch des ursprünglichen Volksgeistes gewöhnlich
einzutreten Pflegt, wenn verschiedne Strömungen im litterarischen Leben auf
einander stoßen, das Urteil und deu Geschmack verwirren und eine ruhige
Abklärung unmöglich machen; oder wenn nach erbitterten Kämpfen eine Stag¬
nation eintritt, worin die Geister den neu anstürmenden Ideen gegenüber


Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart

ins Burleske überschlagen, die trotzige Verbissenheit und oft lächerliche Wut
gegen alle menschlichen Ideale brauchen noch keine Merkmale einer in Auf¬
lösung geratenen Zeit zu sein. Wir finden zu allen Zeiten diese Ausbrüche
brutaler Sinnlichkeit, diese verzweifelten Versuche, alles Göttliche und Mensch¬
liche in den Staub herunter zu reißen und Front zu machen gegen eine tiber¬
mäßige Verfeinerung unsrer gesellschaftlichen Gewohnheiten, das litterarische
Zigeunertum, worin sich viele Züge des alten gallischen Volksgeistes unver¬
fälscht erhalten haben, ist in der französischen Litteratur niemals ausgestorben,
auch heutzutage nicht, das beweist uns gerade Jean Nichepw. Er behauptet
zwar in seinen Blasphemien, er sei weder Lateiner noch Gallier, er gehöre
überhaupt nicht zu der arischen Nasse, denn er stamme von dem Nomaden-
Volke der Turanen ab, denen er an Körperban, Hautfarbe und Angenbildung
gleiche; von ihnen habe er das unruhige Blut geerbt, den ungläubigen Sinn,
den unbändigen Freiheitsdrang, l/horreur as se es soll alö. UiZlmt.
Aber diese hochtrabende Begeisterung für seine uralisch-altaischen Borfahren ist
nicht ernst zu nehmen. Im Grunde bleibt Nichepin doch ein echter Gaulvis,
dessen urwüchsige Natur nnter der Hülle des modernen Franzosen und klassisch
gebildeten Mannes immer wieder hervorbricht.

Er giebt es selbst zu, wenn er in seinem ersten Werke: I^a, olmrison clss
Oucmx sein Vorbild, Fran^vis Viktor, in einer Ballade besingt, den genialsten
und liederlichsten Poeten des fünfzehnten Jahrhunderts, der sich bekanntlich nur
durch seine Verse vom Galgen loskaufte:


Viktor, du Dichterkönig, ganz in Lumpen,
Du Meister und du Bettler, stolz und roh!
Du Mcidchcujäger, Grübler vor dem Humpen,
O Spielmann lockrer Weisen frisch und froh.
Du großer Träumer auf dem Sack voll Stroh —
Ja, deine Schelmeulieder schwinden nie,
Wie seliges Feuer sprühu sie lichterloh,
Du Lump, du schürt, du Spitzbub — du Genie!

Insofern mit Nichepin jene bald matter, bald kräftiger pulsirende Ilnter-
strömung des altfranzösischen Volksgeistes auch gegenwärtig wieder an die
Oberfläche hervorbricht und sich unter die andern litterarischen Richtungen
mischt, ist gerade dieser Dichter für den Literarhistoriker eine äußerst inter¬
essante Persönlichkeit. Schon Lotheißen hat in seiner Geschichte der französischen
Litteratur im siebzehnten Jahrhundert ans die bemerkenswerte Thatsache hin¬
gewiesen, daß dieser Durchbruch des ursprünglichen Volksgeistes gewöhnlich
einzutreten Pflegt, wenn verschiedne Strömungen im litterarischen Leben auf
einander stoßen, das Urteil und deu Geschmack verwirren und eine ruhige
Abklärung unmöglich machen; oder wenn nach erbitterten Kämpfen eine Stag¬
nation eintritt, worin die Geister den neu anstürmenden Ideen gegenüber


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[0278] Streifziige durch die französische Litteratur der Gegenwart ins Burleske überschlagen, die trotzige Verbissenheit und oft lächerliche Wut gegen alle menschlichen Ideale brauchen noch keine Merkmale einer in Auf¬ lösung geratenen Zeit zu sein. Wir finden zu allen Zeiten diese Ausbrüche brutaler Sinnlichkeit, diese verzweifelten Versuche, alles Göttliche und Mensch¬ liche in den Staub herunter zu reißen und Front zu machen gegen eine tiber¬ mäßige Verfeinerung unsrer gesellschaftlichen Gewohnheiten, das litterarische Zigeunertum, worin sich viele Züge des alten gallischen Volksgeistes unver¬ fälscht erhalten haben, ist in der französischen Litteratur niemals ausgestorben, auch heutzutage nicht, das beweist uns gerade Jean Nichepw. Er behauptet zwar in seinen Blasphemien, er sei weder Lateiner noch Gallier, er gehöre überhaupt nicht zu der arischen Nasse, denn er stamme von dem Nomaden- Volke der Turanen ab, denen er an Körperban, Hautfarbe und Angenbildung gleiche; von ihnen habe er das unruhige Blut geerbt, den ungläubigen Sinn, den unbändigen Freiheitsdrang, l/horreur as se es soll alö. UiZlmt. Aber diese hochtrabende Begeisterung für seine uralisch-altaischen Borfahren ist nicht ernst zu nehmen. Im Grunde bleibt Nichepin doch ein echter Gaulvis, dessen urwüchsige Natur nnter der Hülle des modernen Franzosen und klassisch gebildeten Mannes immer wieder hervorbricht. Er giebt es selbst zu, wenn er in seinem ersten Werke: I^a, olmrison clss Oucmx sein Vorbild, Fran^vis Viktor, in einer Ballade besingt, den genialsten und liederlichsten Poeten des fünfzehnten Jahrhunderts, der sich bekanntlich nur durch seine Verse vom Galgen loskaufte: Viktor, du Dichterkönig, ganz in Lumpen, Du Meister und du Bettler, stolz und roh! Du Mcidchcujäger, Grübler vor dem Humpen, O Spielmann lockrer Weisen frisch und froh. Du großer Träumer auf dem Sack voll Stroh — Ja, deine Schelmeulieder schwinden nie, Wie seliges Feuer sprühu sie lichterloh, Du Lump, du schürt, du Spitzbub — du Genie! Insofern mit Nichepin jene bald matter, bald kräftiger pulsirende Ilnter- strömung des altfranzösischen Volksgeistes auch gegenwärtig wieder an die Oberfläche hervorbricht und sich unter die andern litterarischen Richtungen mischt, ist gerade dieser Dichter für den Literarhistoriker eine äußerst inter¬ essante Persönlichkeit. Schon Lotheißen hat in seiner Geschichte der französischen Litteratur im siebzehnten Jahrhundert ans die bemerkenswerte Thatsache hin¬ gewiesen, daß dieser Durchbruch des ursprünglichen Volksgeistes gewöhnlich einzutreten Pflegt, wenn verschiedne Strömungen im litterarischen Leben auf einander stoßen, das Urteil und deu Geschmack verwirren und eine ruhige Abklärung unmöglich machen; oder wenn nach erbitterten Kämpfen eine Stag¬ nation eintritt, worin die Geister den neu anstürmenden Ideen gegenüber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/278>, abgerufen am 23.07.2024.