Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Almmienmserinnerungen

dienen, wie sie im feierlichen Anitsstil genannt wurden; wir nannten sie
"Kammern": erste Kammer, zweite Kammer, dritte Kammer n. s, w. Diese
Kammern waren von verschiedner Größe; einige waren für acht oder neun,
andre nur für fünf oder sechs eingerichtet. Wir hielten uns aber wenig darin
auf, im Winter gnr nicht, da sie weder Heizung noch Beleuchtung hatten, sondern
saßen, auch in der freien Zeit, meist im "großen Auditorium," einem Zimmer,
das als gemeinschaftlicher Arbeits- und Eßsnal diente. Außerdem gab es zwei
Schlafsäle, einen für achtzehn und einen für vierzehn Betten, eine Kranken¬
stube, eine unbenutzte dunkle Küche und zwei Zimmer für den Inspektor des
Alumueums. Alle Zimmer, mit Ausnahme des zweiten Schlafsaals, der neben
dem heizbaren großen Auditorium lag und deshalb für behaglicher galt, mündeten
auf die "Tciblate" (talmIiM). An der Treppe stand eine dünne hölzerne Säule,
an der eine Klingel hing, die an einem Draht gezogen wurde. Die nächste
Treppe, die mit Latten verschlagen war, führte hinauf auf den Dachboden, der
an eine Drogucnhandluug in der Nähe vermietet war, voll offner Tonnen,
Kisten und Säcke stand und fortwährend jenes würzige Duftgemisch aus¬
strömte, das uus in einem Kräutergewölbe umfängt. Täglich kam mehreremal
der Markthelfer herüber, und wenn wir seinen schweren Schritt die Treppe
heraufkommen und seinen Schlüsselbund klirren hörten, vetterten sich immer ein
paar an ihn an, um mit hinaufgenonnnen zu werden auf deu Boden und dort
ein Stück Johannisbrot oder Süßholz oder ein paar ausländische Nüsse zu
ergattern.

Die Kammern waren ganz unwohnlich und unbehaglich. Sie waren hell
getüncht und enthielten weiter nichts als einen Tisch, eine Waschbank und für
jeden einen Schrank. Stühle gab es nicht. Der Rat der Stadt -- die
Kreuzschule ist eine städtische Schule -- ließ zwar einmal zweiunddreißig
Stühle machen, aber schon nach drei Jahren war auf dem ganzen Alumncnm
kein Stuhl mehr zu finden. Wie das möglich war? Sehr einfach. Kosten
sollte es immer nicht viel, wenn wirklich einmal etwas sür uns angefertigt
wurde, und so waren auch diese Stühle nichts als elende Lehnschemel aus
weichem Holz. Natürlich dauerte es keine vier Wochen, so fielen überall die
Beine heraus. Anfangs nahm man sich noch die Mühe, sie wieder hinein¬
zuschlagen, aber das nützte nichts. Bald lagen überall Schemelbeine in den
Kammern herum, die Schemel fielen fortwährend um, Sitze und Lehnen zer-
spellten, nach und nach wanderten die Trümmer in die dunkle Küche und dort
in den Ofen des großen Auditoriums, der von der Küche aus geheizt wurde,
und schließlich waren die Schemel verschwunden, ohne daß irgend jemandem
ein Vorwurf deshalb hätte gemacht werden können, und wir saßen wieder,
wie zuvor, auf den aufgerichteten Kisten nud Koffern, die hie und da in den
Kammern standen, den Verkehrsvermittlern zwischen Alnmneum und Eltern¬
haus. Am liebsten hielten wir uus gar nicht in der Kammer auf. Nur wer


Almmienmserinnerungen

dienen, wie sie im feierlichen Anitsstil genannt wurden; wir nannten sie
„Kammern": erste Kammer, zweite Kammer, dritte Kammer n. s, w. Diese
Kammern waren von verschiedner Größe; einige waren für acht oder neun,
andre nur für fünf oder sechs eingerichtet. Wir hielten uns aber wenig darin
auf, im Winter gnr nicht, da sie weder Heizung noch Beleuchtung hatten, sondern
saßen, auch in der freien Zeit, meist im „großen Auditorium," einem Zimmer,
das als gemeinschaftlicher Arbeits- und Eßsnal diente. Außerdem gab es zwei
Schlafsäle, einen für achtzehn und einen für vierzehn Betten, eine Kranken¬
stube, eine unbenutzte dunkle Küche und zwei Zimmer für den Inspektor des
Alumueums. Alle Zimmer, mit Ausnahme des zweiten Schlafsaals, der neben
dem heizbaren großen Auditorium lag und deshalb für behaglicher galt, mündeten
auf die „Tciblate" (talmIiM). An der Treppe stand eine dünne hölzerne Säule,
an der eine Klingel hing, die an einem Draht gezogen wurde. Die nächste
Treppe, die mit Latten verschlagen war, führte hinauf auf den Dachboden, der
an eine Drogucnhandluug in der Nähe vermietet war, voll offner Tonnen,
Kisten und Säcke stand und fortwährend jenes würzige Duftgemisch aus¬
strömte, das uus in einem Kräutergewölbe umfängt. Täglich kam mehreremal
der Markthelfer herüber, und wenn wir seinen schweren Schritt die Treppe
heraufkommen und seinen Schlüsselbund klirren hörten, vetterten sich immer ein
paar an ihn an, um mit hinaufgenonnnen zu werden auf deu Boden und dort
ein Stück Johannisbrot oder Süßholz oder ein paar ausländische Nüsse zu
ergattern.

Die Kammern waren ganz unwohnlich und unbehaglich. Sie waren hell
getüncht und enthielten weiter nichts als einen Tisch, eine Waschbank und für
jeden einen Schrank. Stühle gab es nicht. Der Rat der Stadt — die
Kreuzschule ist eine städtische Schule — ließ zwar einmal zweiunddreißig
Stühle machen, aber schon nach drei Jahren war auf dem ganzen Alumncnm
kein Stuhl mehr zu finden. Wie das möglich war? Sehr einfach. Kosten
sollte es immer nicht viel, wenn wirklich einmal etwas sür uns angefertigt
wurde, und so waren auch diese Stühle nichts als elende Lehnschemel aus
weichem Holz. Natürlich dauerte es keine vier Wochen, so fielen überall die
Beine heraus. Anfangs nahm man sich noch die Mühe, sie wieder hinein¬
zuschlagen, aber das nützte nichts. Bald lagen überall Schemelbeine in den
Kammern herum, die Schemel fielen fortwährend um, Sitze und Lehnen zer-
spellten, nach und nach wanderten die Trümmer in die dunkle Küche und dort
in den Ofen des großen Auditoriums, der von der Küche aus geheizt wurde,
und schließlich waren die Schemel verschwunden, ohne daß irgend jemandem
ein Vorwurf deshalb hätte gemacht werden können, und wir saßen wieder,
wie zuvor, auf den aufgerichteten Kisten nud Koffern, die hie und da in den
Kammern standen, den Verkehrsvermittlern zwischen Alnmneum und Eltern¬
haus. Am liebsten hielten wir uus gar nicht in der Kammer auf. Nur wer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0094" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208031"/>
          <fw type="header" place="top"> Almmienmserinnerungen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_246" prev="#ID_245"> dienen, wie sie im feierlichen Anitsstil genannt wurden; wir nannten sie<lb/>
&#x201E;Kammern": erste Kammer, zweite Kammer, dritte Kammer n. s, w. Diese<lb/>
Kammern waren von verschiedner Größe; einige waren für acht oder neun,<lb/>
andre nur für fünf oder sechs eingerichtet. Wir hielten uns aber wenig darin<lb/>
auf, im Winter gnr nicht, da sie weder Heizung noch Beleuchtung hatten, sondern<lb/>
saßen, auch in der freien Zeit, meist im &#x201E;großen Auditorium," einem Zimmer,<lb/>
das als gemeinschaftlicher Arbeits- und Eßsnal diente. Außerdem gab es zwei<lb/>
Schlafsäle, einen für achtzehn und einen für vierzehn Betten, eine Kranken¬<lb/>
stube, eine unbenutzte dunkle Küche und zwei Zimmer für den Inspektor des<lb/>
Alumueums. Alle Zimmer, mit Ausnahme des zweiten Schlafsaals, der neben<lb/>
dem heizbaren großen Auditorium lag und deshalb für behaglicher galt, mündeten<lb/>
auf die &#x201E;Tciblate" (talmIiM). An der Treppe stand eine dünne hölzerne Säule,<lb/>
an der eine Klingel hing, die an einem Draht gezogen wurde. Die nächste<lb/>
Treppe, die mit Latten verschlagen war, führte hinauf auf den Dachboden, der<lb/>
an eine Drogucnhandluug in der Nähe vermietet war, voll offner Tonnen,<lb/>
Kisten und Säcke stand und fortwährend jenes würzige Duftgemisch aus¬<lb/>
strömte, das uus in einem Kräutergewölbe umfängt. Täglich kam mehreremal<lb/>
der Markthelfer herüber, und wenn wir seinen schweren Schritt die Treppe<lb/>
heraufkommen und seinen Schlüsselbund klirren hörten, vetterten sich immer ein<lb/>
paar an ihn an, um mit hinaufgenonnnen zu werden auf deu Boden und dort<lb/>
ein Stück Johannisbrot oder Süßholz oder ein paar ausländische Nüsse zu<lb/>
ergattern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_247" next="#ID_248"> Die Kammern waren ganz unwohnlich und unbehaglich. Sie waren hell<lb/>
getüncht und enthielten weiter nichts als einen Tisch, eine Waschbank und für<lb/>
jeden einen Schrank. Stühle gab es nicht. Der Rat der Stadt &#x2014; die<lb/>
Kreuzschule ist eine städtische Schule &#x2014; ließ zwar einmal zweiunddreißig<lb/>
Stühle machen, aber schon nach drei Jahren war auf dem ganzen Alumncnm<lb/>
kein Stuhl mehr zu finden. Wie das möglich war? Sehr einfach. Kosten<lb/>
sollte es immer nicht viel, wenn wirklich einmal etwas sür uns angefertigt<lb/>
wurde, und so waren auch diese Stühle nichts als elende Lehnschemel aus<lb/>
weichem Holz. Natürlich dauerte es keine vier Wochen, so fielen überall die<lb/>
Beine heraus. Anfangs nahm man sich noch die Mühe, sie wieder hinein¬<lb/>
zuschlagen, aber das nützte nichts. Bald lagen überall Schemelbeine in den<lb/>
Kammern herum, die Schemel fielen fortwährend um, Sitze und Lehnen zer-<lb/>
spellten, nach und nach wanderten die Trümmer in die dunkle Küche und dort<lb/>
in den Ofen des großen Auditoriums, der von der Küche aus geheizt wurde,<lb/>
und schließlich waren die Schemel verschwunden, ohne daß irgend jemandem<lb/>
ein Vorwurf deshalb hätte gemacht werden können, und wir saßen wieder,<lb/>
wie zuvor, auf den aufgerichteten Kisten nud Koffern, die hie und da in den<lb/>
Kammern standen, den Verkehrsvermittlern zwischen Alnmneum und Eltern¬<lb/>
haus.  Am liebsten hielten wir uus gar nicht in der Kammer auf. Nur wer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0094] Almmienmserinnerungen dienen, wie sie im feierlichen Anitsstil genannt wurden; wir nannten sie „Kammern": erste Kammer, zweite Kammer, dritte Kammer n. s, w. Diese Kammern waren von verschiedner Größe; einige waren für acht oder neun, andre nur für fünf oder sechs eingerichtet. Wir hielten uns aber wenig darin auf, im Winter gnr nicht, da sie weder Heizung noch Beleuchtung hatten, sondern saßen, auch in der freien Zeit, meist im „großen Auditorium," einem Zimmer, das als gemeinschaftlicher Arbeits- und Eßsnal diente. Außerdem gab es zwei Schlafsäle, einen für achtzehn und einen für vierzehn Betten, eine Kranken¬ stube, eine unbenutzte dunkle Küche und zwei Zimmer für den Inspektor des Alumueums. Alle Zimmer, mit Ausnahme des zweiten Schlafsaals, der neben dem heizbaren großen Auditorium lag und deshalb für behaglicher galt, mündeten auf die „Tciblate" (talmIiM). An der Treppe stand eine dünne hölzerne Säule, an der eine Klingel hing, die an einem Draht gezogen wurde. Die nächste Treppe, die mit Latten verschlagen war, führte hinauf auf den Dachboden, der an eine Drogucnhandluug in der Nähe vermietet war, voll offner Tonnen, Kisten und Säcke stand und fortwährend jenes würzige Duftgemisch aus¬ strömte, das uus in einem Kräutergewölbe umfängt. Täglich kam mehreremal der Markthelfer herüber, und wenn wir seinen schweren Schritt die Treppe heraufkommen und seinen Schlüsselbund klirren hörten, vetterten sich immer ein paar an ihn an, um mit hinaufgenonnnen zu werden auf deu Boden und dort ein Stück Johannisbrot oder Süßholz oder ein paar ausländische Nüsse zu ergattern. Die Kammern waren ganz unwohnlich und unbehaglich. Sie waren hell getüncht und enthielten weiter nichts als einen Tisch, eine Waschbank und für jeden einen Schrank. Stühle gab es nicht. Der Rat der Stadt — die Kreuzschule ist eine städtische Schule — ließ zwar einmal zweiunddreißig Stühle machen, aber schon nach drei Jahren war auf dem ganzen Alumncnm kein Stuhl mehr zu finden. Wie das möglich war? Sehr einfach. Kosten sollte es immer nicht viel, wenn wirklich einmal etwas sür uns angefertigt wurde, und so waren auch diese Stühle nichts als elende Lehnschemel aus weichem Holz. Natürlich dauerte es keine vier Wochen, so fielen überall die Beine heraus. Anfangs nahm man sich noch die Mühe, sie wieder hinein¬ zuschlagen, aber das nützte nichts. Bald lagen überall Schemelbeine in den Kammern herum, die Schemel fielen fortwährend um, Sitze und Lehnen zer- spellten, nach und nach wanderten die Trümmer in die dunkle Küche und dort in den Ofen des großen Auditoriums, der von der Küche aus geheizt wurde, und schließlich waren die Schemel verschwunden, ohne daß irgend jemandem ein Vorwurf deshalb hätte gemacht werden können, und wir saßen wieder, wie zuvor, auf den aufgerichteten Kisten nud Koffern, die hie und da in den Kammern standen, den Verkehrsvermittlern zwischen Alnmneum und Eltern¬ haus. Am liebsten hielten wir uus gar nicht in der Kammer auf. Nur wer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/94
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/94>, abgerufen am 25.07.2024.