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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Herrn Tok'iassens Weihnachtsabend

Herr Tvbiasfe" nahm die Hand in die feurige, und was geschah? Nach
kurzem Bedenken hob er den kleinen Herrn ganz auf sein Knie, legte seinen
Arm um den kleinen, runden ^eib, ein denkendes Kindergesicht wandte sich
it)>n zu, und ein paar blaue Kinderaugen blickten in sein altes Gesicht,

Es fühlte sich so wunderbar an, so wunderbar! Es wurde ihm so warm
ums Herz, es zog ihm wie feuchte Frnhjahrswärme durch die Brust, es wollte
emporquellen, wie eine Woge und wie Regen Hermiederströmen über seine
rnnzligeu Backen, über es löste sich in ein Lächeln auf, das wie Sonnenschein
über den Kleinen strahlte und das ganze gefurchte Antlitz erleuchtete.

Der junge Familienvater schwieg plötzlich. Es war etwas in dieser
Gruppe, das selbst seinen Schönheitssinn befriedigte, und von einem augen-
blicklichen Einfall getrieben, sagte er: Willi, gieb dem Großpapa einen Kuß!
Das Wort kam ihm in den Mund, ehe ers dachte.

Der Kleine sah den Alten einen Augenblick wie Prüfend an, dann stützte
er die Hände gegen seiue Brust und hielt ihm mit ernsthafter Miene seinen
frischen, roten Kindermund entgegen. Der Alte beugte sich nieder und
küßte ihn.

Der Kleine wird nie einen andern Großvater zu sehen bekommen, sagte
der junge Mann, Pupa lebte nicht so lauge, daß er Enkel zu sehen bekam,
er -- der Arme! Aber so hätte es eigentlich sein müssen: Du, Onkel, solltest
jetzt Enkel haben.

Es entstand eine Pause. Herr Tobiasseu legte seiue Zigarre weg, die
sast ausgeraucht war, und die er vergessen hatte in Brand zu halten.

Ja, so hätte es eigentlich sein müssen, klang es durch seiue Seele. Er
hätte ein Großvater sein können mit Enkeln ans den Knieen. Aber er hatte
ein Glied in der Kette übersprungen. Großvater -- wie eigentümlich das
klang! Es war nur ein unschuldiger Scherz, aber er warf ein Licht über sein
ganzes vergangenes Leben.

Zum erstenmal fühlte Herr Tobiassen, daß sich nie etwas Unterscheiden¬
des in seinem Verhältnis zu andern Menschen gefunden habe. Er hatte
die gleichen Verpflichtungen gegen alle gefühlt, und deshalb hatte es nie aus¬
gereicht, die unverhältnismäßigen Forderungen zu befriedigen. ES war der
gänzliche Mangel an Fähigkeit, über- oder unterzuordnen, der ihn gehindert
hatte, das Liebevolle seiner Natur zur vollen Blüte zu entfalten, um es daun
in Frucht und Kern reifen zu lassen. Das eine Verhalten hatte das andre
erstickt, sodaß es nicht zur Entwicklung gekommen war.

Während Herr Tobiasseu diesen Grübeleien nachhing, war die Hausfrau
mich Kaffee gegangen, den sie nun selbst hereinbrachte und auf einen kleinen
Tisch stellte, während der Manu eifrig beschäftigt war, deu Kork aus einer
Liqueurflasche zu ziehen.

Du darfst nicht glauben, Onkel, daß wir unter gewöhnlichen Verhältnissen


Herrn Tok'iassens Weihnachtsabend

Herr Tvbiasfe» nahm die Hand in die feurige, und was geschah? Nach
kurzem Bedenken hob er den kleinen Herrn ganz auf sein Knie, legte seinen
Arm um den kleinen, runden ^eib, ein denkendes Kindergesicht wandte sich
it)>n zu, und ein paar blaue Kinderaugen blickten in sein altes Gesicht,

Es fühlte sich so wunderbar an, so wunderbar! Es wurde ihm so warm
ums Herz, es zog ihm wie feuchte Frnhjahrswärme durch die Brust, es wollte
emporquellen, wie eine Woge und wie Regen Hermiederströmen über seine
rnnzligeu Backen, über es löste sich in ein Lächeln auf, das wie Sonnenschein
über den Kleinen strahlte und das ganze gefurchte Antlitz erleuchtete.

Der junge Familienvater schwieg plötzlich. Es war etwas in dieser
Gruppe, das selbst seinen Schönheitssinn befriedigte, und von einem augen-
blicklichen Einfall getrieben, sagte er: Willi, gieb dem Großpapa einen Kuß!
Das Wort kam ihm in den Mund, ehe ers dachte.

Der Kleine sah den Alten einen Augenblick wie Prüfend an, dann stützte
er die Hände gegen seiue Brust und hielt ihm mit ernsthafter Miene seinen
frischen, roten Kindermund entgegen. Der Alte beugte sich nieder und
küßte ihn.

Der Kleine wird nie einen andern Großvater zu sehen bekommen, sagte
der junge Mann, Pupa lebte nicht so lauge, daß er Enkel zu sehen bekam,
er — der Arme! Aber so hätte es eigentlich sein müssen: Du, Onkel, solltest
jetzt Enkel haben.

Es entstand eine Pause. Herr Tobiasseu legte seiue Zigarre weg, die
sast ausgeraucht war, und die er vergessen hatte in Brand zu halten.

Ja, so hätte es eigentlich sein müssen, klang es durch seiue Seele. Er
hätte ein Großvater sein können mit Enkeln ans den Knieen. Aber er hatte
ein Glied in der Kette übersprungen. Großvater — wie eigentümlich das
klang! Es war nur ein unschuldiger Scherz, aber er warf ein Licht über sein
ganzes vergangenes Leben.

Zum erstenmal fühlte Herr Tobiassen, daß sich nie etwas Unterscheiden¬
des in seinem Verhältnis zu andern Menschen gefunden habe. Er hatte
die gleichen Verpflichtungen gegen alle gefühlt, und deshalb hatte es nie aus¬
gereicht, die unverhältnismäßigen Forderungen zu befriedigen. ES war der
gänzliche Mangel an Fähigkeit, über- oder unterzuordnen, der ihn gehindert
hatte, das Liebevolle seiner Natur zur vollen Blüte zu entfalten, um es daun
in Frucht und Kern reifen zu lassen. Das eine Verhalten hatte das andre
erstickt, sodaß es nicht zur Entwicklung gekommen war.

Während Herr Tobiasseu diesen Grübeleien nachhing, war die Hausfrau
mich Kaffee gegangen, den sie nun selbst hereinbrachte und auf einen kleinen
Tisch stellte, während der Manu eifrig beschäftigt war, deu Kork aus einer
Liqueurflasche zu ziehen.

Du darfst nicht glauben, Onkel, daß wir unter gewöhnlichen Verhältnissen


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[0634] Herrn Tok'iassens Weihnachtsabend Herr Tvbiasfe» nahm die Hand in die feurige, und was geschah? Nach kurzem Bedenken hob er den kleinen Herrn ganz auf sein Knie, legte seinen Arm um den kleinen, runden ^eib, ein denkendes Kindergesicht wandte sich it)>n zu, und ein paar blaue Kinderaugen blickten in sein altes Gesicht, Es fühlte sich so wunderbar an, so wunderbar! Es wurde ihm so warm ums Herz, es zog ihm wie feuchte Frnhjahrswärme durch die Brust, es wollte emporquellen, wie eine Woge und wie Regen Hermiederströmen über seine rnnzligeu Backen, über es löste sich in ein Lächeln auf, das wie Sonnenschein über den Kleinen strahlte und das ganze gefurchte Antlitz erleuchtete. Der junge Familienvater schwieg plötzlich. Es war etwas in dieser Gruppe, das selbst seinen Schönheitssinn befriedigte, und von einem augen- blicklichen Einfall getrieben, sagte er: Willi, gieb dem Großpapa einen Kuß! Das Wort kam ihm in den Mund, ehe ers dachte. Der Kleine sah den Alten einen Augenblick wie Prüfend an, dann stützte er die Hände gegen seiue Brust und hielt ihm mit ernsthafter Miene seinen frischen, roten Kindermund entgegen. Der Alte beugte sich nieder und küßte ihn. Der Kleine wird nie einen andern Großvater zu sehen bekommen, sagte der junge Mann, Pupa lebte nicht so lauge, daß er Enkel zu sehen bekam, er — der Arme! Aber so hätte es eigentlich sein müssen: Du, Onkel, solltest jetzt Enkel haben. Es entstand eine Pause. Herr Tobiasseu legte seiue Zigarre weg, die sast ausgeraucht war, und die er vergessen hatte in Brand zu halten. Ja, so hätte es eigentlich sein müssen, klang es durch seiue Seele. Er hätte ein Großvater sein können mit Enkeln ans den Knieen. Aber er hatte ein Glied in der Kette übersprungen. Großvater — wie eigentümlich das klang! Es war nur ein unschuldiger Scherz, aber er warf ein Licht über sein ganzes vergangenes Leben. Zum erstenmal fühlte Herr Tobiassen, daß sich nie etwas Unterscheiden¬ des in seinem Verhältnis zu andern Menschen gefunden habe. Er hatte die gleichen Verpflichtungen gegen alle gefühlt, und deshalb hatte es nie aus¬ gereicht, die unverhältnismäßigen Forderungen zu befriedigen. ES war der gänzliche Mangel an Fähigkeit, über- oder unterzuordnen, der ihn gehindert hatte, das Liebevolle seiner Natur zur vollen Blüte zu entfalten, um es daun in Frucht und Kern reifen zu lassen. Das eine Verhalten hatte das andre erstickt, sodaß es nicht zur Entwicklung gekommen war. Während Herr Tobiasseu diesen Grübeleien nachhing, war die Hausfrau mich Kaffee gegangen, den sie nun selbst hereinbrachte und auf einen kleinen Tisch stellte, während der Manu eifrig beschäftigt war, deu Kork aus einer Liqueurflasche zu ziehen. Du darfst nicht glauben, Onkel, daß wir unter gewöhnlichen Verhältnissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/634>, abgerufen am 26.06.2024.