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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Herrn Tobiassons Weihnachtsabend

Über Kinder wußte er ebensowenig Bescheid wie über die Ehe; junge Studenten
und alte Junggesellen waren sein einziger llmgaug gewesen. Wohl war er
daran gewöhnt, auf Straßen und Promenaden solchen Purzeln zu begegnen,
begleitet von Muttern oder Kindermädchen; er hatte eine gewisse Ehrfurcht vor
ihnen, wie vor etwas von tiefer und geheimnisvoller Bedeutung; aber zu¬
gleich vor etwas, das ihm unbekannt war wie ein fremder Kultus. Kinder
waren ihm einfach das heranwachsende nächste Geschlecht und bestanden für
ihn eigentlich nicht ans Einzelwesen. Er hätte sie ebensowenig von einander
unterscheiden können, wie ein Ameisenei vom andern.

Daß die Weiber ihre Kinder warteten, erschien ihm ebenso berechtigt, als
daß die Ameisen ihre plumpen Larven im Sonnenschein herumschleppten; aber
daß das irgendwie einen Mann etwas angehen könnte, war ihm nie eingefallen,
deshalb hatte er nie die geringste Lust gespürt, sich einer dieser kleinen dicken
herumpurzelnden Menschenlarven zu nähern. Im Gegenteil, er ging ihnen aus
dem Wege.

Was zunächst seine Aufmerksamkeit bei dem Kleinen fesselte, war, daß es
ihm vorkam, als fände sich in dem rundlichen Gesicht ein Spiel von wechseln¬
den Seelenregungen, die er einem so unentwickelten Wesen gar nicht zugetraut
hätte. Der Kleine war dahintergekommen, daß er Gegenstand der Aufmerk¬
samkeit geworden war, und hierdurch wurde seine Art, sich zu benehmen, ganz
verändert; es war eine gewisse Gesnchtheit hineingekommen, jn man konnte
sagen, ein gewisses Selbstbewußtsein.

Nachdem er sich erst mit dem Anschein unzugänglichen Mißtrauens in
der Ferne gehalten hatte, begann er nun näher zu rücken, aber immer unter
einer Miene von Gleichgiltigkeit, die sich außerordentlich komisch aufnahm. Die
Eltern, an ihn gewöhnt, achteten nicht ans diese kleine Komödie, die sozusagen
hinter den Coulissen spielte. Das war ja gewöhnliche Kinderart und nichts,
worauf man sich einzulassen hatte. Aber Herr Tvbiassen war bis zum Er¬
staunen verwundert. Das mußte doch ein ganz ausnehmend entwickeltes
Kind sein, ein wirkliches kleines Wunderkind. Sollten die Eltern das uicht
bemerkt haben? Dieses Geschöpf in seinem t'nrzen Kinderröckchen und
mit seinen traiter Beinchen war ein vernnnftbegabter Mensch, bereits mit
den Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur ausgerüstet, mit Stimmungs¬
wechsel, ja selbst mit kleinen Drolligteiten. Herr Tvbiassen hatte beinahe Last,
im Übermaß der Erregung auszurufen: Er denkt -- er denkt ganz bestimmt!
Aber er schämte sich. Die Eltern thaten, als ob das zur täglichen Ge¬
wohnheit gehörte; Herr Tvbiassen fürchtete, sich ihnen uicht verständlich
machen zu können. Sie mußten keinen Blick für so etwas haben.

Aber er beobachtete es in aller Stille mit kindlicher Freude. Es war,
als wenn er eine Entdeckung gemacht hätte, die so staunenerregend nen war,
daß er uicht wagte, sie jemand anzuvertrauen, und er fühlte zugleich eine Art


Herrn Tobiassons Weihnachtsabend

Über Kinder wußte er ebensowenig Bescheid wie über die Ehe; junge Studenten
und alte Junggesellen waren sein einziger llmgaug gewesen. Wohl war er
daran gewöhnt, auf Straßen und Promenaden solchen Purzeln zu begegnen,
begleitet von Muttern oder Kindermädchen; er hatte eine gewisse Ehrfurcht vor
ihnen, wie vor etwas von tiefer und geheimnisvoller Bedeutung; aber zu¬
gleich vor etwas, das ihm unbekannt war wie ein fremder Kultus. Kinder
waren ihm einfach das heranwachsende nächste Geschlecht und bestanden für
ihn eigentlich nicht ans Einzelwesen. Er hätte sie ebensowenig von einander
unterscheiden können, wie ein Ameisenei vom andern.

Daß die Weiber ihre Kinder warteten, erschien ihm ebenso berechtigt, als
daß die Ameisen ihre plumpen Larven im Sonnenschein herumschleppten; aber
daß das irgendwie einen Mann etwas angehen könnte, war ihm nie eingefallen,
deshalb hatte er nie die geringste Lust gespürt, sich einer dieser kleinen dicken
herumpurzelnden Menschenlarven zu nähern. Im Gegenteil, er ging ihnen aus
dem Wege.

Was zunächst seine Aufmerksamkeit bei dem Kleinen fesselte, war, daß es
ihm vorkam, als fände sich in dem rundlichen Gesicht ein Spiel von wechseln¬
den Seelenregungen, die er einem so unentwickelten Wesen gar nicht zugetraut
hätte. Der Kleine war dahintergekommen, daß er Gegenstand der Aufmerk¬
samkeit geworden war, und hierdurch wurde seine Art, sich zu benehmen, ganz
verändert; es war eine gewisse Gesnchtheit hineingekommen, jn man konnte
sagen, ein gewisses Selbstbewußtsein.

Nachdem er sich erst mit dem Anschein unzugänglichen Mißtrauens in
der Ferne gehalten hatte, begann er nun näher zu rücken, aber immer unter
einer Miene von Gleichgiltigkeit, die sich außerordentlich komisch aufnahm. Die
Eltern, an ihn gewöhnt, achteten nicht ans diese kleine Komödie, die sozusagen
hinter den Coulissen spielte. Das war ja gewöhnliche Kinderart und nichts,
worauf man sich einzulassen hatte. Aber Herr Tvbiassen war bis zum Er¬
staunen verwundert. Das mußte doch ein ganz ausnehmend entwickeltes
Kind sein, ein wirkliches kleines Wunderkind. Sollten die Eltern das uicht
bemerkt haben? Dieses Geschöpf in seinem t'nrzen Kinderröckchen und
mit seinen traiter Beinchen war ein vernnnftbegabter Mensch, bereits mit
den Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur ausgerüstet, mit Stimmungs¬
wechsel, ja selbst mit kleinen Drolligteiten. Herr Tvbiassen hatte beinahe Last,
im Übermaß der Erregung auszurufen: Er denkt — er denkt ganz bestimmt!
Aber er schämte sich. Die Eltern thaten, als ob das zur täglichen Ge¬
wohnheit gehörte; Herr Tvbiassen fürchtete, sich ihnen uicht verständlich
machen zu können. Sie mußten keinen Blick für so etwas haben.

Aber er beobachtete es in aller Stille mit kindlicher Freude. Es war,
als wenn er eine Entdeckung gemacht hätte, die so staunenerregend nen war,
daß er uicht wagte, sie jemand anzuvertrauen, und er fühlte zugleich eine Art


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[0632] Herrn Tobiassons Weihnachtsabend Über Kinder wußte er ebensowenig Bescheid wie über die Ehe; junge Studenten und alte Junggesellen waren sein einziger llmgaug gewesen. Wohl war er daran gewöhnt, auf Straßen und Promenaden solchen Purzeln zu begegnen, begleitet von Muttern oder Kindermädchen; er hatte eine gewisse Ehrfurcht vor ihnen, wie vor etwas von tiefer und geheimnisvoller Bedeutung; aber zu¬ gleich vor etwas, das ihm unbekannt war wie ein fremder Kultus. Kinder waren ihm einfach das heranwachsende nächste Geschlecht und bestanden für ihn eigentlich nicht ans Einzelwesen. Er hätte sie ebensowenig von einander unterscheiden können, wie ein Ameisenei vom andern. Daß die Weiber ihre Kinder warteten, erschien ihm ebenso berechtigt, als daß die Ameisen ihre plumpen Larven im Sonnenschein herumschleppten; aber daß das irgendwie einen Mann etwas angehen könnte, war ihm nie eingefallen, deshalb hatte er nie die geringste Lust gespürt, sich einer dieser kleinen dicken herumpurzelnden Menschenlarven zu nähern. Im Gegenteil, er ging ihnen aus dem Wege. Was zunächst seine Aufmerksamkeit bei dem Kleinen fesselte, war, daß es ihm vorkam, als fände sich in dem rundlichen Gesicht ein Spiel von wechseln¬ den Seelenregungen, die er einem so unentwickelten Wesen gar nicht zugetraut hätte. Der Kleine war dahintergekommen, daß er Gegenstand der Aufmerk¬ samkeit geworden war, und hierdurch wurde seine Art, sich zu benehmen, ganz verändert; es war eine gewisse Gesnchtheit hineingekommen, jn man konnte sagen, ein gewisses Selbstbewußtsein. Nachdem er sich erst mit dem Anschein unzugänglichen Mißtrauens in der Ferne gehalten hatte, begann er nun näher zu rücken, aber immer unter einer Miene von Gleichgiltigkeit, die sich außerordentlich komisch aufnahm. Die Eltern, an ihn gewöhnt, achteten nicht ans diese kleine Komödie, die sozusagen hinter den Coulissen spielte. Das war ja gewöhnliche Kinderart und nichts, worauf man sich einzulassen hatte. Aber Herr Tvbiassen war bis zum Er¬ staunen verwundert. Das mußte doch ein ganz ausnehmend entwickeltes Kind sein, ein wirkliches kleines Wunderkind. Sollten die Eltern das uicht bemerkt haben? Dieses Geschöpf in seinem t'nrzen Kinderröckchen und mit seinen traiter Beinchen war ein vernnnftbegabter Mensch, bereits mit den Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur ausgerüstet, mit Stimmungs¬ wechsel, ja selbst mit kleinen Drolligteiten. Herr Tvbiassen hatte beinahe Last, im Übermaß der Erregung auszurufen: Er denkt — er denkt ganz bestimmt! Aber er schämte sich. Die Eltern thaten, als ob das zur täglichen Ge¬ wohnheit gehörte; Herr Tvbiassen fürchtete, sich ihnen uicht verständlich machen zu können. Sie mußten keinen Blick für so etwas haben. Aber er beobachtete es in aller Stille mit kindlicher Freude. Es war, als wenn er eine Entdeckung gemacht hätte, die so staunenerregend nen war, daß er uicht wagte, sie jemand anzuvertrauen, und er fühlte zugleich eine Art

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/632>, abgerufen am 23.07.2024.