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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Das allgemeine Wahlrecht

tretenden Reichsstände, daß der dritte Stand ebensoviele Vertreter haben solle,
wie die beiden andern Stände zusammen. Obgleich er aber hier mit der
stärkeren Vertretung des Bürgerstandes in gewissem Sinne auch eine Aus¬
dehnung der Wahlberechtigung nach unten anstrebte, war er doch von der
Forderung des allgemeinen Wahlrechtes unendlich weit entfernt. Denn die
Versammlung, auf die jene Schrift einwirken sollte und thatsächlich eingewirkt
hat, war eine ständische, d> i, eine solche, die von vornherein den schärfsten
Gegensatz zu den nivellirenden Prinzipien des allgemeinen Wahlrechtes
bedeutet.

In der Folge hat Sieyos die Vertretung nach Ständen allerdings ver¬
worfen und mit Nachdruck den Gedanken verteidigt, daß jeder Abgeordnete
die ganze Nation zu vertreten habe, einen Gedanken, den man seitdem in
Frankreich nicht mehr aufgegeben hat. Über das Wahlverfahren äußerte er
sich etwa folgendermaßen: "In den Pfarrgemeinden sollen UrVersammlungen
stattfinden, in denen die Urwähler nach den besondern Bestimmungen vor¬
genommen werden. Nimmt man etwa fünfzig bis hundert Pfarrgemeinden
-- als Staat --, so wurde deren gemeinschaftliche Gesetzgebung den ersten Grad
der Stellvertretung haben können, indem die Pfarrgemeinden Abgeordnete
ernennen, deren Vereinigung die gesetzgebende Versammlung wäre. Wenn
man aber einen Staat von zweitausend Gemeinden annimmt, so müßte die
gesetzgebende Versammlung den zweiten Grad der Stellvertretung haben. Die
Abgeordneten der Gemeinden würden sich nicht mehr vereinigen, um selbst die
Geschäfte zu führen, sondern sie könnten nur die gesetzgebenden Vertreter sür
das Ganze ernennen. Denkt man sich endlich die Zahl der Gemeinden bis
auf 40 000 erhöht, so würde sich die gesetzgebende Versammlung von dein
Volke als dem ersten Auftraggeber nochmals um einen Grad entfernen. Eine
weitere Entfernung erscheint dagegen nicht ratsam, weil die Gesetzgebung stets
durch den im Volke ruhenden demokratischen Geist erfrischt werden muß, und
weil andernfalls Gefahr vorhanden wäre, daß sich der Wille der Gesamtheit
nnter Der großen Zahl der Mittelpersonen verliere."

Was uns bei diesen Vorschlägen vor allem befremdet, ist der ausgedehnte
Mechanismus des mittelbaren Wahlverfahrens. In der von ihm verfaßten
Erklärung der Menschenrechte^) zeigt Sieyss sich noch unentschieden, ob er
der unmittelbaren oder mittelbaren Wahl den Vorzug geben solle. Elf Jahre
später jedoch hat er, durch die Fügung des Schicksals abermals zur Mit¬
wirkung an einem Verfassnugswerke berufen, der in deu obigen Ausführungen
sich offenbarenden Vorliebe einen ins Maßlose gesteigerten Ausdruck gegeben.

Aus dein Wortlaut der angeführten Stelle läßt sich entnehmen, daß



Seine Schrift LvLMn-usf-nos ot sxposition des üroits as l'iiomms vt "tu vno^vn
(Juli 1789) erhielt in der Nacht vom 4. August die bekannte dogmatische Weihe.
Das allgemeine Wahlrecht

tretenden Reichsstände, daß der dritte Stand ebensoviele Vertreter haben solle,
wie die beiden andern Stände zusammen. Obgleich er aber hier mit der
stärkeren Vertretung des Bürgerstandes in gewissem Sinne auch eine Aus¬
dehnung der Wahlberechtigung nach unten anstrebte, war er doch von der
Forderung des allgemeinen Wahlrechtes unendlich weit entfernt. Denn die
Versammlung, auf die jene Schrift einwirken sollte und thatsächlich eingewirkt
hat, war eine ständische, d> i, eine solche, die von vornherein den schärfsten
Gegensatz zu den nivellirenden Prinzipien des allgemeinen Wahlrechtes
bedeutet.

In der Folge hat Sieyos die Vertretung nach Ständen allerdings ver¬
worfen und mit Nachdruck den Gedanken verteidigt, daß jeder Abgeordnete
die ganze Nation zu vertreten habe, einen Gedanken, den man seitdem in
Frankreich nicht mehr aufgegeben hat. Über das Wahlverfahren äußerte er
sich etwa folgendermaßen: „In den Pfarrgemeinden sollen UrVersammlungen
stattfinden, in denen die Urwähler nach den besondern Bestimmungen vor¬
genommen werden. Nimmt man etwa fünfzig bis hundert Pfarrgemeinden
— als Staat —, so wurde deren gemeinschaftliche Gesetzgebung den ersten Grad
der Stellvertretung haben können, indem die Pfarrgemeinden Abgeordnete
ernennen, deren Vereinigung die gesetzgebende Versammlung wäre. Wenn
man aber einen Staat von zweitausend Gemeinden annimmt, so müßte die
gesetzgebende Versammlung den zweiten Grad der Stellvertretung haben. Die
Abgeordneten der Gemeinden würden sich nicht mehr vereinigen, um selbst die
Geschäfte zu führen, sondern sie könnten nur die gesetzgebenden Vertreter sür
das Ganze ernennen. Denkt man sich endlich die Zahl der Gemeinden bis
auf 40 000 erhöht, so würde sich die gesetzgebende Versammlung von dein
Volke als dem ersten Auftraggeber nochmals um einen Grad entfernen. Eine
weitere Entfernung erscheint dagegen nicht ratsam, weil die Gesetzgebung stets
durch den im Volke ruhenden demokratischen Geist erfrischt werden muß, und
weil andernfalls Gefahr vorhanden wäre, daß sich der Wille der Gesamtheit
nnter Der großen Zahl der Mittelpersonen verliere."

Was uns bei diesen Vorschlägen vor allem befremdet, ist der ausgedehnte
Mechanismus des mittelbaren Wahlverfahrens. In der von ihm verfaßten
Erklärung der Menschenrechte^) zeigt Sieyss sich noch unentschieden, ob er
der unmittelbaren oder mittelbaren Wahl den Vorzug geben solle. Elf Jahre
später jedoch hat er, durch die Fügung des Schicksals abermals zur Mit¬
wirkung an einem Verfassnugswerke berufen, der in deu obigen Ausführungen
sich offenbarenden Vorliebe einen ins Maßlose gesteigerten Ausdruck gegeben.

Aus dein Wortlaut der angeführten Stelle läßt sich entnehmen, daß



Seine Schrift LvLMn-usf-nos ot sxposition des üroits as l'iiomms vt «tu vno^vn
(Juli 1789) erhielt in der Nacht vom 4. August die bekannte dogmatische Weihe.
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[0155] Das allgemeine Wahlrecht tretenden Reichsstände, daß der dritte Stand ebensoviele Vertreter haben solle, wie die beiden andern Stände zusammen. Obgleich er aber hier mit der stärkeren Vertretung des Bürgerstandes in gewissem Sinne auch eine Aus¬ dehnung der Wahlberechtigung nach unten anstrebte, war er doch von der Forderung des allgemeinen Wahlrechtes unendlich weit entfernt. Denn die Versammlung, auf die jene Schrift einwirken sollte und thatsächlich eingewirkt hat, war eine ständische, d> i, eine solche, die von vornherein den schärfsten Gegensatz zu den nivellirenden Prinzipien des allgemeinen Wahlrechtes bedeutet. In der Folge hat Sieyos die Vertretung nach Ständen allerdings ver¬ worfen und mit Nachdruck den Gedanken verteidigt, daß jeder Abgeordnete die ganze Nation zu vertreten habe, einen Gedanken, den man seitdem in Frankreich nicht mehr aufgegeben hat. Über das Wahlverfahren äußerte er sich etwa folgendermaßen: „In den Pfarrgemeinden sollen UrVersammlungen stattfinden, in denen die Urwähler nach den besondern Bestimmungen vor¬ genommen werden. Nimmt man etwa fünfzig bis hundert Pfarrgemeinden — als Staat —, so wurde deren gemeinschaftliche Gesetzgebung den ersten Grad der Stellvertretung haben können, indem die Pfarrgemeinden Abgeordnete ernennen, deren Vereinigung die gesetzgebende Versammlung wäre. Wenn man aber einen Staat von zweitausend Gemeinden annimmt, so müßte die gesetzgebende Versammlung den zweiten Grad der Stellvertretung haben. Die Abgeordneten der Gemeinden würden sich nicht mehr vereinigen, um selbst die Geschäfte zu führen, sondern sie könnten nur die gesetzgebenden Vertreter sür das Ganze ernennen. Denkt man sich endlich die Zahl der Gemeinden bis auf 40 000 erhöht, so würde sich die gesetzgebende Versammlung von dein Volke als dem ersten Auftraggeber nochmals um einen Grad entfernen. Eine weitere Entfernung erscheint dagegen nicht ratsam, weil die Gesetzgebung stets durch den im Volke ruhenden demokratischen Geist erfrischt werden muß, und weil andernfalls Gefahr vorhanden wäre, daß sich der Wille der Gesamtheit nnter Der großen Zahl der Mittelpersonen verliere." Was uns bei diesen Vorschlägen vor allem befremdet, ist der ausgedehnte Mechanismus des mittelbaren Wahlverfahrens. In der von ihm verfaßten Erklärung der Menschenrechte^) zeigt Sieyss sich noch unentschieden, ob er der unmittelbaren oder mittelbaren Wahl den Vorzug geben solle. Elf Jahre später jedoch hat er, durch die Fügung des Schicksals abermals zur Mit¬ wirkung an einem Verfassnugswerke berufen, der in deu obigen Ausführungen sich offenbarenden Vorliebe einen ins Maßlose gesteigerten Ausdruck gegeben. Aus dein Wortlaut der angeführten Stelle läßt sich entnehmen, daß Seine Schrift LvLMn-usf-nos ot sxposition des üroits as l'iiomms vt «tu vno^vn (Juli 1789) erhielt in der Nacht vom 4. August die bekannte dogmatische Weihe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/155>, abgerufen am 23.07.2024.