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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Wie wahr ist es, wem? Lessing in uns allen die Anlage zum Gespensterglauben
anerkennt (Hamburgische Dramaturgie, Stück 11)! In der unsichtbaren Welt, die
uns umgiebt, trennt uur eine dünne Schicht den Sinn und den Wahnsinn.
Die dämonische Tiefe der Seele in ihrer Vielförmigkeit ist eine Thatsache, die,
rein für sich betrachtet, uns zweifelhaft macht, ob die menschliche Kultur so
ganz über den Wahn siegen wird.

Wenn wir uun aber gar noch äußere Hilfsmächte dieses Wahns entdecken,
so muß uns noch bänglicher zu Mute werden. Eine solche Hilfe sehen wir
unstreitig wirksam in der katholischen Hierarchie, von der man die Personen,
die ihr angehören, billig trennt. Wenn man fragt, wodurch sich schon bisher
im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert der moderne Geist in England,
Frankreich und Deutschland der alten Denkungsart zu entziehen gesucht hat,
so ist es doch die Gewöhnung, alle Dinge und Erscheinungen mich ihren?
Grund und Recht zu fragen, überall zu zweifeln, Beweise zu fordern, selbst
angebliche Thatsachen nicht eher erklären zu wollen, als bis sie als Thatsachen
erwiesen worden sind. Der Gipfel war sodann, daß die Skepsis bei gewissen
Erscheinungen erklärte: Die Sache ist für uns unerklärlich; wir müssen schweigen
und warten, unser Urteil aufschieben. Welch ein langer Weg von dein Zu¬
stande des richtigen Kindes, das seine" Sinnen unbedingt vertraut und es
sehr schön findet, wenn sich nach den Erzählungen der Mutter Jungfrauen in
Rehe verwandeln und umgekehrt, durch den Zustand des Halbgebildeten hin¬
durch, der für außerordentliche Erscheinungen sofort einen absurden Erklärungs¬
versuch bei der Hand hat, bis zu der Zurückhaltung eines Faradah, durch
dessen Erklärung, die und die Erscheinung lasse sich bis jetzt nicht verstehen,
einige Dutzend Laien beschämt veranlaßt wurden, ihre Hypothesen zurück¬
zunehmen !

Wird dieser Prozeß in einem Volke nicht gehemmt, so sind wir vom
Standpunkte der Kultur befriedigt. Aber dieser Prozeß hat seine Gefahren,
wie es scheint. Zunächst scheint er das Individuelle zu sehr zu betonen, denn
nur der Einzelne hat ein kritisches Gewissen. Aber die Sache ist nicht so
schlimm. Im Gegenteil drückt die Gemeinschaft mit dem, was sie denkt und
will, so stark auf den Einzelnen, und dieser selbst hat ein solches Bedürfnis,
mit seinen Ansichten nicht allein zu stehen, daß wir im Interesse der Freiheit
in Übereinstimmung mit I. Se. Mill wünschen müssen, diesen Druck der Masse
durch Stärkung des Individuellen etwas zu vermindern. Dies Interesse kauu
nur die Hierarchie nicht haben. Sie kann, als im Besitze der ganzen Wahr¬
heit stehend, die kritische Forschung nur innerhalb der schon gesetzten Grenzen
dulden. Schon Tertullian verachtet darum die Philosophen, weil sie noch
suchen, wo die Kirche längst gefunden hat; und da die Kirche alles umfaßt,
Himmel und Erde, Natur und Übernatürliches, Profanes und Heiliges, so
hat sie anch noch einen zweiten Übelstand der kritischen Gesinnung und Ge-


Wie wahr ist es, wem? Lessing in uns allen die Anlage zum Gespensterglauben
anerkennt (Hamburgische Dramaturgie, Stück 11)! In der unsichtbaren Welt, die
uns umgiebt, trennt uur eine dünne Schicht den Sinn und den Wahnsinn.
Die dämonische Tiefe der Seele in ihrer Vielförmigkeit ist eine Thatsache, die,
rein für sich betrachtet, uns zweifelhaft macht, ob die menschliche Kultur so
ganz über den Wahn siegen wird.

Wenn wir uun aber gar noch äußere Hilfsmächte dieses Wahns entdecken,
so muß uns noch bänglicher zu Mute werden. Eine solche Hilfe sehen wir
unstreitig wirksam in der katholischen Hierarchie, von der man die Personen,
die ihr angehören, billig trennt. Wenn man fragt, wodurch sich schon bisher
im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert der moderne Geist in England,
Frankreich und Deutschland der alten Denkungsart zu entziehen gesucht hat,
so ist es doch die Gewöhnung, alle Dinge und Erscheinungen mich ihren?
Grund und Recht zu fragen, überall zu zweifeln, Beweise zu fordern, selbst
angebliche Thatsachen nicht eher erklären zu wollen, als bis sie als Thatsachen
erwiesen worden sind. Der Gipfel war sodann, daß die Skepsis bei gewissen
Erscheinungen erklärte: Die Sache ist für uns unerklärlich; wir müssen schweigen
und warten, unser Urteil aufschieben. Welch ein langer Weg von dein Zu¬
stande des richtigen Kindes, das seine» Sinnen unbedingt vertraut und es
sehr schön findet, wenn sich nach den Erzählungen der Mutter Jungfrauen in
Rehe verwandeln und umgekehrt, durch den Zustand des Halbgebildeten hin¬
durch, der für außerordentliche Erscheinungen sofort einen absurden Erklärungs¬
versuch bei der Hand hat, bis zu der Zurückhaltung eines Faradah, durch
dessen Erklärung, die und die Erscheinung lasse sich bis jetzt nicht verstehen,
einige Dutzend Laien beschämt veranlaßt wurden, ihre Hypothesen zurück¬
zunehmen !

Wird dieser Prozeß in einem Volke nicht gehemmt, so sind wir vom
Standpunkte der Kultur befriedigt. Aber dieser Prozeß hat seine Gefahren,
wie es scheint. Zunächst scheint er das Individuelle zu sehr zu betonen, denn
nur der Einzelne hat ein kritisches Gewissen. Aber die Sache ist nicht so
schlimm. Im Gegenteil drückt die Gemeinschaft mit dem, was sie denkt und
will, so stark auf den Einzelnen, und dieser selbst hat ein solches Bedürfnis,
mit seinen Ansichten nicht allein zu stehen, daß wir im Interesse der Freiheit
in Übereinstimmung mit I. Se. Mill wünschen müssen, diesen Druck der Masse
durch Stärkung des Individuellen etwas zu vermindern. Dies Interesse kauu
nur die Hierarchie nicht haben. Sie kann, als im Besitze der ganzen Wahr¬
heit stehend, die kritische Forschung nur innerhalb der schon gesetzten Grenzen
dulden. Schon Tertullian verachtet darum die Philosophen, weil sie noch
suchen, wo die Kirche längst gefunden hat; und da die Kirche alles umfaßt,
Himmel und Erde, Natur und Übernatürliches, Profanes und Heiliges, so
hat sie anch noch einen zweiten Übelstand der kritischen Gesinnung und Ge-


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[0258] Wie wahr ist es, wem? Lessing in uns allen die Anlage zum Gespensterglauben anerkennt (Hamburgische Dramaturgie, Stück 11)! In der unsichtbaren Welt, die uns umgiebt, trennt uur eine dünne Schicht den Sinn und den Wahnsinn. Die dämonische Tiefe der Seele in ihrer Vielförmigkeit ist eine Thatsache, die, rein für sich betrachtet, uns zweifelhaft macht, ob die menschliche Kultur so ganz über den Wahn siegen wird. Wenn wir uun aber gar noch äußere Hilfsmächte dieses Wahns entdecken, so muß uns noch bänglicher zu Mute werden. Eine solche Hilfe sehen wir unstreitig wirksam in der katholischen Hierarchie, von der man die Personen, die ihr angehören, billig trennt. Wenn man fragt, wodurch sich schon bisher im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert der moderne Geist in England, Frankreich und Deutschland der alten Denkungsart zu entziehen gesucht hat, so ist es doch die Gewöhnung, alle Dinge und Erscheinungen mich ihren? Grund und Recht zu fragen, überall zu zweifeln, Beweise zu fordern, selbst angebliche Thatsachen nicht eher erklären zu wollen, als bis sie als Thatsachen erwiesen worden sind. Der Gipfel war sodann, daß die Skepsis bei gewissen Erscheinungen erklärte: Die Sache ist für uns unerklärlich; wir müssen schweigen und warten, unser Urteil aufschieben. Welch ein langer Weg von dein Zu¬ stande des richtigen Kindes, das seine» Sinnen unbedingt vertraut und es sehr schön findet, wenn sich nach den Erzählungen der Mutter Jungfrauen in Rehe verwandeln und umgekehrt, durch den Zustand des Halbgebildeten hin¬ durch, der für außerordentliche Erscheinungen sofort einen absurden Erklärungs¬ versuch bei der Hand hat, bis zu der Zurückhaltung eines Faradah, durch dessen Erklärung, die und die Erscheinung lasse sich bis jetzt nicht verstehen, einige Dutzend Laien beschämt veranlaßt wurden, ihre Hypothesen zurück¬ zunehmen ! Wird dieser Prozeß in einem Volke nicht gehemmt, so sind wir vom Standpunkte der Kultur befriedigt. Aber dieser Prozeß hat seine Gefahren, wie es scheint. Zunächst scheint er das Individuelle zu sehr zu betonen, denn nur der Einzelne hat ein kritisches Gewissen. Aber die Sache ist nicht so schlimm. Im Gegenteil drückt die Gemeinschaft mit dem, was sie denkt und will, so stark auf den Einzelnen, und dieser selbst hat ein solches Bedürfnis, mit seinen Ansichten nicht allein zu stehen, daß wir im Interesse der Freiheit in Übereinstimmung mit I. Se. Mill wünschen müssen, diesen Druck der Masse durch Stärkung des Individuellen etwas zu vermindern. Dies Interesse kauu nur die Hierarchie nicht haben. Sie kann, als im Besitze der ganzen Wahr¬ heit stehend, die kritische Forschung nur innerhalb der schon gesetzten Grenzen dulden. Schon Tertullian verachtet darum die Philosophen, weil sie noch suchen, wo die Kirche längst gefunden hat; und da die Kirche alles umfaßt, Himmel und Erde, Natur und Übernatürliches, Profanes und Heiliges, so hat sie anch noch einen zweiten Übelstand der kritischen Gesinnung und Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/258>, abgerufen am 23.07.2024.