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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Umistansstellungen in München und Dresden

eingeführte Spielart des modernen Naturalismus dem innersten Wesen unsers
Volkes fremd und unverständlich bleibt, weil der deutsche Volksgeist im Gegensatz
zum romanischen mehr spiritualistisch als formalistisch angelegt ist, d. h. ihm
der geistige Inhalt der Dinge höher steht als ihre Erscheinungsform.

Mit dieser Thatsache hat die naturalistische Malerei zu rechnen an¬
gefangen, nachdem ihr erster Ansturm an der kühlen Zurückhaltung des Publi¬
kums gescheitert ist. Wenn man von F. von Abbe und dem Grafen L. Kalck-
reuth absieht, denen sich als dritter im Bunde der Unbelehrbaren der Berliner
Liebermann zugesellt hat, scheint der Münchner Naturalismus seine Sturm¬
und Drangperiode überwunden zu haben und zu einer besonnenern Auffassung
der Natur zurückgekehrt zu sein. Die obengenannten Künstler und eine Anzahl
andrer haben Zeichnung und Modellirung wieder in ihre alten Rechte eingesetzt,
sie haben die Roheit des Farbenauftrags gemildert, sie sehen die Aufgabe der
Malerei nicht mehr in dem Nebeneinnndersetzen farbiger Flecke, aus deuen nach
den Versicherungen der naturalistischen Ultras die ganze Natur für ein naiv
blickendes, unverdorbenes Auge bestehen soll, und hie und da wagt sich anch
bereits der Ausdruck tieferer Empfindung schüchtern hervor. Das betende
Mädchen F. v. Endes ist in seinem ganzen Wesen von inbrünstiger Andacht
erfüllt, das Antlitz der Bäuerin, die auf dem fleißig durchgeführten Bilde von
Jochmus den Täufling trägt, wird durch einen sonnigen Glanz von Glück und
zärtlicher Liebe erhellt, und das junge, anmutige Mädchen am Gartenzaun
des Pcckschen Bildes bringt einen Strahl von lauterer Poesie in die dürre
Prosa der Kohl- und Kürbisblütter. Ein andrer Naturalist und Freilichtmaler,
Wilhelm Volz, hat sogar in einer Heiligen Cäcilie, die inmitten einer kühl ge¬
stimmten Frühlingslandschaft im Schlafe ein Traumgesicht hat, das durch acht
vor ihr musizirende Engel verkörpert wird, eine rein poetische Tonart ange¬
schlagen und in der Charakteristik der himmlischen Kinder ein feines Schönheits¬
gefühl und eine liebenswürdige Naivität entfaltet, die bisher von dem Pro¬
gramm der Naturalisten völlig ausgeschlossen waren. Der oben angeführte
Paul Höcker, ein Schüler von W. Diez, der bis vor kurzem uoch holländische
Innenräume mit kleinen Figuren bei Helldunkel malte, fühlt sich in der "neuen
Kunst" so wenig sicher, daß er außer jener Nonne im Bnchengcmg noch ein
zweites Bild ausgestellt hat, das im Gegensatz zu der Deutlichkeit und Luft-
losigkeit der naturalistischen Freilichtbilder einen phantastisch-mystischen Cha¬
rakter hat. Vor der Thür ihrer schlichten Hütte kniet im Dämmerlicht des
hereinbrechenden Abends die Jungfrau Maria und empfängt demutsvoll die
Botschaft des Engels, der von leichtem, bläulichem Nebel umflossen, aus dem
die Umrisse der Gestalt nur in unbestimmten Andeutungen auftauchen, der
Gebenedeiten einen Lilienzweig entgegenhält. Diesen Mysticismus der Farbe,
der alles Köperliche mit einem grauen Dunst umhüllt und die Figuren wie
visionäre, schattenhafte Erscheinungen wirken läßt, hat Franz Stuck zu einer


Die Umistansstellungen in München und Dresden

eingeführte Spielart des modernen Naturalismus dem innersten Wesen unsers
Volkes fremd und unverständlich bleibt, weil der deutsche Volksgeist im Gegensatz
zum romanischen mehr spiritualistisch als formalistisch angelegt ist, d. h. ihm
der geistige Inhalt der Dinge höher steht als ihre Erscheinungsform.

Mit dieser Thatsache hat die naturalistische Malerei zu rechnen an¬
gefangen, nachdem ihr erster Ansturm an der kühlen Zurückhaltung des Publi¬
kums gescheitert ist. Wenn man von F. von Abbe und dem Grafen L. Kalck-
reuth absieht, denen sich als dritter im Bunde der Unbelehrbaren der Berliner
Liebermann zugesellt hat, scheint der Münchner Naturalismus seine Sturm¬
und Drangperiode überwunden zu haben und zu einer besonnenern Auffassung
der Natur zurückgekehrt zu sein. Die obengenannten Künstler und eine Anzahl
andrer haben Zeichnung und Modellirung wieder in ihre alten Rechte eingesetzt,
sie haben die Roheit des Farbenauftrags gemildert, sie sehen die Aufgabe der
Malerei nicht mehr in dem Nebeneinnndersetzen farbiger Flecke, aus deuen nach
den Versicherungen der naturalistischen Ultras die ganze Natur für ein naiv
blickendes, unverdorbenes Auge bestehen soll, und hie und da wagt sich anch
bereits der Ausdruck tieferer Empfindung schüchtern hervor. Das betende
Mädchen F. v. Endes ist in seinem ganzen Wesen von inbrünstiger Andacht
erfüllt, das Antlitz der Bäuerin, die auf dem fleißig durchgeführten Bilde von
Jochmus den Täufling trägt, wird durch einen sonnigen Glanz von Glück und
zärtlicher Liebe erhellt, und das junge, anmutige Mädchen am Gartenzaun
des Pcckschen Bildes bringt einen Strahl von lauterer Poesie in die dürre
Prosa der Kohl- und Kürbisblütter. Ein andrer Naturalist und Freilichtmaler,
Wilhelm Volz, hat sogar in einer Heiligen Cäcilie, die inmitten einer kühl ge¬
stimmten Frühlingslandschaft im Schlafe ein Traumgesicht hat, das durch acht
vor ihr musizirende Engel verkörpert wird, eine rein poetische Tonart ange¬
schlagen und in der Charakteristik der himmlischen Kinder ein feines Schönheits¬
gefühl und eine liebenswürdige Naivität entfaltet, die bisher von dem Pro¬
gramm der Naturalisten völlig ausgeschlossen waren. Der oben angeführte
Paul Höcker, ein Schüler von W. Diez, der bis vor kurzem uoch holländische
Innenräume mit kleinen Figuren bei Helldunkel malte, fühlt sich in der „neuen
Kunst" so wenig sicher, daß er außer jener Nonne im Bnchengcmg noch ein
zweites Bild ausgestellt hat, das im Gegensatz zu der Deutlichkeit und Luft-
losigkeit der naturalistischen Freilichtbilder einen phantastisch-mystischen Cha¬
rakter hat. Vor der Thür ihrer schlichten Hütte kniet im Dämmerlicht des
hereinbrechenden Abends die Jungfrau Maria und empfängt demutsvoll die
Botschaft des Engels, der von leichtem, bläulichem Nebel umflossen, aus dem
die Umrisse der Gestalt nur in unbestimmten Andeutungen auftauchen, der
Gebenedeiten einen Lilienzweig entgegenhält. Diesen Mysticismus der Farbe,
der alles Köperliche mit einem grauen Dunst umhüllt und die Figuren wie
visionäre, schattenhafte Erscheinungen wirken läßt, hat Franz Stuck zu einer


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[0035] Die Umistansstellungen in München und Dresden eingeführte Spielart des modernen Naturalismus dem innersten Wesen unsers Volkes fremd und unverständlich bleibt, weil der deutsche Volksgeist im Gegensatz zum romanischen mehr spiritualistisch als formalistisch angelegt ist, d. h. ihm der geistige Inhalt der Dinge höher steht als ihre Erscheinungsform. Mit dieser Thatsache hat die naturalistische Malerei zu rechnen an¬ gefangen, nachdem ihr erster Ansturm an der kühlen Zurückhaltung des Publi¬ kums gescheitert ist. Wenn man von F. von Abbe und dem Grafen L. Kalck- reuth absieht, denen sich als dritter im Bunde der Unbelehrbaren der Berliner Liebermann zugesellt hat, scheint der Münchner Naturalismus seine Sturm¬ und Drangperiode überwunden zu haben und zu einer besonnenern Auffassung der Natur zurückgekehrt zu sein. Die obengenannten Künstler und eine Anzahl andrer haben Zeichnung und Modellirung wieder in ihre alten Rechte eingesetzt, sie haben die Roheit des Farbenauftrags gemildert, sie sehen die Aufgabe der Malerei nicht mehr in dem Nebeneinnndersetzen farbiger Flecke, aus deuen nach den Versicherungen der naturalistischen Ultras die ganze Natur für ein naiv blickendes, unverdorbenes Auge bestehen soll, und hie und da wagt sich anch bereits der Ausdruck tieferer Empfindung schüchtern hervor. Das betende Mädchen F. v. Endes ist in seinem ganzen Wesen von inbrünstiger Andacht erfüllt, das Antlitz der Bäuerin, die auf dem fleißig durchgeführten Bilde von Jochmus den Täufling trägt, wird durch einen sonnigen Glanz von Glück und zärtlicher Liebe erhellt, und das junge, anmutige Mädchen am Gartenzaun des Pcckschen Bildes bringt einen Strahl von lauterer Poesie in die dürre Prosa der Kohl- und Kürbisblütter. Ein andrer Naturalist und Freilichtmaler, Wilhelm Volz, hat sogar in einer Heiligen Cäcilie, die inmitten einer kühl ge¬ stimmten Frühlingslandschaft im Schlafe ein Traumgesicht hat, das durch acht vor ihr musizirende Engel verkörpert wird, eine rein poetische Tonart ange¬ schlagen und in der Charakteristik der himmlischen Kinder ein feines Schönheits¬ gefühl und eine liebenswürdige Naivität entfaltet, die bisher von dem Pro¬ gramm der Naturalisten völlig ausgeschlossen waren. Der oben angeführte Paul Höcker, ein Schüler von W. Diez, der bis vor kurzem uoch holländische Innenräume mit kleinen Figuren bei Helldunkel malte, fühlt sich in der „neuen Kunst" so wenig sicher, daß er außer jener Nonne im Bnchengcmg noch ein zweites Bild ausgestellt hat, das im Gegensatz zu der Deutlichkeit und Luft- losigkeit der naturalistischen Freilichtbilder einen phantastisch-mystischen Cha¬ rakter hat. Vor der Thür ihrer schlichten Hütte kniet im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends die Jungfrau Maria und empfängt demutsvoll die Botschaft des Engels, der von leichtem, bläulichem Nebel umflossen, aus dem die Umrisse der Gestalt nur in unbestimmten Andeutungen auftauchen, der Gebenedeiten einen Lilienzweig entgegenhält. Diesen Mysticismus der Farbe, der alles Köperliche mit einem grauen Dunst umhüllt und die Figuren wie visionäre, schattenhafte Erscheinungen wirken läßt, hat Franz Stuck zu einer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/35>, abgerufen am 23.07.2024.