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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Die Nunstansstellnngen in München und Dresden

damit, und das ist noch seine beste Seite, die Mehrzahl der Motive, die im
AB C-Buch der Genremalerei verzeichnet sind, in natürlicher Größe mit
strenger Ausmerzung jeder humoristischen oder auch uur gemütvollen Wendung
zu wiederholen, und wenn er wirklich Stosse bearbeitet, die von der deutschen
Genremalerei bisher nur ausnahmsweise oder gar nicht behandelt worden sind,
so hat er sie von den Franzosen geborgt. Nach wie vor sieht er seine Haupt¬
aufgabe darin, die bedeutungslosesten Vorgänge des Werkeltagstreibens durch
lebensgroße Figuren mit behaglichster Breite in einer räumlichen Ausdehnung
zu veranschaulichen, die zu der sachlichen Bedeutung des Gegenstandes -- von
geistigem Inhalt ist niemals etwas zu finden -- in vollem Widersprüche steht.
Es liegt im Wesen des Naturalismus, daß er nnr das widergibt, was er sieht,
daß seine Vertreter also nur das Leben ihrer Zeit für darstellbar und auch
allein für darstellungswert halten. Auffallend dabei ist, daß sie, ebenso wie
sie die Mitarbeit der Phantasie vom künstlerischen Schaffen aussclstießen, auch
der Schilderung dramatischer Vorgänge möglichst aus dein Wege gehen, gleich
als ob der Naturalismus so eng am Modell, an der sklavischen Naturnach-
ahmung hafte, daß seine Kraft versagt, sobald er über die Ruhe der Existenz-
malerei zur Darstellung leidenschaftlich bewegten Lebens übergehen Null. Mit
dieser Beobachtung trifft eine andre zusammen, daß nämlich der moderne
Naturalismus in der Dichtung uur da ein brauchbares Element mitbringt,
wo er sich in Detailmalerei, in der breitspurigen Zergliederung alltäglichen
Lebens zu ergehen Gelegenheit hat, daß seine Mittel aber völlig versagen, wo
eine stetig vorwärts schreitende, kunstvoll sich steigernde Handlung das Wesen
der Dichtung ausmacht. Ein Gemälde wie Arthur Kampfs "Letzte Aussage"
(die Vernehmung eines im Wirtshansstreite erstochenen Arbeiters) bildet wegen
seines dramatischen oder doch wenigstens aufregend wirkenden Inhalts eine
vereinzelte Erscheinung nnter der Menge naturalistischer Arbeiten, die sich mit
der Wiedergabe einer oder weniger Figuren in Ruhe oder mäßiger Bewegung
begnügen. Es muß aber dabei hervorgehoben werden, daß der Düsseldorfer
Künstler seit 1886, wo er die "Letzte Aussage" vollendet hat, kein ähnliches
Bild wieder gemalt, sondern sich der Geschichtsmalerei zugewendet hat.

Nur zur Kennzeichnung der behandelten Motive hebe ich aus den
Schöpfilnge" der Münchner Naturalisten den auf einem Wiesenweg bei den
Strahlen der untergehenden Sonne lustwandelnder alten Dorfschullehrer mit
seinem Spitz hervor (von Markus Grönvold), ferner einen Knecht mit zwei
Ackergäulen, der auf dem Felde einer knrzgeschürzten Schnitterin begegnet, und
die Schnitter am Rande eines Kornfeldes (beide von dem Grafen Leopold
von Kalckrenth, der nach kurzer Lehrthätigkeit an der Kunstschule zu Weimar
wieder nach München zurückgekehrt ist), eine Nonne, die vorn in einer von der
Sonne durchleuchteten, tief in das Bild hineinführenden Buchenalle sitzt (von
Paul Höcker), das junge Mädchen mit dein Briefe des Geliebten am Zaune


Gmizbot-in IV 1890 4
Die Nunstansstellnngen in München und Dresden

damit, und das ist noch seine beste Seite, die Mehrzahl der Motive, die im
AB C-Buch der Genremalerei verzeichnet sind, in natürlicher Größe mit
strenger Ausmerzung jeder humoristischen oder auch uur gemütvollen Wendung
zu wiederholen, und wenn er wirklich Stosse bearbeitet, die von der deutschen
Genremalerei bisher nur ausnahmsweise oder gar nicht behandelt worden sind,
so hat er sie von den Franzosen geborgt. Nach wie vor sieht er seine Haupt¬
aufgabe darin, die bedeutungslosesten Vorgänge des Werkeltagstreibens durch
lebensgroße Figuren mit behaglichster Breite in einer räumlichen Ausdehnung
zu veranschaulichen, die zu der sachlichen Bedeutung des Gegenstandes — von
geistigem Inhalt ist niemals etwas zu finden — in vollem Widersprüche steht.
Es liegt im Wesen des Naturalismus, daß er nnr das widergibt, was er sieht,
daß seine Vertreter also nur das Leben ihrer Zeit für darstellbar und auch
allein für darstellungswert halten. Auffallend dabei ist, daß sie, ebenso wie
sie die Mitarbeit der Phantasie vom künstlerischen Schaffen aussclstießen, auch
der Schilderung dramatischer Vorgänge möglichst aus dein Wege gehen, gleich
als ob der Naturalismus so eng am Modell, an der sklavischen Naturnach-
ahmung hafte, daß seine Kraft versagt, sobald er über die Ruhe der Existenz-
malerei zur Darstellung leidenschaftlich bewegten Lebens übergehen Null. Mit
dieser Beobachtung trifft eine andre zusammen, daß nämlich der moderne
Naturalismus in der Dichtung uur da ein brauchbares Element mitbringt,
wo er sich in Detailmalerei, in der breitspurigen Zergliederung alltäglichen
Lebens zu ergehen Gelegenheit hat, daß seine Mittel aber völlig versagen, wo
eine stetig vorwärts schreitende, kunstvoll sich steigernde Handlung das Wesen
der Dichtung ausmacht. Ein Gemälde wie Arthur Kampfs „Letzte Aussage"
(die Vernehmung eines im Wirtshansstreite erstochenen Arbeiters) bildet wegen
seines dramatischen oder doch wenigstens aufregend wirkenden Inhalts eine
vereinzelte Erscheinung nnter der Menge naturalistischer Arbeiten, die sich mit
der Wiedergabe einer oder weniger Figuren in Ruhe oder mäßiger Bewegung
begnügen. Es muß aber dabei hervorgehoben werden, daß der Düsseldorfer
Künstler seit 1886, wo er die „Letzte Aussage" vollendet hat, kein ähnliches
Bild wieder gemalt, sondern sich der Geschichtsmalerei zugewendet hat.

Nur zur Kennzeichnung der behandelten Motive hebe ich aus den
Schöpfilnge» der Münchner Naturalisten den auf einem Wiesenweg bei den
Strahlen der untergehenden Sonne lustwandelnder alten Dorfschullehrer mit
seinem Spitz hervor (von Markus Grönvold), ferner einen Knecht mit zwei
Ackergäulen, der auf dem Felde einer knrzgeschürzten Schnitterin begegnet, und
die Schnitter am Rande eines Kornfeldes (beide von dem Grafen Leopold
von Kalckrenth, der nach kurzer Lehrthätigkeit an der Kunstschule zu Weimar
wieder nach München zurückgekehrt ist), eine Nonne, die vorn in einer von der
Sonne durchleuchteten, tief in das Bild hineinführenden Buchenalle sitzt (von
Paul Höcker), das junge Mädchen mit dein Briefe des Geliebten am Zaune


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[0033] Die Nunstansstellnngen in München und Dresden damit, und das ist noch seine beste Seite, die Mehrzahl der Motive, die im AB C-Buch der Genremalerei verzeichnet sind, in natürlicher Größe mit strenger Ausmerzung jeder humoristischen oder auch uur gemütvollen Wendung zu wiederholen, und wenn er wirklich Stosse bearbeitet, die von der deutschen Genremalerei bisher nur ausnahmsweise oder gar nicht behandelt worden sind, so hat er sie von den Franzosen geborgt. Nach wie vor sieht er seine Haupt¬ aufgabe darin, die bedeutungslosesten Vorgänge des Werkeltagstreibens durch lebensgroße Figuren mit behaglichster Breite in einer räumlichen Ausdehnung zu veranschaulichen, die zu der sachlichen Bedeutung des Gegenstandes — von geistigem Inhalt ist niemals etwas zu finden — in vollem Widersprüche steht. Es liegt im Wesen des Naturalismus, daß er nnr das widergibt, was er sieht, daß seine Vertreter also nur das Leben ihrer Zeit für darstellbar und auch allein für darstellungswert halten. Auffallend dabei ist, daß sie, ebenso wie sie die Mitarbeit der Phantasie vom künstlerischen Schaffen aussclstießen, auch der Schilderung dramatischer Vorgänge möglichst aus dein Wege gehen, gleich als ob der Naturalismus so eng am Modell, an der sklavischen Naturnach- ahmung hafte, daß seine Kraft versagt, sobald er über die Ruhe der Existenz- malerei zur Darstellung leidenschaftlich bewegten Lebens übergehen Null. Mit dieser Beobachtung trifft eine andre zusammen, daß nämlich der moderne Naturalismus in der Dichtung uur da ein brauchbares Element mitbringt, wo er sich in Detailmalerei, in der breitspurigen Zergliederung alltäglichen Lebens zu ergehen Gelegenheit hat, daß seine Mittel aber völlig versagen, wo eine stetig vorwärts schreitende, kunstvoll sich steigernde Handlung das Wesen der Dichtung ausmacht. Ein Gemälde wie Arthur Kampfs „Letzte Aussage" (die Vernehmung eines im Wirtshansstreite erstochenen Arbeiters) bildet wegen seines dramatischen oder doch wenigstens aufregend wirkenden Inhalts eine vereinzelte Erscheinung nnter der Menge naturalistischer Arbeiten, die sich mit der Wiedergabe einer oder weniger Figuren in Ruhe oder mäßiger Bewegung begnügen. Es muß aber dabei hervorgehoben werden, daß der Düsseldorfer Künstler seit 1886, wo er die „Letzte Aussage" vollendet hat, kein ähnliches Bild wieder gemalt, sondern sich der Geschichtsmalerei zugewendet hat. Nur zur Kennzeichnung der behandelten Motive hebe ich aus den Schöpfilnge» der Münchner Naturalisten den auf einem Wiesenweg bei den Strahlen der untergehenden Sonne lustwandelnder alten Dorfschullehrer mit seinem Spitz hervor (von Markus Grönvold), ferner einen Knecht mit zwei Ackergäulen, der auf dem Felde einer knrzgeschürzten Schnitterin begegnet, und die Schnitter am Rande eines Kornfeldes (beide von dem Grafen Leopold von Kalckrenth, der nach kurzer Lehrthätigkeit an der Kunstschule zu Weimar wieder nach München zurückgekehrt ist), eine Nonne, die vorn in einer von der Sonne durchleuchteten, tief in das Bild hineinführenden Buchenalle sitzt (von Paul Höcker), das junge Mädchen mit dein Briefe des Geliebten am Zaune Gmizbot-in IV 1890 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/33>, abgerufen am 23.07.2024.