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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Amerikanische Philosophie

Für Philosophen dieser 'freilich auch bei uns heimischen amerikanischen
Art hat denn auch der Gedanke keine Schwierigkeit, daß der erhabenste
Menschengeist weiter nichts sei, als ein im Entwicklungsprozesse potenzirter
Atomgeist, Das Wort "Entwicklung" verrichtet alle Dienste, obwohl man be¬
kanntlich aus einem Papier- oder Zwirnknünel nichts herauswickeln kann, was
man nicht vorher hineingewickelt hat. Die Widerlegung durch die tägliche
Erfahrung stört die Herren nicht. Wie wenig äußere Einwirkung hilft, wo
die natürliche Anlage fehlt, das hat unser Volk längst in dem Sprichwort
ausgedrückt: "Es flog ein Gänschen übern Rhein und kam als Gigak wieder
heim." Woher aber die natürliche Anlage kommt, das eben ist das Geheimnis.
Ererbt ist sie, sagt Carus mit den Evolutionisten. Das ist nicht wahr, oder
doch nur zum Teil wahr. Genies find nicht lediglich das Produkt ihrer
Eltern. Große Komponisten stammen allerdings meistens aus Musikerfnmilien,
aber ihre Eingebungen lassen sich aus dem guten musikalischen Gehör und der
Spielfertigkeit ihrer Väter nicht erklären. Wir altmodischen Philosophen bleiben
bei der Ansicht, daß der größte Menschengeist das Geschöpf und Kunstwerk
eines noch größern Geistes sein müsse, wie denn überhaupt das Kunstwerk
stets kleiner, niemals größer als der Künstler ist.

Da es außer der platten Wirklichkeit dieser Welt überhaupt nichts giebt,
so giebt es natürlich auch keinen Gott. Der Glaube an Gott ist ein, wie
Carus großmütig zugesteht, achtuugswerter und für seine Zeit nützlicher Aber¬
glaube. Die Welt ist von Anfang an, durch sich selbst nud mit Notwendig¬
keit ein Kosmos, ein geordnetes Ganzes. Will man noch von Gott sprechen,
so kann man eben diese Eigenschaft der Welt, daß sie schön geordnet ist, oder,
damit es schöner klingt, "die sittliche Weltordnung" Gott nennen, obwohl die
Naturordnung und die sittliche Ordnung in eins zusammenfallen. Denn der
Sieg im Kampfe ums Dasein liefert eben den Beweis für die größere Mo¬
ralität des Siegers, sodaß also der reichste Mann des Jahrhunderts, Jah
Gould, wohl auch der sittlichste sein mag! Die "Neue Freie Presse" sagte ihm zwar
bei seinem letzten Börsenraubzuge nach, daß unter seinen ungezählten Millionen
keine einzige sei, an der nicht das Blut vernichteter Existenzen klebte. Aber
das thut ja wohl der Moralität keinen Eintrag, wenigstens wendet sich Carus
ganz entschieden gegen jene "Lammsmvralität," die der Christenheit nicht wenig
geschadet habe, an deren Empfehlung jedoch das Neue Testament keine Schuld
trage. Wir sind darin mit Carus vollständig einverstanden, daß schafsmäßige
Dummheit und Wehrlosigkeit zusammen noch kein Tugendideal ausmachen.
Aber wir Protestiren gegen seinen Versuch, die zwei Thatsachen zu verschleiern,
daß der sittlich gute Mensch, ohne eine Spur von Anlage zur Schafsnatur,
lediglich dnrch seine Grundsätze und seine Abneigung gegen das Schlechte dem
Gewissenlosen gegenüber oft wehrlos gemacht wird, und daß rücksichtslose Ge¬
waltthat in engern wie in weitern Kreisen oft auf lange hin siegreich bleibt.


Amerikanische Philosophie

Für Philosophen dieser 'freilich auch bei uns heimischen amerikanischen
Art hat denn auch der Gedanke keine Schwierigkeit, daß der erhabenste
Menschengeist weiter nichts sei, als ein im Entwicklungsprozesse potenzirter
Atomgeist, Das Wort „Entwicklung" verrichtet alle Dienste, obwohl man be¬
kanntlich aus einem Papier- oder Zwirnknünel nichts herauswickeln kann, was
man nicht vorher hineingewickelt hat. Die Widerlegung durch die tägliche
Erfahrung stört die Herren nicht. Wie wenig äußere Einwirkung hilft, wo
die natürliche Anlage fehlt, das hat unser Volk längst in dem Sprichwort
ausgedrückt: „Es flog ein Gänschen übern Rhein und kam als Gigak wieder
heim." Woher aber die natürliche Anlage kommt, das eben ist das Geheimnis.
Ererbt ist sie, sagt Carus mit den Evolutionisten. Das ist nicht wahr, oder
doch nur zum Teil wahr. Genies find nicht lediglich das Produkt ihrer
Eltern. Große Komponisten stammen allerdings meistens aus Musikerfnmilien,
aber ihre Eingebungen lassen sich aus dem guten musikalischen Gehör und der
Spielfertigkeit ihrer Väter nicht erklären. Wir altmodischen Philosophen bleiben
bei der Ansicht, daß der größte Menschengeist das Geschöpf und Kunstwerk
eines noch größern Geistes sein müsse, wie denn überhaupt das Kunstwerk
stets kleiner, niemals größer als der Künstler ist.

Da es außer der platten Wirklichkeit dieser Welt überhaupt nichts giebt,
so giebt es natürlich auch keinen Gott. Der Glaube an Gott ist ein, wie
Carus großmütig zugesteht, achtuugswerter und für seine Zeit nützlicher Aber¬
glaube. Die Welt ist von Anfang an, durch sich selbst nud mit Notwendig¬
keit ein Kosmos, ein geordnetes Ganzes. Will man noch von Gott sprechen,
so kann man eben diese Eigenschaft der Welt, daß sie schön geordnet ist, oder,
damit es schöner klingt, „die sittliche Weltordnung" Gott nennen, obwohl die
Naturordnung und die sittliche Ordnung in eins zusammenfallen. Denn der
Sieg im Kampfe ums Dasein liefert eben den Beweis für die größere Mo¬
ralität des Siegers, sodaß also der reichste Mann des Jahrhunderts, Jah
Gould, wohl auch der sittlichste sein mag! Die „Neue Freie Presse" sagte ihm zwar
bei seinem letzten Börsenraubzuge nach, daß unter seinen ungezählten Millionen
keine einzige sei, an der nicht das Blut vernichteter Existenzen klebte. Aber
das thut ja wohl der Moralität keinen Eintrag, wenigstens wendet sich Carus
ganz entschieden gegen jene „Lammsmvralität," die der Christenheit nicht wenig
geschadet habe, an deren Empfehlung jedoch das Neue Testament keine Schuld
trage. Wir sind darin mit Carus vollständig einverstanden, daß schafsmäßige
Dummheit und Wehrlosigkeit zusammen noch kein Tugendideal ausmachen.
Aber wir Protestiren gegen seinen Versuch, die zwei Thatsachen zu verschleiern,
daß der sittlich gute Mensch, ohne eine Spur von Anlage zur Schafsnatur,
lediglich dnrch seine Grundsätze und seine Abneigung gegen das Schlechte dem
Gewissenlosen gegenüber oft wehrlos gemacht wird, und daß rücksichtslose Ge¬
waltthat in engern wie in weitern Kreisen oft auf lange hin siegreich bleibt.


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[0024] Amerikanische Philosophie Für Philosophen dieser 'freilich auch bei uns heimischen amerikanischen Art hat denn auch der Gedanke keine Schwierigkeit, daß der erhabenste Menschengeist weiter nichts sei, als ein im Entwicklungsprozesse potenzirter Atomgeist, Das Wort „Entwicklung" verrichtet alle Dienste, obwohl man be¬ kanntlich aus einem Papier- oder Zwirnknünel nichts herauswickeln kann, was man nicht vorher hineingewickelt hat. Die Widerlegung durch die tägliche Erfahrung stört die Herren nicht. Wie wenig äußere Einwirkung hilft, wo die natürliche Anlage fehlt, das hat unser Volk längst in dem Sprichwort ausgedrückt: „Es flog ein Gänschen übern Rhein und kam als Gigak wieder heim." Woher aber die natürliche Anlage kommt, das eben ist das Geheimnis. Ererbt ist sie, sagt Carus mit den Evolutionisten. Das ist nicht wahr, oder doch nur zum Teil wahr. Genies find nicht lediglich das Produkt ihrer Eltern. Große Komponisten stammen allerdings meistens aus Musikerfnmilien, aber ihre Eingebungen lassen sich aus dem guten musikalischen Gehör und der Spielfertigkeit ihrer Väter nicht erklären. Wir altmodischen Philosophen bleiben bei der Ansicht, daß der größte Menschengeist das Geschöpf und Kunstwerk eines noch größern Geistes sein müsse, wie denn überhaupt das Kunstwerk stets kleiner, niemals größer als der Künstler ist. Da es außer der platten Wirklichkeit dieser Welt überhaupt nichts giebt, so giebt es natürlich auch keinen Gott. Der Glaube an Gott ist ein, wie Carus großmütig zugesteht, achtuugswerter und für seine Zeit nützlicher Aber¬ glaube. Die Welt ist von Anfang an, durch sich selbst nud mit Notwendig¬ keit ein Kosmos, ein geordnetes Ganzes. Will man noch von Gott sprechen, so kann man eben diese Eigenschaft der Welt, daß sie schön geordnet ist, oder, damit es schöner klingt, „die sittliche Weltordnung" Gott nennen, obwohl die Naturordnung und die sittliche Ordnung in eins zusammenfallen. Denn der Sieg im Kampfe ums Dasein liefert eben den Beweis für die größere Mo¬ ralität des Siegers, sodaß also der reichste Mann des Jahrhunderts, Jah Gould, wohl auch der sittlichste sein mag! Die „Neue Freie Presse" sagte ihm zwar bei seinem letzten Börsenraubzuge nach, daß unter seinen ungezählten Millionen keine einzige sei, an der nicht das Blut vernichteter Existenzen klebte. Aber das thut ja wohl der Moralität keinen Eintrag, wenigstens wendet sich Carus ganz entschieden gegen jene „Lammsmvralität," die der Christenheit nicht wenig geschadet habe, an deren Empfehlung jedoch das Neue Testament keine Schuld trage. Wir sind darin mit Carus vollständig einverstanden, daß schafsmäßige Dummheit und Wehrlosigkeit zusammen noch kein Tugendideal ausmachen. Aber wir Protestiren gegen seinen Versuch, die zwei Thatsachen zu verschleiern, daß der sittlich gute Mensch, ohne eine Spur von Anlage zur Schafsnatur, lediglich dnrch seine Grundsätze und seine Abneigung gegen das Schlechte dem Gewissenlosen gegenüber oft wehrlos gemacht wird, und daß rücksichtslose Ge¬ waltthat in engern wie in weitern Kreisen oft auf lange hin siegreich bleibt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/24>, abgerufen am 23.07.2024.