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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Daudet als Humorist und Satiriker

er Mir wenige geschaffen, nicht bloß im Vergleich zu der überreichen Fülle bei
Dickens, sondern auch wenn man ihn andern weniger bedeutenden Schrift¬
stellern gegenüberstellt. Und die weniger hervortretenden Figuren siud oft
skizzenhaft, ohne jene Lebensfülle und plastische Anschaulichkeit, die Dickens
auch den untergeordnetsten Personen durch wenige Striche zu geben weiß.
Was Daudet aber neben dem Scharfblick für Mängel und Fehler auszeichnet,
das ist sein gesundes Empfinden und fein geläuterter Geschmack, die thu vor
einseitiger und krankhafter Auffassung des Lebens schützen. Der Satiriker muß
das scharfe Auge des Pessimisten, aber zugleich das hoffnungsfreudige Herz
des Optimisten haben. Dieses Lob kommt Daudet zu. Er geißelt zwar Thor¬
heiten und Laster in rücksichtsloser Weise, aber er sieht in dem menschlichen
Treiben doch nicht bloß Verworfenheit, Fäulnis und Elend, sondern er ge¬
wahrt auch die Blumen, die mitten im Sumpf blühen, und die grünen Matten,
die um ihn herum gedeihen. Und mag auch ein Teil seiner Erzählungen
tragisch oder gar mit einem Mißklang schließen, das Ganze hinterläßt doch
uicht jenen dumpfen Schmerz, jene trostlose Bitterkeit, der jeder Glaube
an die göttliche Gerechtigkeit und die Güte der menschlichen Natur abhanden
gekommen ist.

Und wie der Inhalt den Dichter, so zeigt die Darstellung den Künstler.
Was er uns an Erfahrungen und Lebensanschauungen mitzuteilen hat, das
drängt er uns uicht pedantisch und mit jener unerbittlichen Konsequenz auf,
die wohl der philosophischen Abhandlung angemessen ist, einem poetischen
Werk aber etwas Lehrhaftes, Absichtliches und Frostiges giebt. Auch da, wo
er häßliche Szenen schildert, bleibt er sich seiner künstlerischen Aufgabe bewußt.
Er scheut sich nicht, den Schmutz Schmutz zu nennen, aber er breitet ihn nicht
vor den Augen des Lesers aus in einer Weise, die den Argwohn erregt, daß
es der Schriftsteller mit eignem Behagen thue.

Daudet erzählt in dem mehrfach erwähnten Buche "Dreißig Jahre Paris,"
Zola habe, als Daudets Roman "Fromont jun. und Rister hör." in kürzester
Zeit eine Auflage nach der andern erlebte, mit einiger Betrübnis gesagt: "Uns
andre wird nie jemand kaufen." Das hat sich im Laufe der Zeit gewaltig ge¬
ändert; heute hat Zola seinem Rivalen entschieden den Rang abgelaufen. Aber
ich bin überzeugt, daß ein späterer Schriftsteller, der die Zeit uach dem Sturz
des zweiten Kaiserreichs zu schildern beabsichtigt, nicht in den lichtlosen und
infolge ihrer Einseitigkeit unwahren Schöpfungen Zolas, fondern in deu
Büchern Daudets die zuverlässigere" Quellen erblicken wird. Und wie die
lebensvollen Romane von Dickens, obwohl seit dein Erscheinen der vollendetsten
mehr als vier Jahrzehnte verstrichen sind, dem gebildeten Leser noch heute
einen Genuß bereite", wie wenige Dichtungen zeitgenössischer Schriftsteller, so
wird auch noch ein späteres Geschlecht jenen durch treffende Satire und frischen
Humor ausgezeichneten Büchern Daudets Geschmack abgewinnen.




Daudet als Humorist und Satiriker

er Mir wenige geschaffen, nicht bloß im Vergleich zu der überreichen Fülle bei
Dickens, sondern auch wenn man ihn andern weniger bedeutenden Schrift¬
stellern gegenüberstellt. Und die weniger hervortretenden Figuren siud oft
skizzenhaft, ohne jene Lebensfülle und plastische Anschaulichkeit, die Dickens
auch den untergeordnetsten Personen durch wenige Striche zu geben weiß.
Was Daudet aber neben dem Scharfblick für Mängel und Fehler auszeichnet,
das ist sein gesundes Empfinden und fein geläuterter Geschmack, die thu vor
einseitiger und krankhafter Auffassung des Lebens schützen. Der Satiriker muß
das scharfe Auge des Pessimisten, aber zugleich das hoffnungsfreudige Herz
des Optimisten haben. Dieses Lob kommt Daudet zu. Er geißelt zwar Thor¬
heiten und Laster in rücksichtsloser Weise, aber er sieht in dem menschlichen
Treiben doch nicht bloß Verworfenheit, Fäulnis und Elend, sondern er ge¬
wahrt auch die Blumen, die mitten im Sumpf blühen, und die grünen Matten,
die um ihn herum gedeihen. Und mag auch ein Teil seiner Erzählungen
tragisch oder gar mit einem Mißklang schließen, das Ganze hinterläßt doch
uicht jenen dumpfen Schmerz, jene trostlose Bitterkeit, der jeder Glaube
an die göttliche Gerechtigkeit und die Güte der menschlichen Natur abhanden
gekommen ist.

Und wie der Inhalt den Dichter, so zeigt die Darstellung den Künstler.
Was er uns an Erfahrungen und Lebensanschauungen mitzuteilen hat, das
drängt er uns uicht pedantisch und mit jener unerbittlichen Konsequenz auf,
die wohl der philosophischen Abhandlung angemessen ist, einem poetischen
Werk aber etwas Lehrhaftes, Absichtliches und Frostiges giebt. Auch da, wo
er häßliche Szenen schildert, bleibt er sich seiner künstlerischen Aufgabe bewußt.
Er scheut sich nicht, den Schmutz Schmutz zu nennen, aber er breitet ihn nicht
vor den Augen des Lesers aus in einer Weise, die den Argwohn erregt, daß
es der Schriftsteller mit eignem Behagen thue.

Daudet erzählt in dem mehrfach erwähnten Buche „Dreißig Jahre Paris,"
Zola habe, als Daudets Roman „Fromont jun. und Rister hör." in kürzester
Zeit eine Auflage nach der andern erlebte, mit einiger Betrübnis gesagt: „Uns
andre wird nie jemand kaufen." Das hat sich im Laufe der Zeit gewaltig ge¬
ändert; heute hat Zola seinem Rivalen entschieden den Rang abgelaufen. Aber
ich bin überzeugt, daß ein späterer Schriftsteller, der die Zeit uach dem Sturz
des zweiten Kaiserreichs zu schildern beabsichtigt, nicht in den lichtlosen und
infolge ihrer Einseitigkeit unwahren Schöpfungen Zolas, fondern in deu
Büchern Daudets die zuverlässigere» Quellen erblicken wird. Und wie die
lebensvollen Romane von Dickens, obwohl seit dein Erscheinen der vollendetsten
mehr als vier Jahrzehnte verstrichen sind, dem gebildeten Leser noch heute
einen Genuß bereite», wie wenige Dichtungen zeitgenössischer Schriftsteller, so
wird auch noch ein späteres Geschlecht jenen durch treffende Satire und frischen
Humor ausgezeichneten Büchern Daudets Geschmack abgewinnen.




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[0194] Daudet als Humorist und Satiriker er Mir wenige geschaffen, nicht bloß im Vergleich zu der überreichen Fülle bei Dickens, sondern auch wenn man ihn andern weniger bedeutenden Schrift¬ stellern gegenüberstellt. Und die weniger hervortretenden Figuren siud oft skizzenhaft, ohne jene Lebensfülle und plastische Anschaulichkeit, die Dickens auch den untergeordnetsten Personen durch wenige Striche zu geben weiß. Was Daudet aber neben dem Scharfblick für Mängel und Fehler auszeichnet, das ist sein gesundes Empfinden und fein geläuterter Geschmack, die thu vor einseitiger und krankhafter Auffassung des Lebens schützen. Der Satiriker muß das scharfe Auge des Pessimisten, aber zugleich das hoffnungsfreudige Herz des Optimisten haben. Dieses Lob kommt Daudet zu. Er geißelt zwar Thor¬ heiten und Laster in rücksichtsloser Weise, aber er sieht in dem menschlichen Treiben doch nicht bloß Verworfenheit, Fäulnis und Elend, sondern er ge¬ wahrt auch die Blumen, die mitten im Sumpf blühen, und die grünen Matten, die um ihn herum gedeihen. Und mag auch ein Teil seiner Erzählungen tragisch oder gar mit einem Mißklang schließen, das Ganze hinterläßt doch uicht jenen dumpfen Schmerz, jene trostlose Bitterkeit, der jeder Glaube an die göttliche Gerechtigkeit und die Güte der menschlichen Natur abhanden gekommen ist. Und wie der Inhalt den Dichter, so zeigt die Darstellung den Künstler. Was er uns an Erfahrungen und Lebensanschauungen mitzuteilen hat, das drängt er uns uicht pedantisch und mit jener unerbittlichen Konsequenz auf, die wohl der philosophischen Abhandlung angemessen ist, einem poetischen Werk aber etwas Lehrhaftes, Absichtliches und Frostiges giebt. Auch da, wo er häßliche Szenen schildert, bleibt er sich seiner künstlerischen Aufgabe bewußt. Er scheut sich nicht, den Schmutz Schmutz zu nennen, aber er breitet ihn nicht vor den Augen des Lesers aus in einer Weise, die den Argwohn erregt, daß es der Schriftsteller mit eignem Behagen thue. Daudet erzählt in dem mehrfach erwähnten Buche „Dreißig Jahre Paris," Zola habe, als Daudets Roman „Fromont jun. und Rister hör." in kürzester Zeit eine Auflage nach der andern erlebte, mit einiger Betrübnis gesagt: „Uns andre wird nie jemand kaufen." Das hat sich im Laufe der Zeit gewaltig ge¬ ändert; heute hat Zola seinem Rivalen entschieden den Rang abgelaufen. Aber ich bin überzeugt, daß ein späterer Schriftsteller, der die Zeit uach dem Sturz des zweiten Kaiserreichs zu schildern beabsichtigt, nicht in den lichtlosen und infolge ihrer Einseitigkeit unwahren Schöpfungen Zolas, fondern in deu Büchern Daudets die zuverlässigere» Quellen erblicken wird. Und wie die lebensvollen Romane von Dickens, obwohl seit dein Erscheinen der vollendetsten mehr als vier Jahrzehnte verstrichen sind, dem gebildeten Leser noch heute einen Genuß bereite», wie wenige Dichtungen zeitgenössischer Schriftsteller, so wird auch noch ein späteres Geschlecht jenen durch treffende Satire und frischen Humor ausgezeichneten Büchern Daudets Geschmack abgewinnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/194>, abgerufen am 23.07.2024.