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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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ZMdchenerziehung in Frankreich

Auch in den Handelswissenschaften werden Spezialkurse gegeben, und
zwar von acht bis zehn Uhr abends. 1884 wohnten denselben 850 Mädchen
bei. Jungen Mädchen, die sich den Kunst- oder Gewerbefächern, die Zeichen¬
unterricht nötig machen, zuwenden wollen, ist in Paris in vierzehn freien
Schulen unentgeltliche Gelegenheit geboten, sich zu unterrichten. Auch in
den Waisenhäusern des Landes wird gewerblicher Unterricht erteilt; es giebt
deren in Paris 20, in der Provinz 234. Außerdem findet man in Paris
28 gewerbliche Schulen (ovo1ö8 prokEWiouvIlvs), von denen 18 Kougregcmisteu-
und 10 Laienschulcn sind. Der Eintritt erfolgt mit dem zwölften Lebensjahre.
Die Kursusdauer ist dreijährig. Die Waisenhäuser und Haudwerksschuleu
bieten Unterricht in allen Beschäftigungen, die später eine Frau zum Brot¬
erwerb treiben kann, wie z. B. in Buchhaltung, Natur-, Aquarell-, Porzellan-,
Faienec- und Stvfszeichnen. In Lyon, Havre und andern Industriestädten hat
man auch Versuche gemacht, ähnlich wie in Belgien Mädchen aus dem Arbeiter-
stand in der Führung eines Arbeiterhaushalts einzuleiten (v<zolo8 niLNAMre^),
wobei vorzüglich aus die Beschäftigung in der Küche Rücksicht genommen wird.

Ungewohnt erscheint uns Deutschen das fast ausschließlich weibliche Lehr¬
personal und das stark vertretene weibliche Aufsichtspersonal in den französischen
Töchterschulen. Das erstere ist durch das Schulgesetz für Mädchen-, gemischte
und Kleinkinderschulen vorgeschrieben; das letztere dürfte sich durch die Not¬
wendigkeit einer eingehenden Beaufsichtigung der meist mit Pensionaten ver¬
bundenen Schulen erklären; zugleich zeigt sich aber auch das Bestreben der
dritten Republik, der Frau eiuen ihren Fähigkeiten und Neigungen angemessenen
größern Anteil am öffentlichen Leben zu gestatten, also wie die andern Repu¬
bliken der Erde in der Frauenemanzipation einen Schritt weiter zu thun.
Schon die erste Republik machte dem weiblichen Geschlecht in dieser Beziehung
größere Zugeständnisse.

Charakteristisch erscheint weiter der Unterricht im herrschenden Recht (äroit,
NLusI). Was nach dieser Seite hin in Frankreich vielleicht zu viel geschieht,
geschieht in Deutschland zu wenig. Man kann wohl dreist behaupten, daß die
Frau bei uns keine Idee vom Gange der Staatsmaschine, von dem Vor¬
handensein einer Verfassung oder von Gesetzen hat, und bei dem männlichen
Geschlecht ist es nicht viel anders. Vom Auslande, insbesondre von England
werden wir deshalb getadelt; man meint, bei unserm vortrefflich organisirten
Schulwesen könne es nicht schwer sein, durch Einreihung der Volkswirtschafts¬
lehre und der Staatswisseuschcift in die Unterrichtsfächer der sekundären
Schulen, auch der Mädchenschulen, das Urteil des Volkes zu bilden und eine
gesunde öffentliche Meinung zu erzeugen; man betrachte diese Dinge viel zu
sehr als ^oll ins klug'srg. Man kann darüber verschiedner Meinung sein.
Sicher ist die Einreihung neuer Unterrichtsgegenstände in den Lehrplan einer
Schule, ohne das Gleichgewicht des Unterrichts zu stören, nicht so leicht. Auf


ZMdchenerziehung in Frankreich

Auch in den Handelswissenschaften werden Spezialkurse gegeben, und
zwar von acht bis zehn Uhr abends. 1884 wohnten denselben 850 Mädchen
bei. Jungen Mädchen, die sich den Kunst- oder Gewerbefächern, die Zeichen¬
unterricht nötig machen, zuwenden wollen, ist in Paris in vierzehn freien
Schulen unentgeltliche Gelegenheit geboten, sich zu unterrichten. Auch in
den Waisenhäusern des Landes wird gewerblicher Unterricht erteilt; es giebt
deren in Paris 20, in der Provinz 234. Außerdem findet man in Paris
28 gewerbliche Schulen (ovo1ö8 prokEWiouvIlvs), von denen 18 Kougregcmisteu-
und 10 Laienschulcn sind. Der Eintritt erfolgt mit dem zwölften Lebensjahre.
Die Kursusdauer ist dreijährig. Die Waisenhäuser und Haudwerksschuleu
bieten Unterricht in allen Beschäftigungen, die später eine Frau zum Brot¬
erwerb treiben kann, wie z. B. in Buchhaltung, Natur-, Aquarell-, Porzellan-,
Faienec- und Stvfszeichnen. In Lyon, Havre und andern Industriestädten hat
man auch Versuche gemacht, ähnlich wie in Belgien Mädchen aus dem Arbeiter-
stand in der Führung eines Arbeiterhaushalts einzuleiten (v<zolo8 niLNAMre^),
wobei vorzüglich aus die Beschäftigung in der Küche Rücksicht genommen wird.

Ungewohnt erscheint uns Deutschen das fast ausschließlich weibliche Lehr¬
personal und das stark vertretene weibliche Aufsichtspersonal in den französischen
Töchterschulen. Das erstere ist durch das Schulgesetz für Mädchen-, gemischte
und Kleinkinderschulen vorgeschrieben; das letztere dürfte sich durch die Not¬
wendigkeit einer eingehenden Beaufsichtigung der meist mit Pensionaten ver¬
bundenen Schulen erklären; zugleich zeigt sich aber auch das Bestreben der
dritten Republik, der Frau eiuen ihren Fähigkeiten und Neigungen angemessenen
größern Anteil am öffentlichen Leben zu gestatten, also wie die andern Repu¬
bliken der Erde in der Frauenemanzipation einen Schritt weiter zu thun.
Schon die erste Republik machte dem weiblichen Geschlecht in dieser Beziehung
größere Zugeständnisse.

Charakteristisch erscheint weiter der Unterricht im herrschenden Recht (äroit,
NLusI). Was nach dieser Seite hin in Frankreich vielleicht zu viel geschieht,
geschieht in Deutschland zu wenig. Man kann wohl dreist behaupten, daß die
Frau bei uns keine Idee vom Gange der Staatsmaschine, von dem Vor¬
handensein einer Verfassung oder von Gesetzen hat, und bei dem männlichen
Geschlecht ist es nicht viel anders. Vom Auslande, insbesondre von England
werden wir deshalb getadelt; man meint, bei unserm vortrefflich organisirten
Schulwesen könne es nicht schwer sein, durch Einreihung der Volkswirtschafts¬
lehre und der Staatswisseuschcift in die Unterrichtsfächer der sekundären
Schulen, auch der Mädchenschulen, das Urteil des Volkes zu bilden und eine
gesunde öffentliche Meinung zu erzeugen; man betrachte diese Dinge viel zu
sehr als ^oll ins klug'srg. Man kann darüber verschiedner Meinung sein.
Sicher ist die Einreihung neuer Unterrichtsgegenstände in den Lehrplan einer
Schule, ohne das Gleichgewicht des Unterrichts zu stören, nicht so leicht. Auf


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[0359] ZMdchenerziehung in Frankreich Auch in den Handelswissenschaften werden Spezialkurse gegeben, und zwar von acht bis zehn Uhr abends. 1884 wohnten denselben 850 Mädchen bei. Jungen Mädchen, die sich den Kunst- oder Gewerbefächern, die Zeichen¬ unterricht nötig machen, zuwenden wollen, ist in Paris in vierzehn freien Schulen unentgeltliche Gelegenheit geboten, sich zu unterrichten. Auch in den Waisenhäusern des Landes wird gewerblicher Unterricht erteilt; es giebt deren in Paris 20, in der Provinz 234. Außerdem findet man in Paris 28 gewerbliche Schulen (ovo1ö8 prokEWiouvIlvs), von denen 18 Kougregcmisteu- und 10 Laienschulcn sind. Der Eintritt erfolgt mit dem zwölften Lebensjahre. Die Kursusdauer ist dreijährig. Die Waisenhäuser und Haudwerksschuleu bieten Unterricht in allen Beschäftigungen, die später eine Frau zum Brot¬ erwerb treiben kann, wie z. B. in Buchhaltung, Natur-, Aquarell-, Porzellan-, Faienec- und Stvfszeichnen. In Lyon, Havre und andern Industriestädten hat man auch Versuche gemacht, ähnlich wie in Belgien Mädchen aus dem Arbeiter- stand in der Führung eines Arbeiterhaushalts einzuleiten (v<zolo8 niLNAMre^), wobei vorzüglich aus die Beschäftigung in der Küche Rücksicht genommen wird. Ungewohnt erscheint uns Deutschen das fast ausschließlich weibliche Lehr¬ personal und das stark vertretene weibliche Aufsichtspersonal in den französischen Töchterschulen. Das erstere ist durch das Schulgesetz für Mädchen-, gemischte und Kleinkinderschulen vorgeschrieben; das letztere dürfte sich durch die Not¬ wendigkeit einer eingehenden Beaufsichtigung der meist mit Pensionaten ver¬ bundenen Schulen erklären; zugleich zeigt sich aber auch das Bestreben der dritten Republik, der Frau eiuen ihren Fähigkeiten und Neigungen angemessenen größern Anteil am öffentlichen Leben zu gestatten, also wie die andern Repu¬ bliken der Erde in der Frauenemanzipation einen Schritt weiter zu thun. Schon die erste Republik machte dem weiblichen Geschlecht in dieser Beziehung größere Zugeständnisse. Charakteristisch erscheint weiter der Unterricht im herrschenden Recht (äroit, NLusI). Was nach dieser Seite hin in Frankreich vielleicht zu viel geschieht, geschieht in Deutschland zu wenig. Man kann wohl dreist behaupten, daß die Frau bei uns keine Idee vom Gange der Staatsmaschine, von dem Vor¬ handensein einer Verfassung oder von Gesetzen hat, und bei dem männlichen Geschlecht ist es nicht viel anders. Vom Auslande, insbesondre von England werden wir deshalb getadelt; man meint, bei unserm vortrefflich organisirten Schulwesen könne es nicht schwer sein, durch Einreihung der Volkswirtschafts¬ lehre und der Staatswisseuschcift in die Unterrichtsfächer der sekundären Schulen, auch der Mädchenschulen, das Urteil des Volkes zu bilden und eine gesunde öffentliche Meinung zu erzeugen; man betrachte diese Dinge viel zu sehr als ^oll ins klug'srg. Man kann darüber verschiedner Meinung sein. Sicher ist die Einreihung neuer Unterrichtsgegenstände in den Lehrplan einer Schule, ohne das Gleichgewicht des Unterrichts zu stören, nicht so leicht. Auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/359>, abgerufen am 23.07.2024.