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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Tempel und Theater

Ereignisse die Macht der Gottheit beglaubigt worden ist, wie sie helfend und
tröstend, richtend und strafend in das Getreide der Menschen eingegriffen hat.
Wenn nun der Gesang ertönt, der die Gottheit an dieser Thaten willen preist,
wenn der Priester die Erzählung ergänzt und ausführt, so sieht der Gläubige
den Vorgang zugleich leibhaftig vor sich; er kaun sich die Handlung aufs
lebendigste vorstellen, da er zugleich den Träger der Handlung verkörpert vor
sich sieht. Aber noch ist ein Riß zwischen der Erzählung und der Erscheinung:
die Erzählung schreitet mit der Handlung lebendig fort, die bildliche Darstellung
bleibt ewig unbewegt stehen. Soll dieser Riß ausgefüllt werden, so muß die
Gottheit aus der starren Unbeweglichkeit heraustreten und lebendig vor den
Menschen erscheinen, sie muß selbst handeln, sie naß selbst reden und erzählen,
erleben und erleben lassen. Zögere sie zu erscheinen, so hüllt sich der
Priester in ihre Tracht, er nimmt ihre Züge an, und nun tritt sie thatsächlich
und leibhaftig unter die Menschen und läßt sie teilnehmen an dem, was sie
sagt und thut. Damit ist das charakteristische Merkmal des Dramas gegeben:
eine Person erscheint als eine andre, ohne sie zu sein, und spricht und handelt,
als ob sie diese andre Person thatsächlich wäre. Eine solche Erscheinung er¬
füllt das erste Erfordernis der Bildkunst: sie giebt eine bildliche Vorstellung
in einem dem ursprünglichen Gegenstände der Vorstellung fremden Stoffe, der
seine ihm selbst eignende Gestaltung zurücksetzt, um die fremde anzunehmen.
Während aber sonst in der Bildkunst dieser Stoff leblos ist, die dargestellte
Person somit in ihrem. Dasein und Handeln zu ewigem Stillstande verurteilt
bleibt, wird hier ein lebendiger Stoff, ein lebender Mensch benutzt, der, indem
er selbst spricht und handelt, auch die vorgestellte Person in zeitlichem Ver¬
laufe des Sprechens und Handelns erscheinen lassen kann. Dieser Vorzug
vor der Bildkunst muß freilich teuer erkauft werden. In der Bildkunst erstarrt
zwar der dargestellte Augenblick zur Ewigkeit, aber die Erscheinung selbst wird
dadurch der Vergänglichkeit des Augenblicks entrissen; in dem dramatischen
Kunstwerk jedoch, in dem sich die Handlung selbst vor uusern Unger in der
Zeit vollziehen kann, geht mit der Zeit auch die Erscheinung selbst verloren.

Ist dieser entscheidende Schritt, durch den das Drama entsteht, mit der
Hauptperson gethan, so muß dasselbe nun auch bei den Personen geschehen,
die mit der Hauptperson in Verkehr treten, sodaß eine Mehrheit von
Sprechenden und Handelnden entsteht. Dieser Umstand ist für die Belebung
der Handlung wichtig, er ist aber nicht das Entscheidende und somit auch nicht
das Wesentliche für das Vorhandensein des Dramas. Wohl aber ist er
wesentlich für die Frage, aus welchem Kultus sich das Drama mit einer
gewissen Notwendigkeit bilden mußte.

Wenn die Gottheit unnahbar über dem Menschen schwebt, wenn sie ihm
dadurch entweder überhaupt uicht zur bildlichen Erscheinung gelangt oder doch
zu erhaben ist, um mit ihm in sprechenden und handelnden Verkehr zu treten,


Tempel und Theater

Ereignisse die Macht der Gottheit beglaubigt worden ist, wie sie helfend und
tröstend, richtend und strafend in das Getreide der Menschen eingegriffen hat.
Wenn nun der Gesang ertönt, der die Gottheit an dieser Thaten willen preist,
wenn der Priester die Erzählung ergänzt und ausführt, so sieht der Gläubige
den Vorgang zugleich leibhaftig vor sich; er kaun sich die Handlung aufs
lebendigste vorstellen, da er zugleich den Träger der Handlung verkörpert vor
sich sieht. Aber noch ist ein Riß zwischen der Erzählung und der Erscheinung:
die Erzählung schreitet mit der Handlung lebendig fort, die bildliche Darstellung
bleibt ewig unbewegt stehen. Soll dieser Riß ausgefüllt werden, so muß die
Gottheit aus der starren Unbeweglichkeit heraustreten und lebendig vor den
Menschen erscheinen, sie muß selbst handeln, sie naß selbst reden und erzählen,
erleben und erleben lassen. Zögere sie zu erscheinen, so hüllt sich der
Priester in ihre Tracht, er nimmt ihre Züge an, und nun tritt sie thatsächlich
und leibhaftig unter die Menschen und läßt sie teilnehmen an dem, was sie
sagt und thut. Damit ist das charakteristische Merkmal des Dramas gegeben:
eine Person erscheint als eine andre, ohne sie zu sein, und spricht und handelt,
als ob sie diese andre Person thatsächlich wäre. Eine solche Erscheinung er¬
füllt das erste Erfordernis der Bildkunst: sie giebt eine bildliche Vorstellung
in einem dem ursprünglichen Gegenstände der Vorstellung fremden Stoffe, der
seine ihm selbst eignende Gestaltung zurücksetzt, um die fremde anzunehmen.
Während aber sonst in der Bildkunst dieser Stoff leblos ist, die dargestellte
Person somit in ihrem. Dasein und Handeln zu ewigem Stillstande verurteilt
bleibt, wird hier ein lebendiger Stoff, ein lebender Mensch benutzt, der, indem
er selbst spricht und handelt, auch die vorgestellte Person in zeitlichem Ver¬
laufe des Sprechens und Handelns erscheinen lassen kann. Dieser Vorzug
vor der Bildkunst muß freilich teuer erkauft werden. In der Bildkunst erstarrt
zwar der dargestellte Augenblick zur Ewigkeit, aber die Erscheinung selbst wird
dadurch der Vergänglichkeit des Augenblicks entrissen; in dem dramatischen
Kunstwerk jedoch, in dem sich die Handlung selbst vor uusern Unger in der
Zeit vollziehen kann, geht mit der Zeit auch die Erscheinung selbst verloren.

Ist dieser entscheidende Schritt, durch den das Drama entsteht, mit der
Hauptperson gethan, so muß dasselbe nun auch bei den Personen geschehen,
die mit der Hauptperson in Verkehr treten, sodaß eine Mehrheit von
Sprechenden und Handelnden entsteht. Dieser Umstand ist für die Belebung
der Handlung wichtig, er ist aber nicht das Entscheidende und somit auch nicht
das Wesentliche für das Vorhandensein des Dramas. Wohl aber ist er
wesentlich für die Frage, aus welchem Kultus sich das Drama mit einer
gewissen Notwendigkeit bilden mußte.

Wenn die Gottheit unnahbar über dem Menschen schwebt, wenn sie ihm
dadurch entweder überhaupt uicht zur bildlichen Erscheinung gelangt oder doch
zu erhaben ist, um mit ihm in sprechenden und handelnden Verkehr zu treten,


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[0075] Tempel und Theater Ereignisse die Macht der Gottheit beglaubigt worden ist, wie sie helfend und tröstend, richtend und strafend in das Getreide der Menschen eingegriffen hat. Wenn nun der Gesang ertönt, der die Gottheit an dieser Thaten willen preist, wenn der Priester die Erzählung ergänzt und ausführt, so sieht der Gläubige den Vorgang zugleich leibhaftig vor sich; er kaun sich die Handlung aufs lebendigste vorstellen, da er zugleich den Träger der Handlung verkörpert vor sich sieht. Aber noch ist ein Riß zwischen der Erzählung und der Erscheinung: die Erzählung schreitet mit der Handlung lebendig fort, die bildliche Darstellung bleibt ewig unbewegt stehen. Soll dieser Riß ausgefüllt werden, so muß die Gottheit aus der starren Unbeweglichkeit heraustreten und lebendig vor den Menschen erscheinen, sie muß selbst handeln, sie naß selbst reden und erzählen, erleben und erleben lassen. Zögere sie zu erscheinen, so hüllt sich der Priester in ihre Tracht, er nimmt ihre Züge an, und nun tritt sie thatsächlich und leibhaftig unter die Menschen und läßt sie teilnehmen an dem, was sie sagt und thut. Damit ist das charakteristische Merkmal des Dramas gegeben: eine Person erscheint als eine andre, ohne sie zu sein, und spricht und handelt, als ob sie diese andre Person thatsächlich wäre. Eine solche Erscheinung er¬ füllt das erste Erfordernis der Bildkunst: sie giebt eine bildliche Vorstellung in einem dem ursprünglichen Gegenstände der Vorstellung fremden Stoffe, der seine ihm selbst eignende Gestaltung zurücksetzt, um die fremde anzunehmen. Während aber sonst in der Bildkunst dieser Stoff leblos ist, die dargestellte Person somit in ihrem. Dasein und Handeln zu ewigem Stillstande verurteilt bleibt, wird hier ein lebendiger Stoff, ein lebender Mensch benutzt, der, indem er selbst spricht und handelt, auch die vorgestellte Person in zeitlichem Ver¬ laufe des Sprechens und Handelns erscheinen lassen kann. Dieser Vorzug vor der Bildkunst muß freilich teuer erkauft werden. In der Bildkunst erstarrt zwar der dargestellte Augenblick zur Ewigkeit, aber die Erscheinung selbst wird dadurch der Vergänglichkeit des Augenblicks entrissen; in dem dramatischen Kunstwerk jedoch, in dem sich die Handlung selbst vor uusern Unger in der Zeit vollziehen kann, geht mit der Zeit auch die Erscheinung selbst verloren. Ist dieser entscheidende Schritt, durch den das Drama entsteht, mit der Hauptperson gethan, so muß dasselbe nun auch bei den Personen geschehen, die mit der Hauptperson in Verkehr treten, sodaß eine Mehrheit von Sprechenden und Handelnden entsteht. Dieser Umstand ist für die Belebung der Handlung wichtig, er ist aber nicht das Entscheidende und somit auch nicht das Wesentliche für das Vorhandensein des Dramas. Wohl aber ist er wesentlich für die Frage, aus welchem Kultus sich das Drama mit einer gewissen Notwendigkeit bilden mußte. Wenn die Gottheit unnahbar über dem Menschen schwebt, wenn sie ihm dadurch entweder überhaupt uicht zur bildlichen Erscheinung gelangt oder doch zu erhaben ist, um mit ihm in sprechenden und handelnden Verkehr zu treten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/75>, abgerufen am 23.07.2024.