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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr.

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Rosegger als Dramatiker

dein Wege zum sehr'urgericht die Straßlschen Kinder trifft. Wie, wenn sie
einen andern Weg eingeschlagen hätte? oder zu Wagen sich ins Gericht hätte
führen lassen? Dann wäre das Mitleid nicht über sie gekommen, dann hätte
sie vor den Richtern, ihre berechtigte Vermutung, daß Straß! der Mörder sei,
nicht zurückgehalten, er wäre beim Leugnen geblieben und hätte kaum verurteilt
werden können, Ihre so wohlwollende Zeugenaussage begründet Martha ganz
ausdrücklich mit der Rücksicht auf Straßls nun dem äußersten Elend preis¬
gegebene Kinder. Die Handlung entwickelt sich also nicht, wie eS das Grund¬
gesetz der dramatischen Kunst fordert, völlig aus den Charakteren heraus;
eigentlich fängt sie erst im dritten Akt an: mit der Begegnung der beiden
Frauen; die erste" zwei Akte sind nur Exposition,

Dennoch, trotz dieser Schwächen, sind nur von dem Stücke erfreut und
an zahlreichen Stellen bald aufs tiefste erschüttert, bald aufs heiterste unter¬
halten worden. Alle "Technik des Dramas" haben nur im Angesichte des
Spieles vergessen, und wir können durchaus nicht in die mehr oder weniger
offene Verurteilung der Dichtung einstimmen. Ja das, was die Wiener Kritik
am meisten daran getadelt hat, erscheint uns als eine große Tugend des
Werkes. Sie sagen: das Stück zerfällt in vier Bilder (Akte), denen der
Zusammenhang fehlt, und der zweite Akt ist ganz überflüssig. Das ist ein
ungerechtes Urteil: der zweite Akt kann allerdings in der Nacherzählung des
Stückes übersprungen werden, aber er ist nicht bloß, wie übrigens zugestanden
wird, der genialste und wirksamste, er ist auch geradezu unentbehrlich, um
nämlich seinen Wilddieb erträglich und dessen plötzliche Wandlung nach der
Aussage Marthas -- worauf das ganze Spiel hinausläuft -- begreiflich,
dramatisch möglich zu machen, hat Rvsegger mit unabweisbarer künstlerischer
Notwendigkeit den Wildschützen ans eine tragische Höhe heben müssen; hätte
er das nicht gethan, so wäre sein Stück unmöglich, das Wunder undenkbar
gewesen. Eine wirklich gemeine Seele hätte die Aussage Marthas anders
verwertet. Dieser Straßl ist ein weitläufiger Verwandter von Anzengrubers
Einsamfiguren: von Steinklopferhans u. dergl. Straßl heißt er, weil er als
Kind von einem barmherzigem Armen auf der Straße gefunden und auf¬
genommen worden ist. Er ist eigentlich eine gute Seele. Als er von Förster
das erstemal in den Kerker gebracht wurde, war er nur halb schuldig: nicht
er, sondern ein Kamerad hatte damals aufs Wild geschossen, dieser entfloh,
Straßl wurde erwischt. Aus männlichem. Edelmut verriet er jedoch den
eigentlich Schuldige" nicht, und daher all sein späteres Unglück. Denn der
Zuchthäusler, obendrein el" Heimatloser, findet keine Arbeit, wie sehr er auch
drum betteln mag. Verzweiflung und allerdings auch Jagdleidenschaft machen ihn
zum Wilderer. Die Verzweiflung begreifet? nur ohne weiteres, und Nosegger
wendet alle seine Poesie auf, um durch den Mund seines Wildschützen das
Recht, aufs freie Wild zu schießen, als el" allgemein menschliches Recht


Rosegger als Dramatiker

dein Wege zum sehr'urgericht die Straßlschen Kinder trifft. Wie, wenn sie
einen andern Weg eingeschlagen hätte? oder zu Wagen sich ins Gericht hätte
führen lassen? Dann wäre das Mitleid nicht über sie gekommen, dann hätte
sie vor den Richtern, ihre berechtigte Vermutung, daß Straß! der Mörder sei,
nicht zurückgehalten, er wäre beim Leugnen geblieben und hätte kaum verurteilt
werden können, Ihre so wohlwollende Zeugenaussage begründet Martha ganz
ausdrücklich mit der Rücksicht auf Straßls nun dem äußersten Elend preis¬
gegebene Kinder. Die Handlung entwickelt sich also nicht, wie eS das Grund¬
gesetz der dramatischen Kunst fordert, völlig aus den Charakteren heraus;
eigentlich fängt sie erst im dritten Akt an: mit der Begegnung der beiden
Frauen; die erste» zwei Akte sind nur Exposition,

Dennoch, trotz dieser Schwächen, sind nur von dem Stücke erfreut und
an zahlreichen Stellen bald aufs tiefste erschüttert, bald aufs heiterste unter¬
halten worden. Alle „Technik des Dramas" haben nur im Angesichte des
Spieles vergessen, und wir können durchaus nicht in die mehr oder weniger
offene Verurteilung der Dichtung einstimmen. Ja das, was die Wiener Kritik
am meisten daran getadelt hat, erscheint uns als eine große Tugend des
Werkes. Sie sagen: das Stück zerfällt in vier Bilder (Akte), denen der
Zusammenhang fehlt, und der zweite Akt ist ganz überflüssig. Das ist ein
ungerechtes Urteil: der zweite Akt kann allerdings in der Nacherzählung des
Stückes übersprungen werden, aber er ist nicht bloß, wie übrigens zugestanden
wird, der genialste und wirksamste, er ist auch geradezu unentbehrlich, um
nämlich seinen Wilddieb erträglich und dessen plötzliche Wandlung nach der
Aussage Marthas — worauf das ganze Spiel hinausläuft — begreiflich,
dramatisch möglich zu machen, hat Rvsegger mit unabweisbarer künstlerischer
Notwendigkeit den Wildschützen ans eine tragische Höhe heben müssen; hätte
er das nicht gethan, so wäre sein Stück unmöglich, das Wunder undenkbar
gewesen. Eine wirklich gemeine Seele hätte die Aussage Marthas anders
verwertet. Dieser Straßl ist ein weitläufiger Verwandter von Anzengrubers
Einsamfiguren: von Steinklopferhans u. dergl. Straßl heißt er, weil er als
Kind von einem barmherzigem Armen auf der Straße gefunden und auf¬
genommen worden ist. Er ist eigentlich eine gute Seele. Als er von Förster
das erstemal in den Kerker gebracht wurde, war er nur halb schuldig: nicht
er, sondern ein Kamerad hatte damals aufs Wild geschossen, dieser entfloh,
Straßl wurde erwischt. Aus männlichem. Edelmut verriet er jedoch den
eigentlich Schuldige» nicht, und daher all sein späteres Unglück. Denn der
Zuchthäusler, obendrein el» Heimatloser, findet keine Arbeit, wie sehr er auch
drum betteln mag. Verzweiflung und allerdings auch Jagdleidenschaft machen ihn
zum Wilderer. Die Verzweiflung begreifet? nur ohne weiteres, und Nosegger
wendet alle seine Poesie auf, um durch den Mund seines Wildschützen das
Recht, aufs freie Wild zu schießen, als el» allgemein menschliches Recht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209232/101>, abgerufen am 25.08.2024.