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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

zahl ihren Charakter festigen und ein Verständnis für die Aufgaben des Staates
gewinnen werden. Zu jenem Zeususvorschlag führte mich lediglich die Über¬
zeugung, daß alle die, welche die aufgestellten Bedingungen nicht erfüllen, bis zu
einem solchen Grade in der Sorge um ihre körperliche Existenz aufgehen, daß
es thuen unmöglich sein muß, ihre Gedanken anch nur flüchtig ans die Inter¬
essen und Bedürfnisse des Staates zu lenken oder gar sich zum Verständnis
seiner wahren Aufgaben zu erheben. Mit dein Ausschluß dieser Personen
aber wäre der sozialdemokratischen Agitation ein weites und ergiebiges Gebiet
entzogen.

Was nun die Forderung der Wahlpflicht betrifft, so wiederhole ich zu
deren Begründung den Satz, daß die Aufgabe, den Gesetzgeber zu ernenne",
der das Vaterland gegen innere Gefahren zu schützen hat, an Bedeutung und
Verantwortlichkeit hinter keiner andern Bürgerpflicht zurücksteht. Man be¬
trachtet es ja auch jetzt schon als die Pflicht eines gebildeten und gewissen¬
haften Mannes, daß er sein Wahlrecht ausübe. Aber wie steht es damit in
der Wirklichkeit? Die Statistik der letzten Rcichswgswahlen zeigt, daß von
zehn Millionen Wahlberechtigten nahezu drei Millionen nicht an der Stimm¬
urne erschienen sind! Natürlich waren unter diesen drei Millionen viele durch
Krankheit oder ein andres Hindernis ferngehalten, aber es läßt sich nicht be¬
zweifeln, daß nach Abzug aller Entschuldigten noch eine ungeheure Zahl von
solchen übrig bleibt, die aus Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit zu Hause
blieben. In Anbetracht dieser Thatsache erscheint die Frage berechtigt, ob
nicht Gründe vorhanden sind, jene anerkannte sittliche Verpflichtung in eine
gesetzliche zu verwandeln.

In der Beantwortung dieser Frage will ich zunächst die Einwände, die
sich gegen die Wahlpflicht machen lassen, einer Prüfung unterziehen. Der
Einwurf, daß sie einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeute, zerfällt in
sich selbst, weil nach der bisherigen Erörterung von einem Rechte oder einer
Freiheit in diesem Falle überhaupt nicht die Rede sein kann. Zudem würden
ja nur die Gleichgiltigeu und Bequemen den Zwang empfinden, und auf diese
Rücksicht nehmen zu wollen, wäre eine schlecht angebrachte Höflichkeit. Dagegen
würde man mit einer gewissen Berechtigung behaupten können, daß die Bürger,
die kein Interesse an den politischen Dingen nehmen und deshalb ihr Stimm¬
recht nicht ausüben, von vornherein in die Klasse der Wahlunfühigen zu rechnen
seien. Dem gegenüber aber wolle man bedenken, daß gerade das Bewußtsein
der Wahlpflicht jene Schläfer aufrütteln muß, sodaß wir uns dem Ideal jenes
griechischen Weisen nähern würden, der in allen wichtigen Staatsfragen von
jedem Bürger eine entschiedene Parteinahme verlangte.

Ein andrer Einwurf könnte aus den Schwierigkeiten entnommen werden,
die sich der praktischen Durchführung der Wahlpflicht entgegenstellen würden.
Faßt mau diese aber näher ins Auge, so werden sie nicht als unüberwindlich


Das allgemeine Wahlrecht

zahl ihren Charakter festigen und ein Verständnis für die Aufgaben des Staates
gewinnen werden. Zu jenem Zeususvorschlag führte mich lediglich die Über¬
zeugung, daß alle die, welche die aufgestellten Bedingungen nicht erfüllen, bis zu
einem solchen Grade in der Sorge um ihre körperliche Existenz aufgehen, daß
es thuen unmöglich sein muß, ihre Gedanken anch nur flüchtig ans die Inter¬
essen und Bedürfnisse des Staates zu lenken oder gar sich zum Verständnis
seiner wahren Aufgaben zu erheben. Mit dein Ausschluß dieser Personen
aber wäre der sozialdemokratischen Agitation ein weites und ergiebiges Gebiet
entzogen.

Was nun die Forderung der Wahlpflicht betrifft, so wiederhole ich zu
deren Begründung den Satz, daß die Aufgabe, den Gesetzgeber zu ernenne»,
der das Vaterland gegen innere Gefahren zu schützen hat, an Bedeutung und
Verantwortlichkeit hinter keiner andern Bürgerpflicht zurücksteht. Man be¬
trachtet es ja auch jetzt schon als die Pflicht eines gebildeten und gewissen¬
haften Mannes, daß er sein Wahlrecht ausübe. Aber wie steht es damit in
der Wirklichkeit? Die Statistik der letzten Rcichswgswahlen zeigt, daß von
zehn Millionen Wahlberechtigten nahezu drei Millionen nicht an der Stimm¬
urne erschienen sind! Natürlich waren unter diesen drei Millionen viele durch
Krankheit oder ein andres Hindernis ferngehalten, aber es läßt sich nicht be¬
zweifeln, daß nach Abzug aller Entschuldigten noch eine ungeheure Zahl von
solchen übrig bleibt, die aus Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit zu Hause
blieben. In Anbetracht dieser Thatsache erscheint die Frage berechtigt, ob
nicht Gründe vorhanden sind, jene anerkannte sittliche Verpflichtung in eine
gesetzliche zu verwandeln.

In der Beantwortung dieser Frage will ich zunächst die Einwände, die
sich gegen die Wahlpflicht machen lassen, einer Prüfung unterziehen. Der
Einwurf, daß sie einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeute, zerfällt in
sich selbst, weil nach der bisherigen Erörterung von einem Rechte oder einer
Freiheit in diesem Falle überhaupt nicht die Rede sein kann. Zudem würden
ja nur die Gleichgiltigeu und Bequemen den Zwang empfinden, und auf diese
Rücksicht nehmen zu wollen, wäre eine schlecht angebrachte Höflichkeit. Dagegen
würde man mit einer gewissen Berechtigung behaupten können, daß die Bürger,
die kein Interesse an den politischen Dingen nehmen und deshalb ihr Stimm¬
recht nicht ausüben, von vornherein in die Klasse der Wahlunfühigen zu rechnen
seien. Dem gegenüber aber wolle man bedenken, daß gerade das Bewußtsein
der Wahlpflicht jene Schläfer aufrütteln muß, sodaß wir uns dem Ideal jenes
griechischen Weisen nähern würden, der in allen wichtigen Staatsfragen von
jedem Bürger eine entschiedene Parteinahme verlangte.

Ein andrer Einwurf könnte aus den Schwierigkeiten entnommen werden,
die sich der praktischen Durchführung der Wahlpflicht entgegenstellen würden.
Faßt mau diese aber näher ins Auge, so werden sie nicht als unüberwindlich


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[0223] Das allgemeine Wahlrecht zahl ihren Charakter festigen und ein Verständnis für die Aufgaben des Staates gewinnen werden. Zu jenem Zeususvorschlag führte mich lediglich die Über¬ zeugung, daß alle die, welche die aufgestellten Bedingungen nicht erfüllen, bis zu einem solchen Grade in der Sorge um ihre körperliche Existenz aufgehen, daß es thuen unmöglich sein muß, ihre Gedanken anch nur flüchtig ans die Inter¬ essen und Bedürfnisse des Staates zu lenken oder gar sich zum Verständnis seiner wahren Aufgaben zu erheben. Mit dein Ausschluß dieser Personen aber wäre der sozialdemokratischen Agitation ein weites und ergiebiges Gebiet entzogen. Was nun die Forderung der Wahlpflicht betrifft, so wiederhole ich zu deren Begründung den Satz, daß die Aufgabe, den Gesetzgeber zu ernenne», der das Vaterland gegen innere Gefahren zu schützen hat, an Bedeutung und Verantwortlichkeit hinter keiner andern Bürgerpflicht zurücksteht. Man be¬ trachtet es ja auch jetzt schon als die Pflicht eines gebildeten und gewissen¬ haften Mannes, daß er sein Wahlrecht ausübe. Aber wie steht es damit in der Wirklichkeit? Die Statistik der letzten Rcichswgswahlen zeigt, daß von zehn Millionen Wahlberechtigten nahezu drei Millionen nicht an der Stimm¬ urne erschienen sind! Natürlich waren unter diesen drei Millionen viele durch Krankheit oder ein andres Hindernis ferngehalten, aber es läßt sich nicht be¬ zweifeln, daß nach Abzug aller Entschuldigten noch eine ungeheure Zahl von solchen übrig bleibt, die aus Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit zu Hause blieben. In Anbetracht dieser Thatsache erscheint die Frage berechtigt, ob nicht Gründe vorhanden sind, jene anerkannte sittliche Verpflichtung in eine gesetzliche zu verwandeln. In der Beantwortung dieser Frage will ich zunächst die Einwände, die sich gegen die Wahlpflicht machen lassen, einer Prüfung unterziehen. Der Einwurf, daß sie einen Eingriff in die persönliche Freiheit bedeute, zerfällt in sich selbst, weil nach der bisherigen Erörterung von einem Rechte oder einer Freiheit in diesem Falle überhaupt nicht die Rede sein kann. Zudem würden ja nur die Gleichgiltigeu und Bequemen den Zwang empfinden, und auf diese Rücksicht nehmen zu wollen, wäre eine schlecht angebrachte Höflichkeit. Dagegen würde man mit einer gewissen Berechtigung behaupten können, daß die Bürger, die kein Interesse an den politischen Dingen nehmen und deshalb ihr Stimm¬ recht nicht ausüben, von vornherein in die Klasse der Wahlunfühigen zu rechnen seien. Dem gegenüber aber wolle man bedenken, daß gerade das Bewußtsein der Wahlpflicht jene Schläfer aufrütteln muß, sodaß wir uns dem Ideal jenes griechischen Weisen nähern würden, der in allen wichtigen Staatsfragen von jedem Bürger eine entschiedene Parteinahme verlangte. Ein andrer Einwurf könnte aus den Schwierigkeiten entnommen werden, die sich der praktischen Durchführung der Wahlpflicht entgegenstellen würden. Faßt mau diese aber näher ins Auge, so werden sie nicht als unüberwindlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/223>, abgerufen am 25.08.2024.