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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Das Dunkel der Zukunft

öffentlich beobachteten und geforderten Dvgmcnbildung nus irgend einer Ecke
ein Einfall träte, wie im Mvrmonentnm ein von Himmel gekommenes Büchlein
von Joe Smith und ähnliches. Also ein Spielraum für die vorausdrängende
Phantasie muß als ein Ventil für uns angesehen werden. Weit kommen wir
doch nicht dabei.

Wenn wir die allgemeine Kulturgeschichte unsrer Völkergruppe eine Zeit¬
lang wirklich studirt haben, so ist die Frage nach dem weitern Verlauf unsrer
geistigen und sittlichen Bildung nicht mehr so einfach, wie sie uns in der
Jugend vorkommt. Wir sind in der Jugend so ziemlich alle geneigt, zu be¬
wundern, ,,wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht." Wir sind über¬
zeugt, daß es mit Hilfe der fortschreitenden Naturbewältigung gelingen müsse,
auch die allgemeine "Aufklärung" in den nächsten Zeiten vor jedem Rückfalle
zu sichern und zugleich immer mehr Einzelne und Klassen an dem Genuß
eines menschenwürdigen Dnseins teilnehmen zu lassen. Es geht uns nur zu
langsam, wir möchten in unsrer cholerischen Stimmung den Fortschritt be¬
schleunigen und hören es uicht gern, wenn uns der Manchestermann auf die
hundert Jahre vertröstet, die nach "sozialen" Naturgesetzen noch bis zu der
erwünschten Hebung des vierten Standes verfließen müssen. Vielleicht daß
wir am Ende unsrer Erwägungen dem jugendliche" Standpunkt uus wieder
nähern; aber wie erschreckend ist zunächst die ruhige Anschauung der Wirklich¬
keit! Statt der Aufklärung sehen wir in den großen Massen, wo uicht der
Staat Gewalt übt, den breitesten Aberglauben und Aberwitz; in gewissen
Gegenden, nicht bloß in katholischen, beraubt der Dieb die Kirchhöfe, um aus
dem Fette von Menschenleichen die Lichter zu gewinnen, die ihn beim Dieb¬
stahl unsichtbar machen. Bei gefallenen Soldaten finden wir Medaillen und
heilige Briefe, die den Träger vor allen Kugeln schützen sollten. Schüler, die
das Examen bestanden haben, schreiben ihren glücklichen Erfolg dem Wasser
von Mtrö Diuuv ein; IlOuräW zu, in das sie ihre Federn getaucht haben. Es
ist unrichtig, in diesem Wahn nur Neste roher, überlieferter Vorstellungen zu
sehen; der selbstgemachte Aberglaube, der endlos in jedem Geschlecht neu ent¬
steht, ist um nichts besser, als der altüberlieferte. Welche vorhandnen seelischen
Widerstände hat also die Arbeit der Kultur fort und fort zu besiegen! Wie
traurig ist die psychologische Wahrheit, daß die menschliche Seele nicht die
Einheit und Folgerichtigkeit von vornherein hat, die wir im Geiste des Durch¬
gebildeten finden, daß der Mensch, dem in der einen Gruppe seiner Vorstel¬
lungen schon der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hell geworden ist,
der z. B. sät und pflügt, um zu ernten, in einer andern Gruppe den wüstesten
Aberglauben hegt. Wie würden sich Schillers Freunde, die am Aufang unsers
Jahrhunderts schon die Aufklärung herrschend fanden, wundern, zu hören,
daß in Toulouse noch vor dreißig Jahren nur durch die obrigkeitliche Gewalt
einige Menschen gerettet wurden, die als Hexen verbrannt werden sollten!


Grenzboteii I 1891 32
Das Dunkel der Zukunft

öffentlich beobachteten und geforderten Dvgmcnbildung nus irgend einer Ecke
ein Einfall träte, wie im Mvrmonentnm ein von Himmel gekommenes Büchlein
von Joe Smith und ähnliches. Also ein Spielraum für die vorausdrängende
Phantasie muß als ein Ventil für uns angesehen werden. Weit kommen wir
doch nicht dabei.

Wenn wir die allgemeine Kulturgeschichte unsrer Völkergruppe eine Zeit¬
lang wirklich studirt haben, so ist die Frage nach dem weitern Verlauf unsrer
geistigen und sittlichen Bildung nicht mehr so einfach, wie sie uns in der
Jugend vorkommt. Wir sind in der Jugend so ziemlich alle geneigt, zu be¬
wundern, ,,wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht." Wir sind über¬
zeugt, daß es mit Hilfe der fortschreitenden Naturbewältigung gelingen müsse,
auch die allgemeine „Aufklärung" in den nächsten Zeiten vor jedem Rückfalle
zu sichern und zugleich immer mehr Einzelne und Klassen an dem Genuß
eines menschenwürdigen Dnseins teilnehmen zu lassen. Es geht uns nur zu
langsam, wir möchten in unsrer cholerischen Stimmung den Fortschritt be¬
schleunigen und hören es uicht gern, wenn uns der Manchestermann auf die
hundert Jahre vertröstet, die nach „sozialen" Naturgesetzen noch bis zu der
erwünschten Hebung des vierten Standes verfließen müssen. Vielleicht daß
wir am Ende unsrer Erwägungen dem jugendliche» Standpunkt uus wieder
nähern; aber wie erschreckend ist zunächst die ruhige Anschauung der Wirklich¬
keit! Statt der Aufklärung sehen wir in den großen Massen, wo uicht der
Staat Gewalt übt, den breitesten Aberglauben und Aberwitz; in gewissen
Gegenden, nicht bloß in katholischen, beraubt der Dieb die Kirchhöfe, um aus
dem Fette von Menschenleichen die Lichter zu gewinnen, die ihn beim Dieb¬
stahl unsichtbar machen. Bei gefallenen Soldaten finden wir Medaillen und
heilige Briefe, die den Träger vor allen Kugeln schützen sollten. Schüler, die
das Examen bestanden haben, schreiben ihren glücklichen Erfolg dem Wasser
von Mtrö Diuuv ein; IlOuräW zu, in das sie ihre Federn getaucht haben. Es
ist unrichtig, in diesem Wahn nur Neste roher, überlieferter Vorstellungen zu
sehen; der selbstgemachte Aberglaube, der endlos in jedem Geschlecht neu ent¬
steht, ist um nichts besser, als der altüberlieferte. Welche vorhandnen seelischen
Widerstände hat also die Arbeit der Kultur fort und fort zu besiegen! Wie
traurig ist die psychologische Wahrheit, daß die menschliche Seele nicht die
Einheit und Folgerichtigkeit von vornherein hat, die wir im Geiste des Durch¬
gebildeten finden, daß der Mensch, dem in der einen Gruppe seiner Vorstel¬
lungen schon der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hell geworden ist,
der z. B. sät und pflügt, um zu ernten, in einer andern Gruppe den wüstesten
Aberglauben hegt. Wie würden sich Schillers Freunde, die am Aufang unsers
Jahrhunderts schon die Aufklärung herrschend fanden, wundern, zu hören,
daß in Toulouse noch vor dreißig Jahren nur durch die obrigkeitliche Gewalt
einige Menschen gerettet wurden, die als Hexen verbrannt werden sollten!


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[0257] Das Dunkel der Zukunft öffentlich beobachteten und geforderten Dvgmcnbildung nus irgend einer Ecke ein Einfall träte, wie im Mvrmonentnm ein von Himmel gekommenes Büchlein von Joe Smith und ähnliches. Also ein Spielraum für die vorausdrängende Phantasie muß als ein Ventil für uns angesehen werden. Weit kommen wir doch nicht dabei. Wenn wir die allgemeine Kulturgeschichte unsrer Völkergruppe eine Zeit¬ lang wirklich studirt haben, so ist die Frage nach dem weitern Verlauf unsrer geistigen und sittlichen Bildung nicht mehr so einfach, wie sie uns in der Jugend vorkommt. Wir sind in der Jugend so ziemlich alle geneigt, zu be¬ wundern, ,,wie wirs dann zuletzt so herrlich weit gebracht." Wir sind über¬ zeugt, daß es mit Hilfe der fortschreitenden Naturbewältigung gelingen müsse, auch die allgemeine „Aufklärung" in den nächsten Zeiten vor jedem Rückfalle zu sichern und zugleich immer mehr Einzelne und Klassen an dem Genuß eines menschenwürdigen Dnseins teilnehmen zu lassen. Es geht uns nur zu langsam, wir möchten in unsrer cholerischen Stimmung den Fortschritt be¬ schleunigen und hören es uicht gern, wenn uns der Manchestermann auf die hundert Jahre vertröstet, die nach „sozialen" Naturgesetzen noch bis zu der erwünschten Hebung des vierten Standes verfließen müssen. Vielleicht daß wir am Ende unsrer Erwägungen dem jugendliche» Standpunkt uus wieder nähern; aber wie erschreckend ist zunächst die ruhige Anschauung der Wirklich¬ keit! Statt der Aufklärung sehen wir in den großen Massen, wo uicht der Staat Gewalt übt, den breitesten Aberglauben und Aberwitz; in gewissen Gegenden, nicht bloß in katholischen, beraubt der Dieb die Kirchhöfe, um aus dem Fette von Menschenleichen die Lichter zu gewinnen, die ihn beim Dieb¬ stahl unsichtbar machen. Bei gefallenen Soldaten finden wir Medaillen und heilige Briefe, die den Träger vor allen Kugeln schützen sollten. Schüler, die das Examen bestanden haben, schreiben ihren glücklichen Erfolg dem Wasser von Mtrö Diuuv ein; IlOuräW zu, in das sie ihre Federn getaucht haben. Es ist unrichtig, in diesem Wahn nur Neste roher, überlieferter Vorstellungen zu sehen; der selbstgemachte Aberglaube, der endlos in jedem Geschlecht neu ent¬ steht, ist um nichts besser, als der altüberlieferte. Welche vorhandnen seelischen Widerstände hat also die Arbeit der Kultur fort und fort zu besiegen! Wie traurig ist die psychologische Wahrheit, daß die menschliche Seele nicht die Einheit und Folgerichtigkeit von vornherein hat, die wir im Geiste des Durch¬ gebildeten finden, daß der Mensch, dem in der einen Gruppe seiner Vorstel¬ lungen schon der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hell geworden ist, der z. B. sät und pflügt, um zu ernten, in einer andern Gruppe den wüstesten Aberglauben hegt. Wie würden sich Schillers Freunde, die am Aufang unsers Jahrhunderts schon die Aufklärung herrschend fanden, wundern, zu hören, daß in Toulouse noch vor dreißig Jahren nur durch die obrigkeitliche Gewalt einige Menschen gerettet wurden, die als Hexen verbrannt werden sollten! Grenzboteii I 1891 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/257>, abgerufen am 23.07.2024.