Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Rembrandt-Ausstellung im Berliner Anpferstichkalnnel

Bilder und Radirungen sind daher auf den Namen der Neeltge Gerrit, der
ehrsamen Gattin des Lehdener Müllers Harnen Gerrit getauft worden, auch
das prächtige Porträt, das wir nicht weit von unsrer besprochenen Radirnng
erblicken. Sicherer als bei dieser sind wir in Bezug auf die Person des Dar¬
gestellten bei einer Reihe von Stndienköpfen, die die nächsten untern Rahmen
füllen: es sind Selbstporträts des Meisters in größter Mannichfaltigkeit des
Ausdrucks, der Stimmung und des Kostüms. Leider fehlt in unsrer Aus¬
stellung das geniale, auch technisch durch die Benutzung einer zweispitzigen
Radirnadel interessante große Jugeudporträt, das nur in zwei Exemplaren
in Amsterdam und London bekannt ist. Dieses früheste unter seineu Selbst¬
bildnissen, deren er nicht weniger als 5!4 radirt und nahezu f>0 gemalt hat,
steht auch den Gemälden im Haag und im Germanischen Museum am nächsten
und bietet für die Bestimmung andrer einen willkommenen Anhaltepunkt.
Denn nur schwer kann man aus diesen merkwürdig verzerrten Zügen immer
denselben lebhaften Jünglingskopf herauserkennen. Fesselnd ist es, die nervöse
Hast in dem Suchen nach geistigen wie technischen Wirkungen zu beobachten,
die auch die Behandlung des Haares mit in die Ausdrucksmittel hineinzieht.
Schmerz, Zorn, Entsetzen neben ausgelassener Lustigkeit und nachdenklichen
Brüten, kurz die ganze Stufenleiter menschlicher Stimmungen und Seelen¬
zustände begegnet uns in diesen frühen Studien, die eben mehr als solche,
denn als eigentliche Bildnisse aufgefaßt werden wollen. Wie er fo an seinem
eignen Kopf studirte, sehen wir ihn mich sich die Modelle von der Straße
holen, wie jenen prächtigen Alten mit weißem Bart, der uns auch in seinen
Ölgemälden wiederholt begegnet, oder den Dickkopf, dem man den Namen
klomm0 taiss-ut i-l inouv gegeben hat, während diese wulstigen Negerlippen
doch nur eins der vielen Mittel sind, mit denen der Künstler hier Eigennutz,
Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit in so überzeugender Weise ausgedrückt
hat, daß mau versucht wäre, eine freie Erfindung anzunehmen. Der Umstand, daß
Rembrandts Schiller Jan van LivenS dasselbe Modell für eine seiner Bildnis-
radirungeu benutzt hat, stößt aber eine solche Vermutung um, legt vielmehr
die andre nahe, daß wir es im ersten Zustande der Platte mit einer Arbeit
des Schülers zu thun haben, die im zweiten von der Hand des Meisters, und
zwar mit dem Grabstichel g'srotuoi<Li't!t, d. h. retouchirt wurde; denu thatsächlich
erhält der Kopf erst durch die Strichlagen dieses zweiten Zustandes Leben und
Kraft des Ausdruckes. Neben diesem Bemühen des jugendlichen Künstlers, in der
Schilderung des Gemütslebens möglichst tief vorzudringen, zeigen seine frühen
Radirungen auch seine Vorliebe für fremdartige, namentlich orientalische Typen
und Kostüme. Bot ihm doch der Ghetto und die "Bnitenkant," der alte
Hafenqnai der mächtigen Handelsstadt, reiche Gelegenheit zu solche" Beobach¬
tungen. Der Amsterdamer Jude des siebzehnten Jahrhunderts ist durch Rem¬
brandts Kunst geradezu mit einem Glorienschein umgeben worden. Es wandelten


Die Rembrandt-Ausstellung im Berliner Anpferstichkalnnel

Bilder und Radirungen sind daher auf den Namen der Neeltge Gerrit, der
ehrsamen Gattin des Lehdener Müllers Harnen Gerrit getauft worden, auch
das prächtige Porträt, das wir nicht weit von unsrer besprochenen Radirnng
erblicken. Sicherer als bei dieser sind wir in Bezug auf die Person des Dar¬
gestellten bei einer Reihe von Stndienköpfen, die die nächsten untern Rahmen
füllen: es sind Selbstporträts des Meisters in größter Mannichfaltigkeit des
Ausdrucks, der Stimmung und des Kostüms. Leider fehlt in unsrer Aus¬
stellung das geniale, auch technisch durch die Benutzung einer zweispitzigen
Radirnadel interessante große Jugeudporträt, das nur in zwei Exemplaren
in Amsterdam und London bekannt ist. Dieses früheste unter seineu Selbst¬
bildnissen, deren er nicht weniger als 5!4 radirt und nahezu f>0 gemalt hat,
steht auch den Gemälden im Haag und im Germanischen Museum am nächsten
und bietet für die Bestimmung andrer einen willkommenen Anhaltepunkt.
Denn nur schwer kann man aus diesen merkwürdig verzerrten Zügen immer
denselben lebhaften Jünglingskopf herauserkennen. Fesselnd ist es, die nervöse
Hast in dem Suchen nach geistigen wie technischen Wirkungen zu beobachten,
die auch die Behandlung des Haares mit in die Ausdrucksmittel hineinzieht.
Schmerz, Zorn, Entsetzen neben ausgelassener Lustigkeit und nachdenklichen
Brüten, kurz die ganze Stufenleiter menschlicher Stimmungen und Seelen¬
zustände begegnet uns in diesen frühen Studien, die eben mehr als solche,
denn als eigentliche Bildnisse aufgefaßt werden wollen. Wie er fo an seinem
eignen Kopf studirte, sehen wir ihn mich sich die Modelle von der Straße
holen, wie jenen prächtigen Alten mit weißem Bart, der uns auch in seinen
Ölgemälden wiederholt begegnet, oder den Dickkopf, dem man den Namen
klomm0 taiss-ut i-l inouv gegeben hat, während diese wulstigen Negerlippen
doch nur eins der vielen Mittel sind, mit denen der Künstler hier Eigennutz,
Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit in so überzeugender Weise ausgedrückt
hat, daß mau versucht wäre, eine freie Erfindung anzunehmen. Der Umstand, daß
Rembrandts Schiller Jan van LivenS dasselbe Modell für eine seiner Bildnis-
radirungeu benutzt hat, stößt aber eine solche Vermutung um, legt vielmehr
die andre nahe, daß wir es im ersten Zustande der Platte mit einer Arbeit
des Schülers zu thun haben, die im zweiten von der Hand des Meisters, und
zwar mit dem Grabstichel g'srotuoi<Li't!t, d. h. retouchirt wurde; denu thatsächlich
erhält der Kopf erst durch die Strichlagen dieses zweiten Zustandes Leben und
Kraft des Ausdruckes. Neben diesem Bemühen des jugendlichen Künstlers, in der
Schilderung des Gemütslebens möglichst tief vorzudringen, zeigen seine frühen
Radirungen auch seine Vorliebe für fremdartige, namentlich orientalische Typen
und Kostüme. Bot ihm doch der Ghetto und die „Bnitenkant," der alte
Hafenqnai der mächtigen Handelsstadt, reiche Gelegenheit zu solche» Beobach¬
tungen. Der Amsterdamer Jude des siebzehnten Jahrhunderts ist durch Rem¬
brandts Kunst geradezu mit einem Glorienschein umgeben worden. Es wandelten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208823"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Rembrandt-Ausstellung im Berliner Anpferstichkalnnel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_693" prev="#ID_692" next="#ID_694"> Bilder und Radirungen sind daher auf den Namen der Neeltge Gerrit, der<lb/>
ehrsamen Gattin des Lehdener Müllers Harnen Gerrit getauft worden, auch<lb/>
das prächtige Porträt, das wir nicht weit von unsrer besprochenen Radirnng<lb/>
erblicken. Sicherer als bei dieser sind wir in Bezug auf die Person des Dar¬<lb/>
gestellten bei einer Reihe von Stndienköpfen, die die nächsten untern Rahmen<lb/>
füllen: es sind Selbstporträts des Meisters in größter Mannichfaltigkeit des<lb/>
Ausdrucks, der Stimmung und des Kostüms. Leider fehlt in unsrer Aus¬<lb/>
stellung das geniale, auch technisch durch die Benutzung einer zweispitzigen<lb/>
Radirnadel interessante große Jugeudporträt, das nur in zwei Exemplaren<lb/>
in Amsterdam und London bekannt ist. Dieses früheste unter seineu Selbst¬<lb/>
bildnissen, deren er nicht weniger als 5!4 radirt und nahezu f&gt;0 gemalt hat,<lb/>
steht auch den Gemälden im Haag und im Germanischen Museum am nächsten<lb/>
und bietet für die Bestimmung andrer einen willkommenen Anhaltepunkt.<lb/>
Denn nur schwer kann man aus diesen merkwürdig verzerrten Zügen immer<lb/>
denselben lebhaften Jünglingskopf herauserkennen. Fesselnd ist es, die nervöse<lb/>
Hast in dem Suchen nach geistigen wie technischen Wirkungen zu beobachten,<lb/>
die auch die Behandlung des Haares mit in die Ausdrucksmittel hineinzieht.<lb/>
Schmerz, Zorn, Entsetzen neben ausgelassener Lustigkeit und nachdenklichen<lb/>
Brüten, kurz die ganze Stufenleiter menschlicher Stimmungen und Seelen¬<lb/>
zustände begegnet uns in diesen frühen Studien, die eben mehr als solche,<lb/>
denn als eigentliche Bildnisse aufgefaßt werden wollen. Wie er fo an seinem<lb/>
eignen Kopf studirte, sehen wir ihn mich sich die Modelle von der Straße<lb/>
holen, wie jenen prächtigen Alten mit weißem Bart, der uns auch in seinen<lb/>
Ölgemälden wiederholt begegnet, oder den Dickkopf, dem man den Namen<lb/>
klomm0 taiss-ut i-l inouv gegeben hat, während diese wulstigen Negerlippen<lb/>
doch nur eins der vielen Mittel sind, mit denen der Künstler hier Eigennutz,<lb/>
Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit in so überzeugender Weise ausgedrückt<lb/>
hat, daß mau versucht wäre, eine freie Erfindung anzunehmen. Der Umstand, daß<lb/>
Rembrandts Schiller Jan van LivenS dasselbe Modell für eine seiner Bildnis-<lb/>
radirungeu benutzt hat, stößt aber eine solche Vermutung um, legt vielmehr<lb/>
die andre nahe, daß wir es im ersten Zustande der Platte mit einer Arbeit<lb/>
des Schülers zu thun haben, die im zweiten von der Hand des Meisters, und<lb/>
zwar mit dem Grabstichel g'srotuoi&lt;Li't!t, d. h. retouchirt wurde; denu thatsächlich<lb/>
erhält der Kopf erst durch die Strichlagen dieses zweiten Zustandes Leben und<lb/>
Kraft des Ausdruckes. Neben diesem Bemühen des jugendlichen Künstlers, in der<lb/>
Schilderung des Gemütslebens möglichst tief vorzudringen, zeigen seine frühen<lb/>
Radirungen auch seine Vorliebe für fremdartige, namentlich orientalische Typen<lb/>
und Kostüme. Bot ihm doch der Ghetto und die &#x201E;Bnitenkant," der alte<lb/>
Hafenqnai der mächtigen Handelsstadt, reiche Gelegenheit zu solche» Beobach¬<lb/>
tungen. Der Amsterdamer Jude des siebzehnten Jahrhunderts ist durch Rem¬<lb/>
brandts Kunst geradezu mit einem Glorienschein umgeben worden. Es wandelten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0244] Die Rembrandt-Ausstellung im Berliner Anpferstichkalnnel Bilder und Radirungen sind daher auf den Namen der Neeltge Gerrit, der ehrsamen Gattin des Lehdener Müllers Harnen Gerrit getauft worden, auch das prächtige Porträt, das wir nicht weit von unsrer besprochenen Radirnng erblicken. Sicherer als bei dieser sind wir in Bezug auf die Person des Dar¬ gestellten bei einer Reihe von Stndienköpfen, die die nächsten untern Rahmen füllen: es sind Selbstporträts des Meisters in größter Mannichfaltigkeit des Ausdrucks, der Stimmung und des Kostüms. Leider fehlt in unsrer Aus¬ stellung das geniale, auch technisch durch die Benutzung einer zweispitzigen Radirnadel interessante große Jugeudporträt, das nur in zwei Exemplaren in Amsterdam und London bekannt ist. Dieses früheste unter seineu Selbst¬ bildnissen, deren er nicht weniger als 5!4 radirt und nahezu f>0 gemalt hat, steht auch den Gemälden im Haag und im Germanischen Museum am nächsten und bietet für die Bestimmung andrer einen willkommenen Anhaltepunkt. Denn nur schwer kann man aus diesen merkwürdig verzerrten Zügen immer denselben lebhaften Jünglingskopf herauserkennen. Fesselnd ist es, die nervöse Hast in dem Suchen nach geistigen wie technischen Wirkungen zu beobachten, die auch die Behandlung des Haares mit in die Ausdrucksmittel hineinzieht. Schmerz, Zorn, Entsetzen neben ausgelassener Lustigkeit und nachdenklichen Brüten, kurz die ganze Stufenleiter menschlicher Stimmungen und Seelen¬ zustände begegnet uns in diesen frühen Studien, die eben mehr als solche, denn als eigentliche Bildnisse aufgefaßt werden wollen. Wie er fo an seinem eignen Kopf studirte, sehen wir ihn mich sich die Modelle von der Straße holen, wie jenen prächtigen Alten mit weißem Bart, der uns auch in seinen Ölgemälden wiederholt begegnet, oder den Dickkopf, dem man den Namen klomm0 taiss-ut i-l inouv gegeben hat, während diese wulstigen Negerlippen doch nur eins der vielen Mittel sind, mit denen der Künstler hier Eigennutz, Beschränktheit und Rücksichtslosigkeit in so überzeugender Weise ausgedrückt hat, daß mau versucht wäre, eine freie Erfindung anzunehmen. Der Umstand, daß Rembrandts Schiller Jan van LivenS dasselbe Modell für eine seiner Bildnis- radirungeu benutzt hat, stößt aber eine solche Vermutung um, legt vielmehr die andre nahe, daß wir es im ersten Zustande der Platte mit einer Arbeit des Schülers zu thun haben, die im zweiten von der Hand des Meisters, und zwar mit dem Grabstichel g'srotuoi<Li't!t, d. h. retouchirt wurde; denu thatsächlich erhält der Kopf erst durch die Strichlagen dieses zweiten Zustandes Leben und Kraft des Ausdruckes. Neben diesem Bemühen des jugendlichen Künstlers, in der Schilderung des Gemütslebens möglichst tief vorzudringen, zeigen seine frühen Radirungen auch seine Vorliebe für fremdartige, namentlich orientalische Typen und Kostüme. Bot ihm doch der Ghetto und die „Bnitenkant," der alte Hafenqnai der mächtigen Handelsstadt, reiche Gelegenheit zu solche» Beobach¬ tungen. Der Amsterdamer Jude des siebzehnten Jahrhunderts ist durch Rem¬ brandts Kunst geradezu mit einem Glorienschein umgeben worden. Es wandelten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/244
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/244>, abgerufen am 25.08.2024.