Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.Tempel und Theater daß er von dem Anhänger der ältern Richtung, von Aristophanes, mit bitterm Wirkt so das lyrische Element umgestaltend auf das Drama ein, so übt Tempel und Theater daß er von dem Anhänger der ältern Richtung, von Aristophanes, mit bitterm Wirkt so das lyrische Element umgestaltend auf das Drama ein, so übt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0123" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208702"/> <fw type="header" place="top"> Tempel und Theater</fw><lb/> <p xml:id="ID_336" prev="#ID_335"> daß er von dem Anhänger der ältern Richtung, von Aristophanes, mit bitterm<lb/> Spott Übergossen wurde. Und doch war es nur ein Schritt weiter in dem<lb/> natürlichen Entwicklungsgange, der schließlich dahin führen mußte und dahin<lb/> geführt hat, daß der Chor endlich ganz wegfiel; seine Aufgabe, Vertreter des<lb/> lyrischen Elementes zu sein, wird von den Handelnden Personen selbst erfüllt.<lb/> Da dies im modernen Drama durchweg der Fall ist, so ergiebt sich hieraus,<lb/> daß in diesem der Chor keine Stelle mehr hat, es sei denn, daß der umgekehrte<lb/> Schritt gethan und der Chor in die Handlung hereingezogen würde. Dciun<lb/> muß er sich aber natürlich in Einzelpersonen auflösen, und die wesentliche<lb/> Eigenart des Chores, das innere Zusammenstimmen der Empfindungen, das<lb/> die Voraussetzung für das äußere Zusammenstimmen des Empfinduugs-<lb/> ausdruckes ist, geht verloren und damit wieder die Berechtigung des Chores.<lb/> Das einzige, künstlerisch wertvolle Drama mit Chor aus neuerer Zeit, Schillers<lb/> Braut von Messina, zeigt diesen Widerstreit des handelnden und des lyrischen<lb/> Chores; daß aber Schiller die Notwendigkeit empfunden hat, ihn wenigstens<lb/> teilweise in die Handlung hereinzuziehen, zeigt auch hier den echten dramatischen<lb/> Dichter, der trotz seiner theoretischen Bestrebungen das sichere Gefühl hat für<lb/> das, was seiner Dichtungsart notwendig ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_337" next="#ID_338"> Wirkt so das lyrische Element umgestaltend auf das Drama ein, so übt<lb/> anderseits auch der epische Charakter des Dramas, wie er durch den Sänger<lb/> des Dithyrambos in der Vorhalle des Tempels ausgeführt wurde, noch lange<lb/> seinen Einfluß auf die Gestaltung des Dramas aus, auch nachdem es sich von<lb/> dem Tempelräume schon losgesagt und einen selbständigen dichterischen Charakter<lb/> angenommen hat. Das vorgeführte Ereignis muß, auch wenn es nicht mehr<lb/> die Gottheit selbst als handelnde Hauptperson vor Augen sührt, doch ihr über<lb/> dem Menschen stehendes Walten erkennen lassen. Aber die Wege der Gottheit<lb/> sind verborgen und erscheinen nicht leicht schon in einem einzelnen Ereignis<lb/> in voller Klarheit; so muß eine Reihe von Ereignissen zusammentreten, in<lb/> deren Folge erst der innere Zusammenhang des göttlichen Waltens erscheint,<lb/> sodaß das Einzelereignis den ihm leicht anhaftenden Charakter des Zufälligen<lb/> verliert. Ju den großen Zusammenhang eines ganze Geschlechter umfassenden<lb/> Schicksals gestellt, verschwindet das Zufällige des Einzeldaseins und gewinnt<lb/> auch für das menschliche Auge das Verständnis, das seine mangelnde Sehkraft<lb/> ihm sonst verschließt. So verlangt gerade der Zusammenhang des Dramas<lb/> mit der Verehrung des göttlichen Waltens jene weltumspannende Weitsicht<lb/> des Dramatikers, die er sür seine Zuhörer in der Darlegung einer Reihe von<lb/> Ereignissen in ihrem Zusammenhange zu geben versucht, wenn er sie in einer<lb/> Folge von Gruppen vorführt, die sich um einzelne Sammelpunkte bilden; die<lb/> Trilogie, wie sie Nschylvs meist und zwar gerade in seinen ältern Dramen fest¬<lb/> gehalten hat, wird die künstlerische Form für die Darlegung der mit der seherischen<lb/> Kraft des Dichters gewonnenen Einsicht von dem allweisen und allgütigen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0123]
Tempel und Theater
daß er von dem Anhänger der ältern Richtung, von Aristophanes, mit bitterm
Spott Übergossen wurde. Und doch war es nur ein Schritt weiter in dem
natürlichen Entwicklungsgange, der schließlich dahin führen mußte und dahin
geführt hat, daß der Chor endlich ganz wegfiel; seine Aufgabe, Vertreter des
lyrischen Elementes zu sein, wird von den Handelnden Personen selbst erfüllt.
Da dies im modernen Drama durchweg der Fall ist, so ergiebt sich hieraus,
daß in diesem der Chor keine Stelle mehr hat, es sei denn, daß der umgekehrte
Schritt gethan und der Chor in die Handlung hereingezogen würde. Dciun
muß er sich aber natürlich in Einzelpersonen auflösen, und die wesentliche
Eigenart des Chores, das innere Zusammenstimmen der Empfindungen, das
die Voraussetzung für das äußere Zusammenstimmen des Empfinduugs-
ausdruckes ist, geht verloren und damit wieder die Berechtigung des Chores.
Das einzige, künstlerisch wertvolle Drama mit Chor aus neuerer Zeit, Schillers
Braut von Messina, zeigt diesen Widerstreit des handelnden und des lyrischen
Chores; daß aber Schiller die Notwendigkeit empfunden hat, ihn wenigstens
teilweise in die Handlung hereinzuziehen, zeigt auch hier den echten dramatischen
Dichter, der trotz seiner theoretischen Bestrebungen das sichere Gefühl hat für
das, was seiner Dichtungsart notwendig ist.
Wirkt so das lyrische Element umgestaltend auf das Drama ein, so übt
anderseits auch der epische Charakter des Dramas, wie er durch den Sänger
des Dithyrambos in der Vorhalle des Tempels ausgeführt wurde, noch lange
seinen Einfluß auf die Gestaltung des Dramas aus, auch nachdem es sich von
dem Tempelräume schon losgesagt und einen selbständigen dichterischen Charakter
angenommen hat. Das vorgeführte Ereignis muß, auch wenn es nicht mehr
die Gottheit selbst als handelnde Hauptperson vor Augen sührt, doch ihr über
dem Menschen stehendes Walten erkennen lassen. Aber die Wege der Gottheit
sind verborgen und erscheinen nicht leicht schon in einem einzelnen Ereignis
in voller Klarheit; so muß eine Reihe von Ereignissen zusammentreten, in
deren Folge erst der innere Zusammenhang des göttlichen Waltens erscheint,
sodaß das Einzelereignis den ihm leicht anhaftenden Charakter des Zufälligen
verliert. Ju den großen Zusammenhang eines ganze Geschlechter umfassenden
Schicksals gestellt, verschwindet das Zufällige des Einzeldaseins und gewinnt
auch für das menschliche Auge das Verständnis, das seine mangelnde Sehkraft
ihm sonst verschließt. So verlangt gerade der Zusammenhang des Dramas
mit der Verehrung des göttlichen Waltens jene weltumspannende Weitsicht
des Dramatikers, die er sür seine Zuhörer in der Darlegung einer Reihe von
Ereignissen in ihrem Zusammenhange zu geben versucht, wenn er sie in einer
Folge von Gruppen vorführt, die sich um einzelne Sammelpunkte bilden; die
Trilogie, wie sie Nschylvs meist und zwar gerade in seinen ältern Dramen fest¬
gehalten hat, wird die künstlerische Form für die Darlegung der mit der seherischen
Kraft des Dichters gewonnenen Einsicht von dem allweisen und allgütigen
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