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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Goethes Dichtung und Schilderung hat in den meisten von uns die Sehnsucht
entfacht nud genährt, die so vielen und verhältnismüßig doch so wenigen durch
den Genuß lebendiger Wirklichkeit gestillt wird. Anderseits ist Goethes herr¬
liches Buch zweifellos auch ein Quell vielfacher Enttäuschungen geworden. Es
giebt Leute, die sich so tief in die Briefe und Tagebuchblütter des große"
Menschen hineingelesen haben, daß sie mit der heimlichen Hoffnung nach der
ewigen Stadt kommen, die Entzückungen und Stimmungen Goethes künstlich
nachzuleben. Selbst wenn sie bescheiden den Abstand zwischen sich und dein
Dichter ermessen, vergessen sie den ungeheuern Unterschied der Zeiten, der
römischen Zustünde vom Ausgang des vorigen und vom Ausgang dieses Jahr¬
hunderts, den Abgrund, in den der wahrhaft genügsam-heitere Lebensgenuß
seit Goethes römischen Tagen auf Nimmerwiedersehen versunken ist. Aber
das kann nicht hindern, daß man sich auch im heutigen Rom der Erlebnisse
und Eindrücke des Dichters erinnernd freut, und wie vielmal, von der Aequo
Aeetosa, die noch immer den "wie schwaches schwalbacher" schmeckenden Stnhl-
süuerling spendet, bis zum Kolosseum, vom Obelisken bei Trinitü, ti Monti
bis zum Obelisken auf dein vatikanischen Petersplatz, in dessen Schatten der
Dichter traubenessend wandelte, habe ich jener Erlebnisse gedenken müssen, deren
wunderbarer Abglanz und Nachglanz es freilich schwer macht, sich gleichzeitig
vorzuhalten, daß seit ihnen hundert Jahre dahingegangen sind.

Am stärksten überkommen eine" die alten Erzählungen und die lebendigen
Bilder, die ans ihnen immer muss neue emporsteige", an Straßen und Stellen,
die man sich als seit 1787 völlig unverändert denken kann. Auch im Korso
sind nicht allzu viel neue Häuser entstanden, die alten Palüste mit ihren
mächtigen Thorbogen und ihren prächtigen Höfen stehen meist noch, selbst das
schöne Pflaster aus kleinen viereckig zugehauenen Basaltstücken scheint noch
dasselbe. Aber die glänzenden Läden mit Spiegelscheiben lind allem modernen
Zubehör, die sich zu beiden Seiten des Korso hinziehen, machen es deutlich
genug, daß der ganze Anblick, den die vielberühmte Straße heute gewährt, dem
nicht gleicht, den sie im achtzehnten Jahrhundert oder noch im ersten Jahr¬
zehnt dieses Jahrhundert geboten haben muß. Viel eher flößt die bei der Kirche
Santa Maria dei Miracoli beginnende Via ti Nipctta, die von der Piazzn
del Popolo geradeswegs zum Tiberufer führt, die Zuversicht ein, daß sie ein
wohlerhaltenes, von der jüngsten Vergangenheit der Stadt nicht umgewandeltes
Stück des päpstlichen Roms bietet. Hier findet sich bis zu den großen Treppen
des alten Ripettahafens das merkwürdige Gemisch hoher, palastähnlicher
Häuser mit dunkeln Steinmassen, kleiner Bürgerhäuser mit wunderlichen!
grellrotem, grellblauen und grellgelben Anstrich, hier fuhren zu den Haus-
eingüngen Vvrtreppen mit alten steinernen und eisernen Geländern, hier wird in
halboffenen Erdgeschossen das bürgerliche Gewerbe von Schmieden, Schlossern,
Gürtlern und Tischlern von der Straße aus sichtbar betrieben, hier erblickt


Goethes Dichtung und Schilderung hat in den meisten von uns die Sehnsucht
entfacht nud genährt, die so vielen und verhältnismüßig doch so wenigen durch
den Genuß lebendiger Wirklichkeit gestillt wird. Anderseits ist Goethes herr¬
liches Buch zweifellos auch ein Quell vielfacher Enttäuschungen geworden. Es
giebt Leute, die sich so tief in die Briefe und Tagebuchblütter des große»
Menschen hineingelesen haben, daß sie mit der heimlichen Hoffnung nach der
ewigen Stadt kommen, die Entzückungen und Stimmungen Goethes künstlich
nachzuleben. Selbst wenn sie bescheiden den Abstand zwischen sich und dein
Dichter ermessen, vergessen sie den ungeheuern Unterschied der Zeiten, der
römischen Zustünde vom Ausgang des vorigen und vom Ausgang dieses Jahr¬
hunderts, den Abgrund, in den der wahrhaft genügsam-heitere Lebensgenuß
seit Goethes römischen Tagen auf Nimmerwiedersehen versunken ist. Aber
das kann nicht hindern, daß man sich auch im heutigen Rom der Erlebnisse
und Eindrücke des Dichters erinnernd freut, und wie vielmal, von der Aequo
Aeetosa, die noch immer den „wie schwaches schwalbacher" schmeckenden Stnhl-
süuerling spendet, bis zum Kolosseum, vom Obelisken bei Trinitü, ti Monti
bis zum Obelisken auf dein vatikanischen Petersplatz, in dessen Schatten der
Dichter traubenessend wandelte, habe ich jener Erlebnisse gedenken müssen, deren
wunderbarer Abglanz und Nachglanz es freilich schwer macht, sich gleichzeitig
vorzuhalten, daß seit ihnen hundert Jahre dahingegangen sind.

Am stärksten überkommen eine» die alten Erzählungen und die lebendigen
Bilder, die ans ihnen immer muss neue emporsteige», an Straßen und Stellen,
die man sich als seit 1787 völlig unverändert denken kann. Auch im Korso
sind nicht allzu viel neue Häuser entstanden, die alten Palüste mit ihren
mächtigen Thorbogen und ihren prächtigen Höfen stehen meist noch, selbst das
schöne Pflaster aus kleinen viereckig zugehauenen Basaltstücken scheint noch
dasselbe. Aber die glänzenden Läden mit Spiegelscheiben lind allem modernen
Zubehör, die sich zu beiden Seiten des Korso hinziehen, machen es deutlich
genug, daß der ganze Anblick, den die vielberühmte Straße heute gewährt, dem
nicht gleicht, den sie im achtzehnten Jahrhundert oder noch im ersten Jahr¬
zehnt dieses Jahrhundert geboten haben muß. Viel eher flößt die bei der Kirche
Santa Maria dei Miracoli beginnende Via ti Nipctta, die von der Piazzn
del Popolo geradeswegs zum Tiberufer führt, die Zuversicht ein, daß sie ein
wohlerhaltenes, von der jüngsten Vergangenheit der Stadt nicht umgewandeltes
Stück des päpstlichen Roms bietet. Hier findet sich bis zu den großen Treppen
des alten Ripettahafens das merkwürdige Gemisch hoher, palastähnlicher
Häuser mit dunkeln Steinmassen, kleiner Bürgerhäuser mit wunderlichen!
grellrotem, grellblauen und grellgelben Anstrich, hier fuhren zu den Haus-
eingüngen Vvrtreppen mit alten steinernen und eisernen Geländern, hier wird in
halboffenen Erdgeschossen das bürgerliche Gewerbe von Schmieden, Schlossern,
Gürtlern und Tischlern von der Straße aus sichtbar betrieben, hier erblickt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/90>, abgerufen am 26.06.2024.