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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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eine seiner Erfindungen immer durch die folgende übertrumpft, er beherrscht
unser gesamtes geistiges Leben. Die Kunst allein ist, wenn sie sich als gleich¬
berechtigte Macht neben den andern erhalten will, nicht imstande, gegen diese
Bestrebungen ein wirksames Gegenwinde zu bilden, wie sehr man ihr auch als
der Hüterin und Priesterin des Ideals ins Gewissen redet. Sie schwimmt
lustig in dem allgemeinen Strome mit, und ihre Jünger wollen es auch nicht
anders, in der großen Mehrzahl wenigstens. Einer ist leichten Sinns voran¬
gegangen, andre sind ihm nachgegangen, die Zahl der Sucher und Forscher
nach neuen Darstellungsmitteln hat sich von Jahr zu Jahr vergrößert, und
heute wandelt die große Masse auf einer gemeinsamen Heerstraße. Eine Ge¬
schichte der Kunst, die sich mit den letzten zwanzig Jahren beschäftigt, eine
Charakteristik der Kunst des Jahres 1890 hat demnach nichts von neuen
Gedanken, sondern nur, aber dafür recht vieles, von neuen Erfindungen, von
technischen Fortschritten, von dein Ineinandergreifen verschiedner Künste, von
der Vermischung der überlieferten Stile zu melden.

Aber wenn auch eine oder zwei Schwalben keinen Sommer machen, so
scheint sich doch wenigstens auf einem Gebiete der Malerei -- soweit München
in Betracht kommt -- ein Umschwung vorzubereiten, eine Reaktion gegen die
einseitige Ausbildung der formalen Seiten eines Kunstwerkes zum Nachteile
seines geistigen Inhalts. Nachdem die Geschichtsmalerei der Pilotyscheu Rich¬
tung noch vor dem Tode ihres Begründers erloschen war, hatte man eine
Zeit lang Ursache, zu glauben, daß die Geschichtsmalerei im großen Stil über¬
haupt eine abgethane Sache sei, ein Standpunkt, zu dem man nicht wieder zu¬
rückkehren würde, zumal da die kulturgeschichtlichen Genrebilder eines Diez und
seiner Schule, eines F. A. Kaulbach, eines I. Brandt in der That den Cha¬
rakter einer geschichtlichen Periode viel treuer und wahrer widerspiegelten als
die anspruchsvollen Staatsaktionen Pilotys und der Seinigen. In dem Grade
aber, wie die technische Geschicklichkeit in der Nachahmung des ganzen kultur¬
geschichtlichen Apparats an Waffen, Trachten, Innenräumen, Geräten u. s. w.
zunahm, trat auch der Maugel an schöpferischer Phantasie immer deutlicher zu
Tage. Die namenlosen Vertreter aller Perioden der Weltgeschichte, die sich
am Ende durch nichts weiter interessant zu machen wußten als durch ihre
mehr oder weniger glänzenden Trachten und durch ihre fremdartigen Erschei¬
nungen, haben nachgerade ihren Berus, der malerische" Technik weiterzuhelfen,
erfüllt, und die Phantasie, die so lange feiernd zugesehen hatte, als die Maler
in der täuschenden Wiedergabe von Harnischen, Lederkollern, Atlaswämsern
und seidnen Rokokofräcken das höchste Ziel ihres Strebens sahen, fängt
wieder an, ihre Schwingen zu regen. Sie nimmt freilich noch keinen hohen
Flug, aber sie knüpft wenigstens da an, wo die Historienmalerei alten Stils
aufgehört hatte. Sie erprobt sich aber nur an den alten Stoffen, der Stil,
in dem sie ihre Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ein neuer geworden.


eine seiner Erfindungen immer durch die folgende übertrumpft, er beherrscht
unser gesamtes geistiges Leben. Die Kunst allein ist, wenn sie sich als gleich¬
berechtigte Macht neben den andern erhalten will, nicht imstande, gegen diese
Bestrebungen ein wirksames Gegenwinde zu bilden, wie sehr man ihr auch als
der Hüterin und Priesterin des Ideals ins Gewissen redet. Sie schwimmt
lustig in dem allgemeinen Strome mit, und ihre Jünger wollen es auch nicht
anders, in der großen Mehrzahl wenigstens. Einer ist leichten Sinns voran¬
gegangen, andre sind ihm nachgegangen, die Zahl der Sucher und Forscher
nach neuen Darstellungsmitteln hat sich von Jahr zu Jahr vergrößert, und
heute wandelt die große Masse auf einer gemeinsamen Heerstraße. Eine Ge¬
schichte der Kunst, die sich mit den letzten zwanzig Jahren beschäftigt, eine
Charakteristik der Kunst des Jahres 1890 hat demnach nichts von neuen
Gedanken, sondern nur, aber dafür recht vieles, von neuen Erfindungen, von
technischen Fortschritten, von dein Ineinandergreifen verschiedner Künste, von
der Vermischung der überlieferten Stile zu melden.

Aber wenn auch eine oder zwei Schwalben keinen Sommer machen, so
scheint sich doch wenigstens auf einem Gebiete der Malerei — soweit München
in Betracht kommt — ein Umschwung vorzubereiten, eine Reaktion gegen die
einseitige Ausbildung der formalen Seiten eines Kunstwerkes zum Nachteile
seines geistigen Inhalts. Nachdem die Geschichtsmalerei der Pilotyscheu Rich¬
tung noch vor dem Tode ihres Begründers erloschen war, hatte man eine
Zeit lang Ursache, zu glauben, daß die Geschichtsmalerei im großen Stil über¬
haupt eine abgethane Sache sei, ein Standpunkt, zu dem man nicht wieder zu¬
rückkehren würde, zumal da die kulturgeschichtlichen Genrebilder eines Diez und
seiner Schule, eines F. A. Kaulbach, eines I. Brandt in der That den Cha¬
rakter einer geschichtlichen Periode viel treuer und wahrer widerspiegelten als
die anspruchsvollen Staatsaktionen Pilotys und der Seinigen. In dem Grade
aber, wie die technische Geschicklichkeit in der Nachahmung des ganzen kultur¬
geschichtlichen Apparats an Waffen, Trachten, Innenräumen, Geräten u. s. w.
zunahm, trat auch der Maugel an schöpferischer Phantasie immer deutlicher zu
Tage. Die namenlosen Vertreter aller Perioden der Weltgeschichte, die sich
am Ende durch nichts weiter interessant zu machen wußten als durch ihre
mehr oder weniger glänzenden Trachten und durch ihre fremdartigen Erschei¬
nungen, haben nachgerade ihren Berus, der malerische« Technik weiterzuhelfen,
erfüllt, und die Phantasie, die so lange feiernd zugesehen hatte, als die Maler
in der täuschenden Wiedergabe von Harnischen, Lederkollern, Atlaswämsern
und seidnen Rokokofräcken das höchste Ziel ihres Strebens sahen, fängt
wieder an, ihre Schwingen zu regen. Sie nimmt freilich noch keinen hohen
Flug, aber sie knüpft wenigstens da an, wo die Historienmalerei alten Stils
aufgehört hatte. Sie erprobt sich aber nur an den alten Stoffen, der Stil,
in dem sie ihre Gedanken zum Ausdruck bringt, ist ein neuer geworden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/197>, abgerufen am 23.07.2024.