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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

wenn somit zu ihrer ewigen Einsamkeit kein andres, faßbares Wesen hinzutritt,
so wird auch das Bedürfnis nicht vorhanden sein, sie gleichsam aus dem
Rahmen des Bildes lebendig hervortreten zu sehen; was sollte sie sprechen
und thun, wenn sie niemanden des unmittelbaren Verkehrs würdigt? So
konnten die Juden zu keiner Gestaltung des Dramas kommen; bei der absoluten
Vildlosigkeit ihres Kultus war zugleich die bildliche Gestaltung des persön¬
lichen Auftretens, Sprechens und Handelns der Gottheit ausgeschlossen, ob¬
gleich die Propheten hiervon viel zu erzählen wissen. Es giebt daher im
Alten Testament kein Drama; die Versuche, das Hohe Lied als solches auf¬
zufassen, laufen ans ein Spielen mit dem Namen hinaus. Dramatischer
Charakter, d. h. ein lebendiges, von Rede und Gegenrede begleitetes Handeln,
erscheint auch in der Lyrik und im Epos, macht sie aber noch nicht zum
Drama. Zu diesem gehört das ganz bestimmte Merkmal, daß eine Person
unter dem Bilde einer andern Person leibhaftig vor den Hörer hintritt;
dieses Merkmal fehlt in der Lyrik und im Epos mit Notwendigkeit. Auch
bei den Ägyptern scheint es zu keinem Drama gekommen zu sein. Hier
werden in der Bildkunst zwar die lebhaftesten Szenen in Gegenwart der Götter
dargestellt; aber diese selbst stehen erhaben über der Handlung und sind bald
als sichtbar bald als unsichtbar aufzufassende Zuschauer oder als Gegenstand
der Huldigung, als Helfer oder höchste Richter zu denken. Daß die Gottheit
leibhaftig vor den Menschen hingetreten wäre, ist auch dort undenkbar; sie
offenbart sich höchstens dem Priester, dessen Macht verloren ginge, wenn er
dein Menschen unmittelbaren Verkehr mit der Gottheit gestatten wollte.

Im höchsten Grade günstig für die Entwicklung des Dramas ist dagegen
das Christentum. Dadurch daß Christus als Mensch und Gott zugleich ge¬
faßt wird, erscheint die Gottheit selbst mit Notwendigkeit im engsten mensch¬
lichen Verkehr, und zwar nicht nur so, daß sie in ihrer Erhabenheit gelegentlich
erscheint, sondern so, daß sie zum Menschen verkörpert ein Menschenleben lang
unter den Menschen weilt, alles Menschliche selbst an sich erlebt, als Kind
geboren wird, ja sich endlich im Zustande des Leidens, selbst des Sterbens
zeigt und dadurch ueben dem frommen Erbeben vor der Gottheit im Menschen
zugleich das menschlich warme Mitgefühl mit dem Menschen in der Gottheit
wachruft. Eine solche Persönlichkeit ist wie geschaffen, ans dem Bilde lebendig
herauszutreten; wie viel unmittelbarer und erschütternder wirkt das Leiden,
wenn es uns nicht in einem einzigen Augenblicke gefesselt um Bilde am leb¬
losen, fühllosen Stoff entgegenstarrt, wenn es vielmehr lebendig vor uns
erscheint, wenn wir trotz des Bewußtseins, daß wir nur ein Bild vor uns
haben, dieses dennoch alles an sich erleben sehen, wenn es spricht, wenn es
leidet, wenn es stirbt!

In der That werden schon früh im Mittelalter Geburt und Tod Christi
die Veranlassung, daß die Bilder an den KirclMwänden und in den Altar-


Tempel und Theater

wenn somit zu ihrer ewigen Einsamkeit kein andres, faßbares Wesen hinzutritt,
so wird auch das Bedürfnis nicht vorhanden sein, sie gleichsam aus dem
Rahmen des Bildes lebendig hervortreten zu sehen; was sollte sie sprechen
und thun, wenn sie niemanden des unmittelbaren Verkehrs würdigt? So
konnten die Juden zu keiner Gestaltung des Dramas kommen; bei der absoluten
Vildlosigkeit ihres Kultus war zugleich die bildliche Gestaltung des persön¬
lichen Auftretens, Sprechens und Handelns der Gottheit ausgeschlossen, ob¬
gleich die Propheten hiervon viel zu erzählen wissen. Es giebt daher im
Alten Testament kein Drama; die Versuche, das Hohe Lied als solches auf¬
zufassen, laufen ans ein Spielen mit dem Namen hinaus. Dramatischer
Charakter, d. h. ein lebendiges, von Rede und Gegenrede begleitetes Handeln,
erscheint auch in der Lyrik und im Epos, macht sie aber noch nicht zum
Drama. Zu diesem gehört das ganz bestimmte Merkmal, daß eine Person
unter dem Bilde einer andern Person leibhaftig vor den Hörer hintritt;
dieses Merkmal fehlt in der Lyrik und im Epos mit Notwendigkeit. Auch
bei den Ägyptern scheint es zu keinem Drama gekommen zu sein. Hier
werden in der Bildkunst zwar die lebhaftesten Szenen in Gegenwart der Götter
dargestellt; aber diese selbst stehen erhaben über der Handlung und sind bald
als sichtbar bald als unsichtbar aufzufassende Zuschauer oder als Gegenstand
der Huldigung, als Helfer oder höchste Richter zu denken. Daß die Gottheit
leibhaftig vor den Menschen hingetreten wäre, ist auch dort undenkbar; sie
offenbart sich höchstens dem Priester, dessen Macht verloren ginge, wenn er
dein Menschen unmittelbaren Verkehr mit der Gottheit gestatten wollte.

Im höchsten Grade günstig für die Entwicklung des Dramas ist dagegen
das Christentum. Dadurch daß Christus als Mensch und Gott zugleich ge¬
faßt wird, erscheint die Gottheit selbst mit Notwendigkeit im engsten mensch¬
lichen Verkehr, und zwar nicht nur so, daß sie in ihrer Erhabenheit gelegentlich
erscheint, sondern so, daß sie zum Menschen verkörpert ein Menschenleben lang
unter den Menschen weilt, alles Menschliche selbst an sich erlebt, als Kind
geboren wird, ja sich endlich im Zustande des Leidens, selbst des Sterbens
zeigt und dadurch ueben dem frommen Erbeben vor der Gottheit im Menschen
zugleich das menschlich warme Mitgefühl mit dem Menschen in der Gottheit
wachruft. Eine solche Persönlichkeit ist wie geschaffen, ans dem Bilde lebendig
herauszutreten; wie viel unmittelbarer und erschütternder wirkt das Leiden,
wenn es uns nicht in einem einzigen Augenblicke gefesselt um Bilde am leb¬
losen, fühllosen Stoff entgegenstarrt, wenn es vielmehr lebendig vor uns
erscheint, wenn wir trotz des Bewußtseins, daß wir nur ein Bild vor uns
haben, dieses dennoch alles an sich erleben sehen, wenn es spricht, wenn es
leidet, wenn es stirbt!

In der That werden schon früh im Mittelalter Geburt und Tod Christi
die Veranlassung, daß die Bilder an den KirclMwänden und in den Altar-


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[0076] Tempel und Theater wenn somit zu ihrer ewigen Einsamkeit kein andres, faßbares Wesen hinzutritt, so wird auch das Bedürfnis nicht vorhanden sein, sie gleichsam aus dem Rahmen des Bildes lebendig hervortreten zu sehen; was sollte sie sprechen und thun, wenn sie niemanden des unmittelbaren Verkehrs würdigt? So konnten die Juden zu keiner Gestaltung des Dramas kommen; bei der absoluten Vildlosigkeit ihres Kultus war zugleich die bildliche Gestaltung des persön¬ lichen Auftretens, Sprechens und Handelns der Gottheit ausgeschlossen, ob¬ gleich die Propheten hiervon viel zu erzählen wissen. Es giebt daher im Alten Testament kein Drama; die Versuche, das Hohe Lied als solches auf¬ zufassen, laufen ans ein Spielen mit dem Namen hinaus. Dramatischer Charakter, d. h. ein lebendiges, von Rede und Gegenrede begleitetes Handeln, erscheint auch in der Lyrik und im Epos, macht sie aber noch nicht zum Drama. Zu diesem gehört das ganz bestimmte Merkmal, daß eine Person unter dem Bilde einer andern Person leibhaftig vor den Hörer hintritt; dieses Merkmal fehlt in der Lyrik und im Epos mit Notwendigkeit. Auch bei den Ägyptern scheint es zu keinem Drama gekommen zu sein. Hier werden in der Bildkunst zwar die lebhaftesten Szenen in Gegenwart der Götter dargestellt; aber diese selbst stehen erhaben über der Handlung und sind bald als sichtbar bald als unsichtbar aufzufassende Zuschauer oder als Gegenstand der Huldigung, als Helfer oder höchste Richter zu denken. Daß die Gottheit leibhaftig vor den Menschen hingetreten wäre, ist auch dort undenkbar; sie offenbart sich höchstens dem Priester, dessen Macht verloren ginge, wenn er dein Menschen unmittelbaren Verkehr mit der Gottheit gestatten wollte. Im höchsten Grade günstig für die Entwicklung des Dramas ist dagegen das Christentum. Dadurch daß Christus als Mensch und Gott zugleich ge¬ faßt wird, erscheint die Gottheit selbst mit Notwendigkeit im engsten mensch¬ lichen Verkehr, und zwar nicht nur so, daß sie in ihrer Erhabenheit gelegentlich erscheint, sondern so, daß sie zum Menschen verkörpert ein Menschenleben lang unter den Menschen weilt, alles Menschliche selbst an sich erlebt, als Kind geboren wird, ja sich endlich im Zustande des Leidens, selbst des Sterbens zeigt und dadurch ueben dem frommen Erbeben vor der Gottheit im Menschen zugleich das menschlich warme Mitgefühl mit dem Menschen in der Gottheit wachruft. Eine solche Persönlichkeit ist wie geschaffen, ans dem Bilde lebendig herauszutreten; wie viel unmittelbarer und erschütternder wirkt das Leiden, wenn es uns nicht in einem einzigen Augenblicke gefesselt um Bilde am leb¬ losen, fühllosen Stoff entgegenstarrt, wenn es vielmehr lebendig vor uns erscheint, wenn wir trotz des Bewußtseins, daß wir nur ein Bild vor uns haben, dieses dennoch alles an sich erleben sehen, wenn es spricht, wenn es leidet, wenn es stirbt! In der That werden schon früh im Mittelalter Geburt und Tod Christi die Veranlassung, daß die Bilder an den KirclMwänden und in den Altar-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/76>, abgerufen am 23.07.2024.