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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das Aufrücken der Lehrer an den höhern Unterrichtsanstalten Preußens

der Dreißiger steht, wahrend an der andern dieselbe Stelle erst von einem
Manne in den sechziger Jahren erreicht wird! Und der kau" noch von Glück
sagen, denn der ziemlich gleichaltrige zweite und dritte Oberlehrer, die mit
ihm an derselben Anstalt aufgestiegen sind, werden wahrscheinlich nie die erste
Stelle erlangen, obwohl der dritte Oberlehrer auch schon 36 Dienstjahre aus¬
zuweisen hat! Kann ein solcher Zustand die Berufsfreudigkeit heben? Ist es
zu verwundern, wenn dem dritten Oberlehrer nachgesagt wird, er sei ein Gries¬
gram, er sei langweilig, rege die Schüler nicht an und zeige überhaupt nicht
das rechte Interesse für die Schule?

Der Herr Kultusminister gab in den Sitzungen der beiden Häuser die
Erklärung ab, daß nach den Berichten unter 18S0 Lehrern nur 116 solche
seien, bei denen man "in der That anerkennen müsse, daß eine unverschuldete
Zurücksetzung der betreffenden Lehrer vorliege." Das ergiebt sechs vom Hundert.
Der Abgeordnete I)r. Enneceerus zog daraus den Schluß, den wohl anch jeder
andre ziehen wird, "daß die Zahlen nicht einen kleinen, sondern einen großen
Übelstand beweisen." Noch weit hoher aber würde die Zahl der unverschuldet
zurückgesetzten steigen, wenn darüber auch Erhebungen an den 290 städtischen
und stiftischen Anstalten angestellt worden wären, denn an den 190 staatlichen
Anstalten wird doch wenigstens ab und zu eine Ausgleichung versucht,
während sie dort geradezu unmöglich ist. Nach unsern allerdings nur einige
Provinzen, dort aber alle Anstalten (staatliche und uichtstaatliche) umfassenden
Beobachtungen können wir auch nicht der Behauptung des Herrn Kultus¬
ministers zustimmen, daß "die Verhältnisse sich seit 1885 wesentlich gebessert
hätten." Gerade an den städtischen Anstalten, wo bis dahin die Verhältnisse
etwas besser als an staatlichen Anstalten waren, haben sie sich seit jener Zeit
wesentlich verschlechtert.

Welchen Maßstab nun die Behörde angelegt hat, um zu ergründen, wie viele
Lehrer an staatlichen Anstalten unverschuldet im Gehalte zurückgeblieben sind, ent¬
zieht sich der Öffentlichkeit, denn die Lehrer haben leider keinen Maßstab, nach dem
sie Dienstalter und Gehalt vergleichen könnten. Juristen, Militärärzte, Bau¬
inspektoren u. a. wissen: Wenn du deine Pflicht thust und das oder das Dienstalter
erreichst, wirst du so und so viel Gehalt haben. Ein Familienvater der genannten
Beamtenklassen, der mit Sorge das schnelle Anwachsen seiner Familie betrachtet,
kann sich leicht damit trösten: Nun, in zwei oder drei Jahren erhältst dn ja
wieder eine Zulage, da wirst du also der Zukunft getrost entgegensehen können!
Nur der Lehrer kann sich eine solche tröstliche Aussicht nicht machen. Den andern
akademisch gebildeten Beamten hat der Staat gewissermaßen die Zukunft sicher
gestellt, während sie für den Lehrer eine offene Frage bildet. Kann es da
Wunder nehmen, wenn die Zahl der Junggesellen im höhern Lehrerstande von
Jahr zu Jahr wächst? Daß das aber ein Segen für die Schulen sei und
gesunde Verhältnisse verrate, wird wohl niemand behaupten.


Das Aufrücken der Lehrer an den höhern Unterrichtsanstalten Preußens

der Dreißiger steht, wahrend an der andern dieselbe Stelle erst von einem
Manne in den sechziger Jahren erreicht wird! Und der kau» noch von Glück
sagen, denn der ziemlich gleichaltrige zweite und dritte Oberlehrer, die mit
ihm an derselben Anstalt aufgestiegen sind, werden wahrscheinlich nie die erste
Stelle erlangen, obwohl der dritte Oberlehrer auch schon 36 Dienstjahre aus¬
zuweisen hat! Kann ein solcher Zustand die Berufsfreudigkeit heben? Ist es
zu verwundern, wenn dem dritten Oberlehrer nachgesagt wird, er sei ein Gries¬
gram, er sei langweilig, rege die Schüler nicht an und zeige überhaupt nicht
das rechte Interesse für die Schule?

Der Herr Kultusminister gab in den Sitzungen der beiden Häuser die
Erklärung ab, daß nach den Berichten unter 18S0 Lehrern nur 116 solche
seien, bei denen man „in der That anerkennen müsse, daß eine unverschuldete
Zurücksetzung der betreffenden Lehrer vorliege." Das ergiebt sechs vom Hundert.
Der Abgeordnete I)r. Enneceerus zog daraus den Schluß, den wohl anch jeder
andre ziehen wird, „daß die Zahlen nicht einen kleinen, sondern einen großen
Übelstand beweisen." Noch weit hoher aber würde die Zahl der unverschuldet
zurückgesetzten steigen, wenn darüber auch Erhebungen an den 290 städtischen
und stiftischen Anstalten angestellt worden wären, denn an den 190 staatlichen
Anstalten wird doch wenigstens ab und zu eine Ausgleichung versucht,
während sie dort geradezu unmöglich ist. Nach unsern allerdings nur einige
Provinzen, dort aber alle Anstalten (staatliche und uichtstaatliche) umfassenden
Beobachtungen können wir auch nicht der Behauptung des Herrn Kultus¬
ministers zustimmen, daß „die Verhältnisse sich seit 1885 wesentlich gebessert
hätten." Gerade an den städtischen Anstalten, wo bis dahin die Verhältnisse
etwas besser als an staatlichen Anstalten waren, haben sie sich seit jener Zeit
wesentlich verschlechtert.

Welchen Maßstab nun die Behörde angelegt hat, um zu ergründen, wie viele
Lehrer an staatlichen Anstalten unverschuldet im Gehalte zurückgeblieben sind, ent¬
zieht sich der Öffentlichkeit, denn die Lehrer haben leider keinen Maßstab, nach dem
sie Dienstalter und Gehalt vergleichen könnten. Juristen, Militärärzte, Bau¬
inspektoren u. a. wissen: Wenn du deine Pflicht thust und das oder das Dienstalter
erreichst, wirst du so und so viel Gehalt haben. Ein Familienvater der genannten
Beamtenklassen, der mit Sorge das schnelle Anwachsen seiner Familie betrachtet,
kann sich leicht damit trösten: Nun, in zwei oder drei Jahren erhältst dn ja
wieder eine Zulage, da wirst du also der Zukunft getrost entgegensehen können!
Nur der Lehrer kann sich eine solche tröstliche Aussicht nicht machen. Den andern
akademisch gebildeten Beamten hat der Staat gewissermaßen die Zukunft sicher
gestellt, während sie für den Lehrer eine offene Frage bildet. Kann es da
Wunder nehmen, wenn die Zahl der Junggesellen im höhern Lehrerstande von
Jahr zu Jahr wächst? Daß das aber ein Segen für die Schulen sei und
gesunde Verhältnisse verrate, wird wohl niemand behaupten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/69>, abgerufen am 25.08.2024.