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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Zur Schulrede des Kaisers

mi Schule und Gesellschaft ergehen, dies erweckt die Hoffnung, daß wir ihrer
Herr werden können, ohne zu Maßregeln greifen zu müssen, die dem christ¬
lichen Geiste fremd sind.

Eine ungeheure Unruhe geht durch die heutige Gesellschaft. Die Er-
ziehungsfrage hat nicht wenig dazu beigetragen, denn sie greift in jede Familie
ein und berührt deren heiligste Interessen. Eine Menge Unzufriedenheit hat
sich hier angesammelt, weil ja die Familie in Schulsachen ganz mundtot ge
macht war, und der Büreaukratismns hier seine schönsten Triumphe feierte.
Daß unser Kaiser sich zum Sprecher der Familienväter gemacht hat, das wird
ihm überall hoch angerechnet werden. Daß er freie Bewegung und Raum zu
freier Entfaltung gebe" will, das wird ihm das heranwachsende Geschlecht
danken, das unter der Wisseusfracht von hundert Kamelen seufzte und über
allen Einzelheiten den Blick auf das Ganze verlor und viel all Frische und Be¬
weglichkeit des Geistes wie des .Körpers einbüßte. Die vielgerühmte Gymnastik
des Geistes aber -- gewöhnlich formale Bildung genannt -- ist ein Trugbild,
das vor deu Ergebnissen der neuern Psychologie nicht Stand zu halten vermag
und von einsichtigen Schulmännern deshalb auch längst aufgegeben ist.

Ebenso ist der berüchtigte Satz eines bekannten Philologen überwunden:
Mit dem. lateinischen Aufsatz steht und fällt das Gymnasium. Nach den
Worten des Kaisers dürfte der lateinische Aufsatz endgiltig beseitigt sein und
das deutsche Gymnasium erst recht leben, dadurch daß die deutsche Arbeit,
deutscher Aufsatz und deutsche Geschichte, in den Mittelpunkt des Ganzen
gerückt wird. Denn es ist klar, daß wenn die Schule im Zögling die
Bildung einer religiös-sittlichen Persönlichkeit anstreben soll, dies zugleich
in dem Sinne geschieht, daß sie sich dereinst an der nationalen Kulturarbeit
beteiligen soll je nach dein Maß und den Kräften und an der Stelle, die jedem
seine Eigenart zuweist. Darum ein tiefgehender Geschichtsunterricht, der bis
an die Schwelle der neuen Zeit führt und als Gesinnuugsunterricht die Über¬
mittelung der Kenntnisse vor allem dazu benutzt, das Gemüt zu packen und
den Willen zu beeinflussen. Auch hier hat der Kaiser das erlösende Wort
gesprochen.

Weiter darin, daß die wöchentliche Stundenzahl für Schul- und Haus¬
arbeit beschränkt werde" müsse, um Platz für freigewühlte Beschäftigung
und Spiel zu gewinne". Wie viel unnütze Zeit in deu Sprnchstuudeu vertrödelt
wird, weiß jederman". Und doch beanspruchen die Herren Philologen immer
mehr und jammern bei jeder Verkürzung, daß die Welt untergehen werde.
Wer in den Lchrplnn der preußische" Gymnasien aus dem Jahre 1816 blickt,
der sieht, daß die Stundenzahl für Latein und Griechisch damals geringer
war als jetzt. Und doch waren unsre Bäter nach aller Meinung bessere
Lateiner und bessere Griechen! Die Stundenzahl allein thuts also nicht. Wir
sollten meinen, daß, wenn ein normal angelegter Schüler in der Schule täglich


Zur Schulrede des Kaisers

mi Schule und Gesellschaft ergehen, dies erweckt die Hoffnung, daß wir ihrer
Herr werden können, ohne zu Maßregeln greifen zu müssen, die dem christ¬
lichen Geiste fremd sind.

Eine ungeheure Unruhe geht durch die heutige Gesellschaft. Die Er-
ziehungsfrage hat nicht wenig dazu beigetragen, denn sie greift in jede Familie
ein und berührt deren heiligste Interessen. Eine Menge Unzufriedenheit hat
sich hier angesammelt, weil ja die Familie in Schulsachen ganz mundtot ge
macht war, und der Büreaukratismns hier seine schönsten Triumphe feierte.
Daß unser Kaiser sich zum Sprecher der Familienväter gemacht hat, das wird
ihm überall hoch angerechnet werden. Daß er freie Bewegung und Raum zu
freier Entfaltung gebe» will, das wird ihm das heranwachsende Geschlecht
danken, das unter der Wisseusfracht von hundert Kamelen seufzte und über
allen Einzelheiten den Blick auf das Ganze verlor und viel all Frische und Be¬
weglichkeit des Geistes wie des .Körpers einbüßte. Die vielgerühmte Gymnastik
des Geistes aber — gewöhnlich formale Bildung genannt — ist ein Trugbild,
das vor deu Ergebnissen der neuern Psychologie nicht Stand zu halten vermag
und von einsichtigen Schulmännern deshalb auch längst aufgegeben ist.

Ebenso ist der berüchtigte Satz eines bekannten Philologen überwunden:
Mit dem. lateinischen Aufsatz steht und fällt das Gymnasium. Nach den
Worten des Kaisers dürfte der lateinische Aufsatz endgiltig beseitigt sein und
das deutsche Gymnasium erst recht leben, dadurch daß die deutsche Arbeit,
deutscher Aufsatz und deutsche Geschichte, in den Mittelpunkt des Ganzen
gerückt wird. Denn es ist klar, daß wenn die Schule im Zögling die
Bildung einer religiös-sittlichen Persönlichkeit anstreben soll, dies zugleich
in dem Sinne geschieht, daß sie sich dereinst an der nationalen Kulturarbeit
beteiligen soll je nach dein Maß und den Kräften und an der Stelle, die jedem
seine Eigenart zuweist. Darum ein tiefgehender Geschichtsunterricht, der bis
an die Schwelle der neuen Zeit führt und als Gesinnuugsunterricht die Über¬
mittelung der Kenntnisse vor allem dazu benutzt, das Gemüt zu packen und
den Willen zu beeinflussen. Auch hier hat der Kaiser das erlösende Wort
gesprochen.

Weiter darin, daß die wöchentliche Stundenzahl für Schul- und Haus¬
arbeit beschränkt werde» müsse, um Platz für freigewühlte Beschäftigung
und Spiel zu gewinne». Wie viel unnütze Zeit in deu Sprnchstuudeu vertrödelt
wird, weiß jederman». Und doch beanspruchen die Herren Philologen immer
mehr und jammern bei jeder Verkürzung, daß die Welt untergehen werde.
Wer in den Lchrplnn der preußische« Gymnasien aus dem Jahre 1816 blickt,
der sieht, daß die Stundenzahl für Latein und Griechisch damals geringer
war als jetzt. Und doch waren unsre Bäter nach aller Meinung bessere
Lateiner und bessere Griechen! Die Stundenzahl allein thuts also nicht. Wir
sollten meinen, daß, wenn ein normal angelegter Schüler in der Schule täglich


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[0548] Zur Schulrede des Kaisers mi Schule und Gesellschaft ergehen, dies erweckt die Hoffnung, daß wir ihrer Herr werden können, ohne zu Maßregeln greifen zu müssen, die dem christ¬ lichen Geiste fremd sind. Eine ungeheure Unruhe geht durch die heutige Gesellschaft. Die Er- ziehungsfrage hat nicht wenig dazu beigetragen, denn sie greift in jede Familie ein und berührt deren heiligste Interessen. Eine Menge Unzufriedenheit hat sich hier angesammelt, weil ja die Familie in Schulsachen ganz mundtot ge macht war, und der Büreaukratismns hier seine schönsten Triumphe feierte. Daß unser Kaiser sich zum Sprecher der Familienväter gemacht hat, das wird ihm überall hoch angerechnet werden. Daß er freie Bewegung und Raum zu freier Entfaltung gebe» will, das wird ihm das heranwachsende Geschlecht danken, das unter der Wisseusfracht von hundert Kamelen seufzte und über allen Einzelheiten den Blick auf das Ganze verlor und viel all Frische und Be¬ weglichkeit des Geistes wie des .Körpers einbüßte. Die vielgerühmte Gymnastik des Geistes aber — gewöhnlich formale Bildung genannt — ist ein Trugbild, das vor deu Ergebnissen der neuern Psychologie nicht Stand zu halten vermag und von einsichtigen Schulmännern deshalb auch längst aufgegeben ist. Ebenso ist der berüchtigte Satz eines bekannten Philologen überwunden: Mit dem. lateinischen Aufsatz steht und fällt das Gymnasium. Nach den Worten des Kaisers dürfte der lateinische Aufsatz endgiltig beseitigt sein und das deutsche Gymnasium erst recht leben, dadurch daß die deutsche Arbeit, deutscher Aufsatz und deutsche Geschichte, in den Mittelpunkt des Ganzen gerückt wird. Denn es ist klar, daß wenn die Schule im Zögling die Bildung einer religiös-sittlichen Persönlichkeit anstreben soll, dies zugleich in dem Sinne geschieht, daß sie sich dereinst an der nationalen Kulturarbeit beteiligen soll je nach dein Maß und den Kräften und an der Stelle, die jedem seine Eigenart zuweist. Darum ein tiefgehender Geschichtsunterricht, der bis an die Schwelle der neuen Zeit führt und als Gesinnuugsunterricht die Über¬ mittelung der Kenntnisse vor allem dazu benutzt, das Gemüt zu packen und den Willen zu beeinflussen. Auch hier hat der Kaiser das erlösende Wort gesprochen. Weiter darin, daß die wöchentliche Stundenzahl für Schul- und Haus¬ arbeit beschränkt werde» müsse, um Platz für freigewühlte Beschäftigung und Spiel zu gewinne». Wie viel unnütze Zeit in deu Sprnchstuudeu vertrödelt wird, weiß jederman». Und doch beanspruchen die Herren Philologen immer mehr und jammern bei jeder Verkürzung, daß die Welt untergehen werde. Wer in den Lchrplnn der preußische« Gymnasien aus dem Jahre 1816 blickt, der sieht, daß die Stundenzahl für Latein und Griechisch damals geringer war als jetzt. Und doch waren unsre Bäter nach aller Meinung bessere Lateiner und bessere Griechen! Die Stundenzahl allein thuts also nicht. Wir sollten meinen, daß, wenn ein normal angelegter Schüler in der Schule täglich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/548>, abgerufen am 25.08.2024.