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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das öffentliche Unterstiitzungswesen in Elsaß-Lothringen

keit vorliegt, diese aber selbstverschuldet ist, oder wo die Würdigkeit aus einem
andern Grunde verneint werden muß, die Art der Unterstützung so einzurichten,
daß der Arme zwar vor der äußersten Not bewahrt wird, stets aber das
schwere mit seiner materiellen Lage verbundene Ungemach fühlen muß. So
wird er bestrebt sein, aus seiner drückenden Lage herauszukommen und die
unbequeme Arbeit der immerhin noch unbequemeren öffentlichen Fürsorge vor¬
zuziehen. Die strenge und folgerichtige Veobachtuug dieses Grundsatzes hat
innerhalb der letzten vierzig Jahre die Zahl der Unterstützten in England von
sechs Prozent der Bevölkerung aus drei Prozent gemindert. Auf der andern
Seite würde dadurch erreicht werden, daß die würdigen Hilfsbedürftigen eine
ausreichendere Fürsorge erfahren würden, als dies jetzt bei den beschränkten
Mitteln möglich ist; denn die für die offene Armenpflege von Staats und
Bezirks wegen ausgeworfenen Fonds find nicht bedeutend und übersteigen bei
einer Bevölkerung von anderthalb Millionen Einwohnern kaum deu Betrag von
80000 Mark, und dies ist neben den mangelhaften Leistungen der Gemeinden
und Armenräte so ziemlich alles, was auf diesem Gebiete des Unterstützungs¬
wesens in Elsaß - Lothringen aus öffentlichen Mitteln gewährt wird.
Es kommen freilich noch Einzelleistungen vor, die für gewisse Klassen von
Armen vorgesehen sind. So ist für Greise und sieche, die nicht in Anstalten
untergebracht sind, insofern Fürsorge getroffen, als es den Verwaltuugs-
kommissionen der Siechenhäuser "gestattet" ist, bis zu einem Fünftel ihrer
Einkünfte zu Hausunterstützungen für diese Personen zu verwenden. Des¬
gleichen greift für arme Kranke, die nicht in Krankenhäuser aufgenommen find,
die öffentliche Fürsorge insofern ein, als sie in die Lage kommen, freie ärztliche
Behandlung zu erhalten. Es werden nämlich alljährlich in allen Gemeinden
dnrch den Armenrat oder, wenn ein solcher nicht besteht, durch den Gemeinderat
sogenannte Armcnlisten aufgestellt. Die in diese Listen aufgenommenen haben
den Anspruch auf unentgeltliche Behandlung durch die für jeden Kanton (Unter¬
abteilung des Kreises) bestellten Kantonalürzte, die dafür eine Besoldung aus
Bezirks- und Gemeindemitteln beziehen. Sonstige nennenswerte Einrichtungen
sind uicht vorhanden. Die Nachteile dieses Zweiges des Unterstützungswesens
in Elsaß-Lothringen liegen auf der Hand. Die örtliche Armenpflege ist rein
fakultativ und vollständig von den vorhandnen Mitteln abhängig, während die
größer" öffentlichen Körperschaften nur aushilfsweise mit ebenfalls beschränkten
Fonds eingreifen. Diese Leistungen würden auch nicht annähernd genügen,
wenn nicht auf dem Gebiete der geschlossenen Armenpflege, die der geschicht¬
lichen Entwicklung entsprechend den eigentlichen Kern des Unterstützungswesens
bildet, teilweise geradezu großartige Einrichtungen getroffen wären.

Der Schwerpunkt der geschlossenen Armenpflege liegt natürlich in den
größern Verwaltungskörpern, den Bezirken. Aber auch von den Gemeinden
wird hier sehr viel gethan. Während es wenige Ortschaften mit mehr als


Das öffentliche Unterstiitzungswesen in Elsaß-Lothringen

keit vorliegt, diese aber selbstverschuldet ist, oder wo die Würdigkeit aus einem
andern Grunde verneint werden muß, die Art der Unterstützung so einzurichten,
daß der Arme zwar vor der äußersten Not bewahrt wird, stets aber das
schwere mit seiner materiellen Lage verbundene Ungemach fühlen muß. So
wird er bestrebt sein, aus seiner drückenden Lage herauszukommen und die
unbequeme Arbeit der immerhin noch unbequemeren öffentlichen Fürsorge vor¬
zuziehen. Die strenge und folgerichtige Veobachtuug dieses Grundsatzes hat
innerhalb der letzten vierzig Jahre die Zahl der Unterstützten in England von
sechs Prozent der Bevölkerung aus drei Prozent gemindert. Auf der andern
Seite würde dadurch erreicht werden, daß die würdigen Hilfsbedürftigen eine
ausreichendere Fürsorge erfahren würden, als dies jetzt bei den beschränkten
Mitteln möglich ist; denn die für die offene Armenpflege von Staats und
Bezirks wegen ausgeworfenen Fonds find nicht bedeutend und übersteigen bei
einer Bevölkerung von anderthalb Millionen Einwohnern kaum deu Betrag von
80000 Mark, und dies ist neben den mangelhaften Leistungen der Gemeinden
und Armenräte so ziemlich alles, was auf diesem Gebiete des Unterstützungs¬
wesens in Elsaß - Lothringen aus öffentlichen Mitteln gewährt wird.
Es kommen freilich noch Einzelleistungen vor, die für gewisse Klassen von
Armen vorgesehen sind. So ist für Greise und sieche, die nicht in Anstalten
untergebracht sind, insofern Fürsorge getroffen, als es den Verwaltuugs-
kommissionen der Siechenhäuser „gestattet" ist, bis zu einem Fünftel ihrer
Einkünfte zu Hausunterstützungen für diese Personen zu verwenden. Des¬
gleichen greift für arme Kranke, die nicht in Krankenhäuser aufgenommen find,
die öffentliche Fürsorge insofern ein, als sie in die Lage kommen, freie ärztliche
Behandlung zu erhalten. Es werden nämlich alljährlich in allen Gemeinden
dnrch den Armenrat oder, wenn ein solcher nicht besteht, durch den Gemeinderat
sogenannte Armcnlisten aufgestellt. Die in diese Listen aufgenommenen haben
den Anspruch auf unentgeltliche Behandlung durch die für jeden Kanton (Unter¬
abteilung des Kreises) bestellten Kantonalürzte, die dafür eine Besoldung aus
Bezirks- und Gemeindemitteln beziehen. Sonstige nennenswerte Einrichtungen
sind uicht vorhanden. Die Nachteile dieses Zweiges des Unterstützungswesens
in Elsaß-Lothringen liegen auf der Hand. Die örtliche Armenpflege ist rein
fakultativ und vollständig von den vorhandnen Mitteln abhängig, während die
größer» öffentlichen Körperschaften nur aushilfsweise mit ebenfalls beschränkten
Fonds eingreifen. Diese Leistungen würden auch nicht annähernd genügen,
wenn nicht auf dem Gebiete der geschlossenen Armenpflege, die der geschicht¬
lichen Entwicklung entsprechend den eigentlichen Kern des Unterstützungswesens
bildet, teilweise geradezu großartige Einrichtungen getroffen wären.

Der Schwerpunkt der geschlossenen Armenpflege liegt natürlich in den
größern Verwaltungskörpern, den Bezirken. Aber auch von den Gemeinden
wird hier sehr viel gethan. Während es wenige Ortschaften mit mehr als


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[0517] Das öffentliche Unterstiitzungswesen in Elsaß-Lothringen keit vorliegt, diese aber selbstverschuldet ist, oder wo die Würdigkeit aus einem andern Grunde verneint werden muß, die Art der Unterstützung so einzurichten, daß der Arme zwar vor der äußersten Not bewahrt wird, stets aber das schwere mit seiner materiellen Lage verbundene Ungemach fühlen muß. So wird er bestrebt sein, aus seiner drückenden Lage herauszukommen und die unbequeme Arbeit der immerhin noch unbequemeren öffentlichen Fürsorge vor¬ zuziehen. Die strenge und folgerichtige Veobachtuug dieses Grundsatzes hat innerhalb der letzten vierzig Jahre die Zahl der Unterstützten in England von sechs Prozent der Bevölkerung aus drei Prozent gemindert. Auf der andern Seite würde dadurch erreicht werden, daß die würdigen Hilfsbedürftigen eine ausreichendere Fürsorge erfahren würden, als dies jetzt bei den beschränkten Mitteln möglich ist; denn die für die offene Armenpflege von Staats und Bezirks wegen ausgeworfenen Fonds find nicht bedeutend und übersteigen bei einer Bevölkerung von anderthalb Millionen Einwohnern kaum deu Betrag von 80000 Mark, und dies ist neben den mangelhaften Leistungen der Gemeinden und Armenräte so ziemlich alles, was auf diesem Gebiete des Unterstützungs¬ wesens in Elsaß - Lothringen aus öffentlichen Mitteln gewährt wird. Es kommen freilich noch Einzelleistungen vor, die für gewisse Klassen von Armen vorgesehen sind. So ist für Greise und sieche, die nicht in Anstalten untergebracht sind, insofern Fürsorge getroffen, als es den Verwaltuugs- kommissionen der Siechenhäuser „gestattet" ist, bis zu einem Fünftel ihrer Einkünfte zu Hausunterstützungen für diese Personen zu verwenden. Des¬ gleichen greift für arme Kranke, die nicht in Krankenhäuser aufgenommen find, die öffentliche Fürsorge insofern ein, als sie in die Lage kommen, freie ärztliche Behandlung zu erhalten. Es werden nämlich alljährlich in allen Gemeinden dnrch den Armenrat oder, wenn ein solcher nicht besteht, durch den Gemeinderat sogenannte Armcnlisten aufgestellt. Die in diese Listen aufgenommenen haben den Anspruch auf unentgeltliche Behandlung durch die für jeden Kanton (Unter¬ abteilung des Kreises) bestellten Kantonalürzte, die dafür eine Besoldung aus Bezirks- und Gemeindemitteln beziehen. Sonstige nennenswerte Einrichtungen sind uicht vorhanden. Die Nachteile dieses Zweiges des Unterstützungswesens in Elsaß-Lothringen liegen auf der Hand. Die örtliche Armenpflege ist rein fakultativ und vollständig von den vorhandnen Mitteln abhängig, während die größer» öffentlichen Körperschaften nur aushilfsweise mit ebenfalls beschränkten Fonds eingreifen. Diese Leistungen würden auch nicht annähernd genügen, wenn nicht auf dem Gebiete der geschlossenen Armenpflege, die der geschicht¬ lichen Entwicklung entsprechend den eigentlichen Kern des Unterstützungswesens bildet, teilweise geradezu großartige Einrichtungen getroffen wären. Der Schwerpunkt der geschlossenen Armenpflege liegt natürlich in den größern Verwaltungskörpern, den Bezirken. Aber auch von den Gemeinden wird hier sehr viel gethan. Während es wenige Ortschaften mit mehr als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/517>, abgerufen am 23.07.2024.