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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

zu ernennen, diese wieder die 50000 der Departementslisten, und erst diese
die -- Kandidaten für die Abgeordnetenkammer. Die Auswahl aus jener
dreimal durchgesiebten Kandidatenliste besorgte eine aus achtzig mindestens
vierzigjährigen Bürgern zusammengesetzte Behörde, die ein williges Werkzeug
der Negierung war. In dieser Schablonenarbeit erkennen wir leicht die Thätigkeit
des Ubbo Sieyüsz Bonaparte aber verspürte begreiflicherweise wenig Neigung,
an diesem von dein alten Vorfechter der Revolution ihm angetragenen Wahl¬
system etwas zu ändern.

So ist es dann im allgemeinen bis zum Sturz des Kaisertums geblieben;'
es ist eine unbestrittene Thatsache, daß das "souveräne" Volk von Frankreich
sich schnell mit den gewaltigen Schranken befreundet hat, durch die es von
jeder wirklichen Teilnahme an der Regierung fern gehalten wurde.

In der Charte des Jahres 1814 war für die Wähler ein Zensus von
300, für die Abgeordneten einer von 1000 Franks festgesetzt. Diese Be¬
schränkung blieb bestehen, als im Jahre 1817 auf Antrag des Ministeriums
statt des mittelbaren das unmittelbare Verfahre" eingeführt wurde. In jedem
Departement bildeten von jetzt ab die dreißigjährigen 300-Franks-Bürger eine
Art von Wahlkvllegium, das aus der Zahl der vierzigjährigen 1000-Franks-
Vürger die Abgeordneten ernannte. Man hat berechnet, daß durch diese Be¬
stimmungen das Wahlrecht auf weniger als 100000, die Wählbarkeit auf an¬
nähernd 20000 Bürger beschränkt war.

Die nach der Julirevolution vorgenommene Änderung band das Wahl¬
recht und die Wählbarkeit an einen Zensus von 200 und 500 Franks und
führte die Altersgrenze auf das fünfundzwanzigste und dreißigste Lebensjahr
zurück, sodaß nunmehr im ganzen etwa 200000 Bürger das aktive Wahlrecht
besaßen. Wie weit überhaupt damals die öffentliche Meinung Europas von
der Forderung des allgemeinen Wahlrechts entfernt war, erkennt man aus den
Verordnungen, die um jene Zeit in den beiden Staaten getroffen wurden,
welche man wegen ihrer liberalen Verfassung besonders zu rühmen Pflegt, in
Belgien und in England. Das dnrch die Nachwehen der Julirevolution be¬
einflußte belgische Wahlgesetz schloß durch einen hohen Zensus die Masse"
derart aus, daß ans etwa hundert Seele" ein Wähler kam. Und die um
dieselbe Zeit in England vorgenommene Reform hat, obgleich sie die Zahl der
Wähler um "ahczn eine Million erhöhte, deimvch an den bestehende" Grund¬
sätzen nicht gerüttelt: ein wenn anch geringer Zensus ist bis auf den heutigen
Tag in England die notwendige Voraussetzung des Wahlrechtes geblieben.

Erst das Jahr 1848 brachte dem französischen Volke das allgemeine
Wahlrecht zurück, und dieses wieder nach einigen Schwankungen -- sehr gegen
den Willen seiner Anhänger -- das zweite Kaisertum.

Indem ich nun dazu übergehe, in wenigen Sätzen zu zeigen, was die
deutschen Staatsmänner und Publizisten bis zum Jahre 1848 über unsern


Das allgemeine Wahlrecht

zu ernennen, diese wieder die 50000 der Departementslisten, und erst diese
die — Kandidaten für die Abgeordnetenkammer. Die Auswahl aus jener
dreimal durchgesiebten Kandidatenliste besorgte eine aus achtzig mindestens
vierzigjährigen Bürgern zusammengesetzte Behörde, die ein williges Werkzeug
der Negierung war. In dieser Schablonenarbeit erkennen wir leicht die Thätigkeit
des Ubbo Sieyüsz Bonaparte aber verspürte begreiflicherweise wenig Neigung,
an diesem von dein alten Vorfechter der Revolution ihm angetragenen Wahl¬
system etwas zu ändern.

So ist es dann im allgemeinen bis zum Sturz des Kaisertums geblieben;'
es ist eine unbestrittene Thatsache, daß das „souveräne" Volk von Frankreich
sich schnell mit den gewaltigen Schranken befreundet hat, durch die es von
jeder wirklichen Teilnahme an der Regierung fern gehalten wurde.

In der Charte des Jahres 1814 war für die Wähler ein Zensus von
300, für die Abgeordneten einer von 1000 Franks festgesetzt. Diese Be¬
schränkung blieb bestehen, als im Jahre 1817 auf Antrag des Ministeriums
statt des mittelbaren das unmittelbare Verfahre» eingeführt wurde. In jedem
Departement bildeten von jetzt ab die dreißigjährigen 300-Franks-Bürger eine
Art von Wahlkvllegium, das aus der Zahl der vierzigjährigen 1000-Franks-
Vürger die Abgeordneten ernannte. Man hat berechnet, daß durch diese Be¬
stimmungen das Wahlrecht auf weniger als 100000, die Wählbarkeit auf an¬
nähernd 20000 Bürger beschränkt war.

Die nach der Julirevolution vorgenommene Änderung band das Wahl¬
recht und die Wählbarkeit an einen Zensus von 200 und 500 Franks und
führte die Altersgrenze auf das fünfundzwanzigste und dreißigste Lebensjahr
zurück, sodaß nunmehr im ganzen etwa 200000 Bürger das aktive Wahlrecht
besaßen. Wie weit überhaupt damals die öffentliche Meinung Europas von
der Forderung des allgemeinen Wahlrechts entfernt war, erkennt man aus den
Verordnungen, die um jene Zeit in den beiden Staaten getroffen wurden,
welche man wegen ihrer liberalen Verfassung besonders zu rühmen Pflegt, in
Belgien und in England. Das dnrch die Nachwehen der Julirevolution be¬
einflußte belgische Wahlgesetz schloß durch einen hohen Zensus die Masse»
derart aus, daß ans etwa hundert Seele» ein Wähler kam. Und die um
dieselbe Zeit in England vorgenommene Reform hat, obgleich sie die Zahl der
Wähler um »ahczn eine Million erhöhte, deimvch an den bestehende» Grund¬
sätzen nicht gerüttelt: ein wenn anch geringer Zensus ist bis auf den heutigen
Tag in England die notwendige Voraussetzung des Wahlrechtes geblieben.

Erst das Jahr 1848 brachte dem französischen Volke das allgemeine
Wahlrecht zurück, und dieses wieder nach einigen Schwankungen — sehr gegen
den Willen seiner Anhänger — das zweite Kaisertum.

Indem ich nun dazu übergehe, in wenigen Sätzen zu zeigen, was die
deutschen Staatsmänner und Publizisten bis zum Jahre 1848 über unsern


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[0158] Das allgemeine Wahlrecht zu ernennen, diese wieder die 50000 der Departementslisten, und erst diese die — Kandidaten für die Abgeordnetenkammer. Die Auswahl aus jener dreimal durchgesiebten Kandidatenliste besorgte eine aus achtzig mindestens vierzigjährigen Bürgern zusammengesetzte Behörde, die ein williges Werkzeug der Negierung war. In dieser Schablonenarbeit erkennen wir leicht die Thätigkeit des Ubbo Sieyüsz Bonaparte aber verspürte begreiflicherweise wenig Neigung, an diesem von dein alten Vorfechter der Revolution ihm angetragenen Wahl¬ system etwas zu ändern. So ist es dann im allgemeinen bis zum Sturz des Kaisertums geblieben;' es ist eine unbestrittene Thatsache, daß das „souveräne" Volk von Frankreich sich schnell mit den gewaltigen Schranken befreundet hat, durch die es von jeder wirklichen Teilnahme an der Regierung fern gehalten wurde. In der Charte des Jahres 1814 war für die Wähler ein Zensus von 300, für die Abgeordneten einer von 1000 Franks festgesetzt. Diese Be¬ schränkung blieb bestehen, als im Jahre 1817 auf Antrag des Ministeriums statt des mittelbaren das unmittelbare Verfahre» eingeführt wurde. In jedem Departement bildeten von jetzt ab die dreißigjährigen 300-Franks-Bürger eine Art von Wahlkvllegium, das aus der Zahl der vierzigjährigen 1000-Franks- Vürger die Abgeordneten ernannte. Man hat berechnet, daß durch diese Be¬ stimmungen das Wahlrecht auf weniger als 100000, die Wählbarkeit auf an¬ nähernd 20000 Bürger beschränkt war. Die nach der Julirevolution vorgenommene Änderung band das Wahl¬ recht und die Wählbarkeit an einen Zensus von 200 und 500 Franks und führte die Altersgrenze auf das fünfundzwanzigste und dreißigste Lebensjahr zurück, sodaß nunmehr im ganzen etwa 200000 Bürger das aktive Wahlrecht besaßen. Wie weit überhaupt damals die öffentliche Meinung Europas von der Forderung des allgemeinen Wahlrechts entfernt war, erkennt man aus den Verordnungen, die um jene Zeit in den beiden Staaten getroffen wurden, welche man wegen ihrer liberalen Verfassung besonders zu rühmen Pflegt, in Belgien und in England. Das dnrch die Nachwehen der Julirevolution be¬ einflußte belgische Wahlgesetz schloß durch einen hohen Zensus die Masse» derart aus, daß ans etwa hundert Seele» ein Wähler kam. Und die um dieselbe Zeit in England vorgenommene Reform hat, obgleich sie die Zahl der Wähler um »ahczn eine Million erhöhte, deimvch an den bestehende» Grund¬ sätzen nicht gerüttelt: ein wenn anch geringer Zensus ist bis auf den heutigen Tag in England die notwendige Voraussetzung des Wahlrechtes geblieben. Erst das Jahr 1848 brachte dem französischen Volke das allgemeine Wahlrecht zurück, und dieses wieder nach einigen Schwankungen — sehr gegen den Willen seiner Anhänger — das zweite Kaisertum. Indem ich nun dazu übergehe, in wenigen Sätzen zu zeigen, was die deutschen Staatsmänner und Publizisten bis zum Jahre 1848 über unsern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/158>, abgerufen am 25.08.2024.