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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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anwächst, die da meinen, eine Presse, die sich keinen Zügel anzulegen weiß,
und ein Publikum, da? eine solche Presse gewähren läßt, seien der Freiheit
nicht würdig? Man müßte im Gegenteil an unserm Volk irre werden, wenn
sich in ihm nichts gegen ein solches Treiben empörte. Bemächtigt sich dann
der Sache die Partei der Reaktion in Staat und Kirche, schlagen die Kaplnne
mit dein Dreschflegel drein, wird gar ein Jude -- Jude genannt, dann jammern
die Zeitungen über "Verrohung," voran dieselben, die geflissentlich die Roheit
pflegen und züchten.

Wenn die Dichter der jüngsten Schule in Versen die Redensarten wieder¬
käuen, mit denen Volksversammlungsredner ihre Zuhörer sättigen, wenn sie
den Staat, die Gesellschaft, den Glauben an Unsterblichkeit für Armut und
Elend verantwortlich machen, wenn sie verächtlich von der ernsten Arbeit und
den Thaten für die Armen und Elenden sprechen, "dem Proletarierweibe
singen am Krankenbett," sich aber wohl hüten, einem (nicht dem abstrakten)
Proletnrierweibe hilfreich zu nahen, so kaun man ihnen das wohlfeile Ver¬
gnügen gönnen, denn die Massen erfahren von ihren Poesien nichts, oder er¬
fahren wenigstens daraus nichts Neues. Aber unter den Halbgebildeten und
Überbildeten andrer Kreise, unter der unreifen Jugend kaun die Verherrlichung
der Sittenlosigkeit, die Verhöhnung alles dessen, was göttliche und menschliche
Ordnung genannt wird, so lange menschliche Gemeinschaften bestehen, wirkliche
Verheerungen anrichten.

In manchem andern Falle bleibt ein Zweifel, ob etwas noch zum Lustigeil
zu rechnen oder in eine andre Klasse zu bringen sei. K. Henckell z. B. bringt
ein Gedicht "Prinzeß Karneval," nach dessen Lesung der aufrichtige Wunsch
auftaucht, daß der Verfasser uicht in der Welt allein stehen, und daß seine
Angehörigen beizeiten einen verständigen Arzt zu Rate ziehen möchten. Aber
vielleicht ist das moderner Humor -- wer kanns wissen! Dieser Heuckell ist
in seiner Gemeinde schon sehr berühmt. "Glückauf den Menschen, die er führen
wird," schließt die Besprechung seiner Gedichtsammlung "Diorama" in einer
andern Zeitschrift. Wohin, das können einige Proben andeuten.

Oder:

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anwächst, die da meinen, eine Presse, die sich keinen Zügel anzulegen weiß,
und ein Publikum, da? eine solche Presse gewähren läßt, seien der Freiheit
nicht würdig? Man müßte im Gegenteil an unserm Volk irre werden, wenn
sich in ihm nichts gegen ein solches Treiben empörte. Bemächtigt sich dann
der Sache die Partei der Reaktion in Staat und Kirche, schlagen die Kaplnne
mit dein Dreschflegel drein, wird gar ein Jude — Jude genannt, dann jammern
die Zeitungen über „Verrohung," voran dieselben, die geflissentlich die Roheit
pflegen und züchten.

Wenn die Dichter der jüngsten Schule in Versen die Redensarten wieder¬
käuen, mit denen Volksversammlungsredner ihre Zuhörer sättigen, wenn sie
den Staat, die Gesellschaft, den Glauben an Unsterblichkeit für Armut und
Elend verantwortlich machen, wenn sie verächtlich von der ernsten Arbeit und
den Thaten für die Armen und Elenden sprechen, „dem Proletarierweibe
singen am Krankenbett," sich aber wohl hüten, einem (nicht dem abstrakten)
Proletnrierweibe hilfreich zu nahen, so kaun man ihnen das wohlfeile Ver¬
gnügen gönnen, denn die Massen erfahren von ihren Poesien nichts, oder er¬
fahren wenigstens daraus nichts Neues. Aber unter den Halbgebildeten und
Überbildeten andrer Kreise, unter der unreifen Jugend kaun die Verherrlichung
der Sittenlosigkeit, die Verhöhnung alles dessen, was göttliche und menschliche
Ordnung genannt wird, so lange menschliche Gemeinschaften bestehen, wirkliche
Verheerungen anrichten.

In manchem andern Falle bleibt ein Zweifel, ob etwas noch zum Lustigeil
zu rechnen oder in eine andre Klasse zu bringen sei. K. Henckell z. B. bringt
ein Gedicht „Prinzeß Karneval," nach dessen Lesung der aufrichtige Wunsch
auftaucht, daß der Verfasser uicht in der Welt allein stehen, und daß seine
Angehörigen beizeiten einen verständigen Arzt zu Rate ziehen möchten. Aber
vielleicht ist das moderner Humor — wer kanns wissen! Dieser Heuckell ist
in seiner Gemeinde schon sehr berühmt. „Glückauf den Menschen, die er führen
wird," schließt die Besprechung seiner Gedichtsammlung „Diorama" in einer
andern Zeitschrift. Wohin, das können einige Proben andeuten.

Oder:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/486>, abgerufen am 25.08.2024.