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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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richtigen Entfernung gesehen habe. Sicherlich eine zutreffende Erklärung.
Die bittern Erinnerungen hafteten noch zu frisch und schmerzlich in seinem
Gedächtnis, als daß er sie hätte ruhig und unbefangen durchmustern und auch
die heitern Züge in wärmerer Darstellung zur Geltung bringen können.
Zwar fehlt es nicht an humoristischen Episoden, aber der Zauber tieferer Em¬
pfindung geht ihnen ab, und weil sie nicht vom Herzen kommen, dringen sie
auch nicht zum Herzen. Wie ganz anders hat Dickens den leidenvollsten Ab¬
schnitt seiner Kinderzeit, jenen Aufenthalt in Warrens Schuhwichsgeschäft --
John Forster druckt die eignen Aufzeichnungen des Dichters in Dickens Bio¬
graphie ab -- dichterisch im "Copperfield" verwertet!

Kann ich aus den angeführten Gründen in diesen zum Teil mit Recht
hochgeschätzten Romanen Daudets keinen Beweis eines starken, ursprünglichen
Humors finden, so muß ich dagegen dem Humor in den kleinen Erzählungen
und Skizzen, die die "Montagsgeschichten," die "Prooem?ausehen Geschichten"
und die "Künstlerehen" enthalten, meine vollste Bewunderung zollen. Die
Belagerung von Berlin, Das Maultier des Papstes, Der Pfarrer von Cueu-
gncm, Das Elixir des ehrwürdigen Paters Gaucher, Ein Sängerpaar, Die
Witwe des großen Mannes u. a. sind wahre Kalnnetstücke, klein dem Umfang
nach und schlichten Inhalts, aber künstlerisch abgerundet und stilistisch vollendet,
Schöpfungen eines großen Dichters. Hier finden sich alle Schattirungen des
Humors, von der naiven Schalkhaftigkeit bis zu jener feinen Ironie, die sich
der Satire nähert, von der rührenden Komik bis zu dem wehmutsvollen Ernst,
der das Lächeln im Keim erstickt. Wenn der Modegeschmack, der sich nament¬
lich auf dem Gebiete des Romans so rasch ändert, auch den besten Schöpfun¬
gen Daudets verhängnisvoll werden sollte, eine sehr große Zahl jener kleinen
Erzählungen und Skizzen wird vermöge ihres poetischen Zaubers ihren Ver-
fasser überdauern und durch ihre Reinheit und Anmut noch spätere Geschlechter
erfreuen. Denn die größte Gefahr des Humoristen, das Komische zu über¬
treibe" und in die Karikatur zu verfallen, hat Daudet in diesen humoristischen
Genrebildern vermieden.

Aber er ist ihr ebensowenig wie Dickens überall entgangen. Am auf¬
fälligsten zeigt sich die Übertreibung im "Tartarin von Tarascon." Hier herrscht
jener burleske Ton, der es mit den Grenzen der feinen Komik nicht genau
nimmt, jene ausgelassene Phantasie, die sich in der Erfindung der Handlung
und in der Schilderung einzelner Szenen wenig um die Wahrscheinlichkeit
kümmert. Der Held ist ein Südfranzose, dessen Charaktereigentüinlichleiten,
Neigung zum Phantastischen, Hang zur Prahlerei und Übertreibung, der
Dichter, obwohl selbst ein Südfranzose, in ausgelassenster Weise geißelt. Wie
im Inhalt, erinnert das Buch auch im Ton vielfach an unsre Volksbücher,
an Till Eulenspiegel, an die Schildbürger, an Münchhausens Abenteuer. Cer-
vantes klassisches Werk hat dem Dichter vorgeschwebt, und in der That ist


richtigen Entfernung gesehen habe. Sicherlich eine zutreffende Erklärung.
Die bittern Erinnerungen hafteten noch zu frisch und schmerzlich in seinem
Gedächtnis, als daß er sie hätte ruhig und unbefangen durchmustern und auch
die heitern Züge in wärmerer Darstellung zur Geltung bringen können.
Zwar fehlt es nicht an humoristischen Episoden, aber der Zauber tieferer Em¬
pfindung geht ihnen ab, und weil sie nicht vom Herzen kommen, dringen sie
auch nicht zum Herzen. Wie ganz anders hat Dickens den leidenvollsten Ab¬
schnitt seiner Kinderzeit, jenen Aufenthalt in Warrens Schuhwichsgeschäft —
John Forster druckt die eignen Aufzeichnungen des Dichters in Dickens Bio¬
graphie ab — dichterisch im „Copperfield" verwertet!

Kann ich aus den angeführten Gründen in diesen zum Teil mit Recht
hochgeschätzten Romanen Daudets keinen Beweis eines starken, ursprünglichen
Humors finden, so muß ich dagegen dem Humor in den kleinen Erzählungen
und Skizzen, die die „Montagsgeschichten," die „Prooem?ausehen Geschichten"
und die „Künstlerehen" enthalten, meine vollste Bewunderung zollen. Die
Belagerung von Berlin, Das Maultier des Papstes, Der Pfarrer von Cueu-
gncm, Das Elixir des ehrwürdigen Paters Gaucher, Ein Sängerpaar, Die
Witwe des großen Mannes u. a. sind wahre Kalnnetstücke, klein dem Umfang
nach und schlichten Inhalts, aber künstlerisch abgerundet und stilistisch vollendet,
Schöpfungen eines großen Dichters. Hier finden sich alle Schattirungen des
Humors, von der naiven Schalkhaftigkeit bis zu jener feinen Ironie, die sich
der Satire nähert, von der rührenden Komik bis zu dem wehmutsvollen Ernst,
der das Lächeln im Keim erstickt. Wenn der Modegeschmack, der sich nament¬
lich auf dem Gebiete des Romans so rasch ändert, auch den besten Schöpfun¬
gen Daudets verhängnisvoll werden sollte, eine sehr große Zahl jener kleinen
Erzählungen und Skizzen wird vermöge ihres poetischen Zaubers ihren Ver-
fasser überdauern und durch ihre Reinheit und Anmut noch spätere Geschlechter
erfreuen. Denn die größte Gefahr des Humoristen, das Komische zu über¬
treibe» und in die Karikatur zu verfallen, hat Daudet in diesen humoristischen
Genrebildern vermieden.

Aber er ist ihr ebensowenig wie Dickens überall entgangen. Am auf¬
fälligsten zeigt sich die Übertreibung im „Tartarin von Tarascon." Hier herrscht
jener burleske Ton, der es mit den Grenzen der feinen Komik nicht genau
nimmt, jene ausgelassene Phantasie, die sich in der Erfindung der Handlung
und in der Schilderung einzelner Szenen wenig um die Wahrscheinlichkeit
kümmert. Der Held ist ein Südfranzose, dessen Charaktereigentüinlichleiten,
Neigung zum Phantastischen, Hang zur Prahlerei und Übertreibung, der
Dichter, obwohl selbst ein Südfranzose, in ausgelassenster Weise geißelt. Wie
im Inhalt, erinnert das Buch auch im Ton vielfach an unsre Volksbücher,
an Till Eulenspiegel, an die Schildbürger, an Münchhausens Abenteuer. Cer-
vantes klassisches Werk hat dem Dichter vorgeschwebt, und in der That ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/190>, abgerufen am 23.07.2024.