Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vas allgemeine Wahlrecht

Das wirkte. Schon nur folgenden Tage faßte der Bundestag einen neuen
Beschluß, der sich den am 1. April vom Vorparlament aufgestellten Prinzipien
anbequemte und der preußischen Regierung einen leidlich ehrenvollen Rückzug
ermöglichte. Daß man diesen antrat, meldete schon am 9. eine Depesche des
Ministers Camphausen, und am 10. wurde dem Vereinigten Landtag die Er¬
öffnung, daß die Regierung auf die Abordnung der von ihm gewählten verzichte.

Das aus allgemeinen, aber mittelbaren Wahlen hervorgegangene Parlament
trat am 18. Mai in der Paulskirche zu Frankfurt'a. M. zusammen. In seiner
170. Sitzung am 15. Februar 1849 begann es die Veratnng über den vom
Verfassnngsausschuß vorgelegte" Entwurf eines Neichswahlgesetzes, dessen erste
Paragraphen wider alles Erwarten folgenden Wortlaut hatten: ,,Z 1. Wähler
ist jeder selbständige, unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste
Jahr zurückgelegt hat. t? 2. Als nicht selbständig, also von der Berechtigung
zum Wählen ausgeschlossen, sollen angesehen werden: 1. Personen, welche
nnter Vormundschaft oder Kuratel stehen oder über deren Vermögen Konkurs¬
oder Fallitznstand gerichtlich eröffnet ist; 2. Personen, welche eine Armen-
unterstützung aus öffentlichen Mitteln beziehen; 3. Dienstboten; 4. Handwerks-
gehilfen nud Fabrikarbeiter; 5. Tagelöhner."

Diese Vorschläge machen uns neugierig, die Gründe kennen zu lernen,
dnrch die sich die Kommission in ihren Beratungen hatte bestimmen lassen.
Der Kommissionsbericht sagt darüber folgendes: "Die Mehrheit des Verfnssungs-
ausschusses war darin einig, daß bei direkter Wahl eine Beschränkung des
allgemeinen Stimmrechtes notwendig sei. Keine Staatsordnung, möge sie sein,
welche sie wolle, wird bestehen, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen
in die Hände der großen Masse gelegt wird, die sich nur zu oft willenlos
leiten läßt. Der Forderung des allgemeinen Stimmrechtes Hat sich die Be¬
schränkung, welche in dem Begriff der Selbständigkeit enthalte" ist, auf deut¬
schem Boden an vielen Orten sogleich entgegengestellt. Das vor allem scheint
dem oentschen Sinn anch in der Zeit der ersten unruhigen Bewegung wider¬
strebt zu haben, daß der abhängige, in allen seinen Lebensverhältnissen auf
eine andre Persönlichkeit hingewiesene Mann dein selbständigen, für sich stehenden
und für sich thätigen gleichgestellt werde. Es ist gesagt worden, daß die
Ausschließung dieser Bevölkerung sie in einen gefährlichen Gegensatz zu der
übrigen Gesellschaft setze, daß man nicht ans diese Weise ein politisches Prole¬
tariat schaffen möge, daß es vielmehr darauf ankomme, den sogenannten vierten
Stand in die staatliche Ordnung aufzunehmen. Allein diese Grundsätze beweisen
durchaus nicht, daß jetzt der großen unselbständigen Masse der überwiegende
Einfluß auf die Bildung der Volksvertretung und damit auf die ganze Ge¬
staltung des Staatslebens eingeräumt werden dürfe; sie können mir dahin
führen, daß man sich mehr und mehr damit beschäftigt, ihre Zustünde zu
regeln. Es hieße der sozialen Reform, mit welcher die Zeit sich trägt, wesentlich


Vas allgemeine Wahlrecht

Das wirkte. Schon nur folgenden Tage faßte der Bundestag einen neuen
Beschluß, der sich den am 1. April vom Vorparlament aufgestellten Prinzipien
anbequemte und der preußischen Regierung einen leidlich ehrenvollen Rückzug
ermöglichte. Daß man diesen antrat, meldete schon am 9. eine Depesche des
Ministers Camphausen, und am 10. wurde dem Vereinigten Landtag die Er¬
öffnung, daß die Regierung auf die Abordnung der von ihm gewählten verzichte.

Das aus allgemeinen, aber mittelbaren Wahlen hervorgegangene Parlament
trat am 18. Mai in der Paulskirche zu Frankfurt'a. M. zusammen. In seiner
170. Sitzung am 15. Februar 1849 begann es die Veratnng über den vom
Verfassnngsausschuß vorgelegte» Entwurf eines Neichswahlgesetzes, dessen erste
Paragraphen wider alles Erwarten folgenden Wortlaut hatten: ,,Z 1. Wähler
ist jeder selbständige, unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste
Jahr zurückgelegt hat. t? 2. Als nicht selbständig, also von der Berechtigung
zum Wählen ausgeschlossen, sollen angesehen werden: 1. Personen, welche
nnter Vormundschaft oder Kuratel stehen oder über deren Vermögen Konkurs¬
oder Fallitznstand gerichtlich eröffnet ist; 2. Personen, welche eine Armen-
unterstützung aus öffentlichen Mitteln beziehen; 3. Dienstboten; 4. Handwerks-
gehilfen nud Fabrikarbeiter; 5. Tagelöhner."

Diese Vorschläge machen uns neugierig, die Gründe kennen zu lernen,
dnrch die sich die Kommission in ihren Beratungen hatte bestimmen lassen.
Der Kommissionsbericht sagt darüber folgendes: „Die Mehrheit des Verfnssungs-
ausschusses war darin einig, daß bei direkter Wahl eine Beschränkung des
allgemeinen Stimmrechtes notwendig sei. Keine Staatsordnung, möge sie sein,
welche sie wolle, wird bestehen, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen
in die Hände der großen Masse gelegt wird, die sich nur zu oft willenlos
leiten läßt. Der Forderung des allgemeinen Stimmrechtes Hat sich die Be¬
schränkung, welche in dem Begriff der Selbständigkeit enthalte» ist, auf deut¬
schem Boden an vielen Orten sogleich entgegengestellt. Das vor allem scheint
dem oentschen Sinn anch in der Zeit der ersten unruhigen Bewegung wider¬
strebt zu haben, daß der abhängige, in allen seinen Lebensverhältnissen auf
eine andre Persönlichkeit hingewiesene Mann dein selbständigen, für sich stehenden
und für sich thätigen gleichgestellt werde. Es ist gesagt worden, daß die
Ausschließung dieser Bevölkerung sie in einen gefährlichen Gegensatz zu der
übrigen Gesellschaft setze, daß man nicht ans diese Weise ein politisches Prole¬
tariat schaffen möge, daß es vielmehr darauf ankomme, den sogenannten vierten
Stand in die staatliche Ordnung aufzunehmen. Allein diese Grundsätze beweisen
durchaus nicht, daß jetzt der großen unselbständigen Masse der überwiegende
Einfluß auf die Bildung der Volksvertretung und damit auf die ganze Ge¬
staltung des Staatslebens eingeräumt werden dürfe; sie können mir dahin
führen, daß man sich mehr und mehr damit beschäftigt, ihre Zustünde zu
regeln. Es hieße der sozialen Reform, mit welcher die Zeit sich trägt, wesentlich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0213" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208792"/>
          <fw type="header" place="top"> Vas allgemeine Wahlrecht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_591"> Das wirkte. Schon nur folgenden Tage faßte der Bundestag einen neuen<lb/>
Beschluß, der sich den am 1. April vom Vorparlament aufgestellten Prinzipien<lb/>
anbequemte und der preußischen Regierung einen leidlich ehrenvollen Rückzug<lb/>
ermöglichte. Daß man diesen antrat, meldete schon am 9. eine Depesche des<lb/>
Ministers Camphausen, und am 10. wurde dem Vereinigten Landtag die Er¬<lb/>
öffnung, daß die Regierung auf die Abordnung der von ihm gewählten verzichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_592"> Das aus allgemeinen, aber mittelbaren Wahlen hervorgegangene Parlament<lb/>
trat am 18. Mai in der Paulskirche zu Frankfurt'a. M. zusammen. In seiner<lb/>
170. Sitzung am 15. Februar 1849 begann es die Veratnng über den vom<lb/>
Verfassnngsausschuß vorgelegte» Entwurf eines Neichswahlgesetzes, dessen erste<lb/>
Paragraphen wider alles Erwarten folgenden Wortlaut hatten: ,,Z 1. Wähler<lb/>
ist jeder selbständige, unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste<lb/>
Jahr zurückgelegt hat. t? 2. Als nicht selbständig, also von der Berechtigung<lb/>
zum Wählen ausgeschlossen, sollen angesehen werden: 1. Personen, welche<lb/>
nnter Vormundschaft oder Kuratel stehen oder über deren Vermögen Konkurs¬<lb/>
oder Fallitznstand gerichtlich eröffnet ist; 2. Personen, welche eine Armen-<lb/>
unterstützung aus öffentlichen Mitteln beziehen; 3. Dienstboten; 4. Handwerks-<lb/>
gehilfen nud Fabrikarbeiter; 5. Tagelöhner."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_593" next="#ID_594"> Diese Vorschläge machen uns neugierig, die Gründe kennen zu lernen,<lb/>
dnrch die sich die Kommission in ihren Beratungen hatte bestimmen lassen.<lb/>
Der Kommissionsbericht sagt darüber folgendes: &#x201E;Die Mehrheit des Verfnssungs-<lb/>
ausschusses war darin einig, daß bei direkter Wahl eine Beschränkung des<lb/>
allgemeinen Stimmrechtes notwendig sei. Keine Staatsordnung, möge sie sein,<lb/>
welche sie wolle, wird bestehen, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen<lb/>
in die Hände der großen Masse gelegt wird, die sich nur zu oft willenlos<lb/>
leiten läßt. Der Forderung des allgemeinen Stimmrechtes Hat sich die Be¬<lb/>
schränkung, welche in dem Begriff der Selbständigkeit enthalte» ist, auf deut¬<lb/>
schem Boden an vielen Orten sogleich entgegengestellt. Das vor allem scheint<lb/>
dem oentschen Sinn anch in der Zeit der ersten unruhigen Bewegung wider¬<lb/>
strebt zu haben, daß der abhängige, in allen seinen Lebensverhältnissen auf<lb/>
eine andre Persönlichkeit hingewiesene Mann dein selbständigen, für sich stehenden<lb/>
und für sich thätigen gleichgestellt werde. Es ist gesagt worden, daß die<lb/>
Ausschließung dieser Bevölkerung sie in einen gefährlichen Gegensatz zu der<lb/>
übrigen Gesellschaft setze, daß man nicht ans diese Weise ein politisches Prole¬<lb/>
tariat schaffen möge, daß es vielmehr darauf ankomme, den sogenannten vierten<lb/>
Stand in die staatliche Ordnung aufzunehmen. Allein diese Grundsätze beweisen<lb/>
durchaus nicht, daß jetzt der großen unselbständigen Masse der überwiegende<lb/>
Einfluß auf die Bildung der Volksvertretung und damit auf die ganze Ge¬<lb/>
staltung des Staatslebens eingeräumt werden dürfe; sie können mir dahin<lb/>
führen, daß man sich mehr und mehr damit beschäftigt, ihre Zustünde zu<lb/>
regeln. Es hieße der sozialen Reform, mit welcher die Zeit sich trägt, wesentlich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0213] Vas allgemeine Wahlrecht Das wirkte. Schon nur folgenden Tage faßte der Bundestag einen neuen Beschluß, der sich den am 1. April vom Vorparlament aufgestellten Prinzipien anbequemte und der preußischen Regierung einen leidlich ehrenvollen Rückzug ermöglichte. Daß man diesen antrat, meldete schon am 9. eine Depesche des Ministers Camphausen, und am 10. wurde dem Vereinigten Landtag die Er¬ öffnung, daß die Regierung auf die Abordnung der von ihm gewählten verzichte. Das aus allgemeinen, aber mittelbaren Wahlen hervorgegangene Parlament trat am 18. Mai in der Paulskirche zu Frankfurt'a. M. zusammen. In seiner 170. Sitzung am 15. Februar 1849 begann es die Veratnng über den vom Verfassnngsausschuß vorgelegte» Entwurf eines Neichswahlgesetzes, dessen erste Paragraphen wider alles Erwarten folgenden Wortlaut hatten: ,,Z 1. Wähler ist jeder selbständige, unbescholtene Deutsche, welcher das fünfundzwanzigste Jahr zurückgelegt hat. t? 2. Als nicht selbständig, also von der Berechtigung zum Wählen ausgeschlossen, sollen angesehen werden: 1. Personen, welche nnter Vormundschaft oder Kuratel stehen oder über deren Vermögen Konkurs¬ oder Fallitznstand gerichtlich eröffnet ist; 2. Personen, welche eine Armen- unterstützung aus öffentlichen Mitteln beziehen; 3. Dienstboten; 4. Handwerks- gehilfen nud Fabrikarbeiter; 5. Tagelöhner." Diese Vorschläge machen uns neugierig, die Gründe kennen zu lernen, dnrch die sich die Kommission in ihren Beratungen hatte bestimmen lassen. Der Kommissionsbericht sagt darüber folgendes: „Die Mehrheit des Verfnssungs- ausschusses war darin einig, daß bei direkter Wahl eine Beschränkung des allgemeinen Stimmrechtes notwendig sei. Keine Staatsordnung, möge sie sein, welche sie wolle, wird bestehen, wenn die Entscheidung aller politischen Fragen in die Hände der großen Masse gelegt wird, die sich nur zu oft willenlos leiten läßt. Der Forderung des allgemeinen Stimmrechtes Hat sich die Be¬ schränkung, welche in dem Begriff der Selbständigkeit enthalte» ist, auf deut¬ schem Boden an vielen Orten sogleich entgegengestellt. Das vor allem scheint dem oentschen Sinn anch in der Zeit der ersten unruhigen Bewegung wider¬ strebt zu haben, daß der abhängige, in allen seinen Lebensverhältnissen auf eine andre Persönlichkeit hingewiesene Mann dein selbständigen, für sich stehenden und für sich thätigen gleichgestellt werde. Es ist gesagt worden, daß die Ausschließung dieser Bevölkerung sie in einen gefährlichen Gegensatz zu der übrigen Gesellschaft setze, daß man nicht ans diese Weise ein politisches Prole¬ tariat schaffen möge, daß es vielmehr darauf ankomme, den sogenannten vierten Stand in die staatliche Ordnung aufzunehmen. Allein diese Grundsätze beweisen durchaus nicht, daß jetzt der großen unselbständigen Masse der überwiegende Einfluß auf die Bildung der Volksvertretung und damit auf die ganze Ge¬ staltung des Staatslebens eingeräumt werden dürfe; sie können mir dahin führen, daß man sich mehr und mehr damit beschäftigt, ihre Zustünde zu regeln. Es hieße der sozialen Reform, mit welcher die Zeit sich trägt, wesentlich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/213
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/213>, abgerufen am 23.07.2024.