Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das allgemeine Wahlrecht

erscheinen. Man lasse die bisherigen Bestimmungen über die Aufstellung der
Wahllisten und über die Bildung der Wahlvorstände bestehen; bei diesen Vor¬
ständen müßten sich die, die am Wahltage zu erscheinen verhindert sind,
schriftlich entschuldigen oder durch einen Wähler ihres Bezirkes entschuldigen
lassen. Wer ohne eine solche Entschuldigung ausbleibt, wird aufgeschrieben;
als Strafe aber würde sich am zweckmäßigsten eine Beschränkung oder der
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf eine bestimmte Zeitdauer, etwa bis
zu den nächsten Neichstngswahlen, empfehlen. Die Arbeit, die aus einem
solchen Verfahren den einzelnen Wnhlvorständen erwachsen würde, dürfte
schwerlich zu Bedenken Anlaß geben, zumal dn die Zahl der Ausbleibenden
uach der Einführung der Wahlpflicht ohne Zweifel ans einen geringen Prozentsatz
zurückgehen würde.

Gegenüber jenen Einwänden stehen schwerwiegende Gründe, die eine ge¬
setzliche Wahlpflicht befürworten. Außer der Thatsache, daß sie allein den zu
Gründe liegenden Verhältnissen entspricht, ist an erster Stelle das gesteigerte
Bewußtsein der Verantwortlichkeit zu betonen, das sie in der Nation erzeugen
würde. Der Staat würde sich an den Wahltagen dem Volke in seiner ernsten
Hoheit offenbaren lind unwillkürlich die Mehrzahl der Wähler um die Bedeutung
des Augenblickes erinnern. Ferner würde das Urteil, das ein so an die Urne
berufenes Volk füllt, an Wucht und Schwere gewinnen. Die Vorstellung, daß
ein Parlament thatsächlich aus den Wahlen der gesamten Nation hervor¬
gegangen sei, muß dessen Ansehen in den Angen des Volkes und der Regierung
erhöhen, und namentlich die letztere sollte jede Einrichtung mit Freuden be¬
grüßen, die ihr gestattet, die Volksstimmung in möglichster Genauigkeit zu er¬
kennen/')

Wiederholt ist in den letzten Wochen der Mahnruf ertönt, daß sich das
Bürgertum sammeln und im Angesicht der innern Gefahren seine ganze Kraft
zusammenraffen solle. Aber diese Rufe werden im Winde Verhalten, so lange
nicht das Bewußtsein einer gemeinsamen und heiligen Pflicht in andrer Weise
als bisher die Nation durchdringt. Dieses Bewußtsein zu wecken, giebt es
ein zaubergewaltiges Wort, die Losung auf dem Schiffe, das einem drohenden
Sturm entgegenfährt: Alle Mann an Bord!


Johannes AreIItzer



") Auf eine weitere Ausführung und Begründung der oben aufgestellte" Sätze mußte
ich hier verzichten, doch hoffe ich dies sowie eine Prüfung der in der letzten Zeit veröffent¬
lichten Ansichten und Vorschläge an einer andern Stelle nachholen zu können.
Das allgemeine Wahlrecht

erscheinen. Man lasse die bisherigen Bestimmungen über die Aufstellung der
Wahllisten und über die Bildung der Wahlvorstände bestehen; bei diesen Vor¬
ständen müßten sich die, die am Wahltage zu erscheinen verhindert sind,
schriftlich entschuldigen oder durch einen Wähler ihres Bezirkes entschuldigen
lassen. Wer ohne eine solche Entschuldigung ausbleibt, wird aufgeschrieben;
als Strafe aber würde sich am zweckmäßigsten eine Beschränkung oder der
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf eine bestimmte Zeitdauer, etwa bis
zu den nächsten Neichstngswahlen, empfehlen. Die Arbeit, die aus einem
solchen Verfahren den einzelnen Wnhlvorständen erwachsen würde, dürfte
schwerlich zu Bedenken Anlaß geben, zumal dn die Zahl der Ausbleibenden
uach der Einführung der Wahlpflicht ohne Zweifel ans einen geringen Prozentsatz
zurückgehen würde.

Gegenüber jenen Einwänden stehen schwerwiegende Gründe, die eine ge¬
setzliche Wahlpflicht befürworten. Außer der Thatsache, daß sie allein den zu
Gründe liegenden Verhältnissen entspricht, ist an erster Stelle das gesteigerte
Bewußtsein der Verantwortlichkeit zu betonen, das sie in der Nation erzeugen
würde. Der Staat würde sich an den Wahltagen dem Volke in seiner ernsten
Hoheit offenbaren lind unwillkürlich die Mehrzahl der Wähler um die Bedeutung
des Augenblickes erinnern. Ferner würde das Urteil, das ein so an die Urne
berufenes Volk füllt, an Wucht und Schwere gewinnen. Die Vorstellung, daß
ein Parlament thatsächlich aus den Wahlen der gesamten Nation hervor¬
gegangen sei, muß dessen Ansehen in den Angen des Volkes und der Regierung
erhöhen, und namentlich die letztere sollte jede Einrichtung mit Freuden be¬
grüßen, die ihr gestattet, die Volksstimmung in möglichster Genauigkeit zu er¬
kennen/')

Wiederholt ist in den letzten Wochen der Mahnruf ertönt, daß sich das
Bürgertum sammeln und im Angesicht der innern Gefahren seine ganze Kraft
zusammenraffen solle. Aber diese Rufe werden im Winde Verhalten, so lange
nicht das Bewußtsein einer gemeinsamen und heiligen Pflicht in andrer Weise
als bisher die Nation durchdringt. Dieses Bewußtsein zu wecken, giebt es
ein zaubergewaltiges Wort, die Losung auf dem Schiffe, das einem drohenden
Sturm entgegenfährt: Alle Mann an Bord!


Johannes AreIItzer



") Auf eine weitere Ausführung und Begründung der oben aufgestellte» Sätze mußte
ich hier verzichten, doch hoffe ich dies sowie eine Prüfung der in der letzten Zeit veröffent¬
lichten Ansichten und Vorschläge an einer andern Stelle nachholen zu können.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208803"/>
          <fw type="header" place="top"> Das allgemeine Wahlrecht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_631" prev="#ID_630"> erscheinen. Man lasse die bisherigen Bestimmungen über die Aufstellung der<lb/>
Wahllisten und über die Bildung der Wahlvorstände bestehen; bei diesen Vor¬<lb/>
ständen müßten sich die, die am Wahltage zu erscheinen verhindert sind,<lb/>
schriftlich entschuldigen oder durch einen Wähler ihres Bezirkes entschuldigen<lb/>
lassen. Wer ohne eine solche Entschuldigung ausbleibt, wird aufgeschrieben;<lb/>
als Strafe aber würde sich am zweckmäßigsten eine Beschränkung oder der<lb/>
Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf eine bestimmte Zeitdauer, etwa bis<lb/>
zu den nächsten Neichstngswahlen, empfehlen. Die Arbeit, die aus einem<lb/>
solchen Verfahren den einzelnen Wnhlvorständen erwachsen würde, dürfte<lb/>
schwerlich zu Bedenken Anlaß geben, zumal dn die Zahl der Ausbleibenden<lb/>
uach der Einführung der Wahlpflicht ohne Zweifel ans einen geringen Prozentsatz<lb/>
zurückgehen würde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_632"> Gegenüber jenen Einwänden stehen schwerwiegende Gründe, die eine ge¬<lb/>
setzliche Wahlpflicht befürworten. Außer der Thatsache, daß sie allein den zu<lb/>
Gründe liegenden Verhältnissen entspricht, ist an erster Stelle das gesteigerte<lb/>
Bewußtsein der Verantwortlichkeit zu betonen, das sie in der Nation erzeugen<lb/>
würde. Der Staat würde sich an den Wahltagen dem Volke in seiner ernsten<lb/>
Hoheit offenbaren lind unwillkürlich die Mehrzahl der Wähler um die Bedeutung<lb/>
des Augenblickes erinnern. Ferner würde das Urteil, das ein so an die Urne<lb/>
berufenes Volk füllt, an Wucht und Schwere gewinnen. Die Vorstellung, daß<lb/>
ein Parlament thatsächlich aus den Wahlen der gesamten Nation hervor¬<lb/>
gegangen sei, muß dessen Ansehen in den Angen des Volkes und der Regierung<lb/>
erhöhen, und namentlich die letztere sollte jede Einrichtung mit Freuden be¬<lb/>
grüßen, die ihr gestattet, die Volksstimmung in möglichster Genauigkeit zu er¬<lb/>
kennen/')</p><lb/>
          <p xml:id="ID_633"> Wiederholt ist in den letzten Wochen der Mahnruf ertönt, daß sich das<lb/>
Bürgertum sammeln und im Angesicht der innern Gefahren seine ganze Kraft<lb/>
zusammenraffen solle. Aber diese Rufe werden im Winde Verhalten, so lange<lb/>
nicht das Bewußtsein einer gemeinsamen und heiligen Pflicht in andrer Weise<lb/>
als bisher die Nation durchdringt. Dieses Bewußtsein zu wecken, giebt es<lb/>
ein zaubergewaltiges Wort, die Losung auf dem Schiffe, das einem drohenden<lb/>
Sturm entgegenfährt: Alle Mann an Bord!</p><lb/>
          <note type="byline"> Johannes AreIItzer</note><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> ") Auf eine weitere Ausführung und Begründung der oben aufgestellte» Sätze mußte<lb/>
ich hier verzichten, doch hoffe ich dies sowie eine Prüfung der in der letzten Zeit veröffent¬<lb/>
lichten Ansichten und Vorschläge an einer andern Stelle nachholen zu können.</note><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] Das allgemeine Wahlrecht erscheinen. Man lasse die bisherigen Bestimmungen über die Aufstellung der Wahllisten und über die Bildung der Wahlvorstände bestehen; bei diesen Vor¬ ständen müßten sich die, die am Wahltage zu erscheinen verhindert sind, schriftlich entschuldigen oder durch einen Wähler ihres Bezirkes entschuldigen lassen. Wer ohne eine solche Entschuldigung ausbleibt, wird aufgeschrieben; als Strafe aber würde sich am zweckmäßigsten eine Beschränkung oder der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf eine bestimmte Zeitdauer, etwa bis zu den nächsten Neichstngswahlen, empfehlen. Die Arbeit, die aus einem solchen Verfahren den einzelnen Wnhlvorständen erwachsen würde, dürfte schwerlich zu Bedenken Anlaß geben, zumal dn die Zahl der Ausbleibenden uach der Einführung der Wahlpflicht ohne Zweifel ans einen geringen Prozentsatz zurückgehen würde. Gegenüber jenen Einwänden stehen schwerwiegende Gründe, die eine ge¬ setzliche Wahlpflicht befürworten. Außer der Thatsache, daß sie allein den zu Gründe liegenden Verhältnissen entspricht, ist an erster Stelle das gesteigerte Bewußtsein der Verantwortlichkeit zu betonen, das sie in der Nation erzeugen würde. Der Staat würde sich an den Wahltagen dem Volke in seiner ernsten Hoheit offenbaren lind unwillkürlich die Mehrzahl der Wähler um die Bedeutung des Augenblickes erinnern. Ferner würde das Urteil, das ein so an die Urne berufenes Volk füllt, an Wucht und Schwere gewinnen. Die Vorstellung, daß ein Parlament thatsächlich aus den Wahlen der gesamten Nation hervor¬ gegangen sei, muß dessen Ansehen in den Angen des Volkes und der Regierung erhöhen, und namentlich die letztere sollte jede Einrichtung mit Freuden be¬ grüßen, die ihr gestattet, die Volksstimmung in möglichster Genauigkeit zu er¬ kennen/') Wiederholt ist in den letzten Wochen der Mahnruf ertönt, daß sich das Bürgertum sammeln und im Angesicht der innern Gefahren seine ganze Kraft zusammenraffen solle. Aber diese Rufe werden im Winde Verhalten, so lange nicht das Bewußtsein einer gemeinsamen und heiligen Pflicht in andrer Weise als bisher die Nation durchdringt. Dieses Bewußtsein zu wecken, giebt es ein zaubergewaltiges Wort, die Losung auf dem Schiffe, das einem drohenden Sturm entgegenfährt: Alle Mann an Bord! Johannes AreIItzer ") Auf eine weitere Ausführung und Begründung der oben aufgestellte» Sätze mußte ich hier verzichten, doch hoffe ich dies sowie eine Prüfung der in der letzten Zeit veröffent¬ lichten Ansichten und Vorschläge an einer andern Stelle nachholen zu können.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/224>, abgerufen am 25.08.2024.