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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Die Motive, ebenso wie das sächsische Landesmedizinalkollegium, fassen
allerdings den Ausdruck "Bewußtlosigkeit" viel weiter auf, dahin, daß er alle
die Seelenzustände umfasse, die, ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu
gehören, doch den Menschen der Freiheit der Willensbestimmung berauben, daß
es sich nicht bloß an die Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieber¬
delirium und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden handle,
sondern daß anch noch andre psychische Zustände hierher gehören, wie z, V.
das Nachtwandeln, der psychische Zustand nach einem epileptischen Anfalle, der
Zustand der Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des Schreckens,
der Angst und Furcht, der abnorme Zustand der Vergiftung durch manche
Narkotika. Das gemeinsame psychologische Merkmal aller dieser Seelenzustände
sei die vorübergehende Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb sei auch
uach diesem gemeinsamen Merkmale die Bezeichnung zu wählen.

Unter einem krankhaften Zustande versteht man im gewöhnlichen Leben
erstens einen wirklichen Krankheitszustand, sodann einen Zustand, der ähnliche
Erscheinungen darbietet, wie eine Krankheit. Man spricht von krankhaften Ge¬
lüsten auch dann, wenn sie ihre Ursache nicht in einem Krankheitszustande
haben. Krankheit des Körpers bezeichnet einen bedeutendern Kampf der Lebens-
orgnue gegen äußere Eingriffe. Minder bedeutende Kämpfe bezeichnet mau als
Unpäßlichkeit, Unwohlsein; geringfügige berücksichtigt man überhaupt nicht. Ob
der Zustand mit Genesung endigt oder zum Tode führt, ob er dauernd oder
vorübergehend ist, kommt nicht in Betracht. Ein Mensch, der ein Glied ver¬
liert, ist krank, so lange der Organismus gegen den Verlust oder dessen Folgen
sich widersetzt (z. V. Kuocheubrand, Wundfieber), er ist gesund, wem: der
Kampf beendet ist. Gleiches gilt, soweit die körperliche Krankheit in Frage
steht, für Verletzungen oder Verlust eines Teiles des Gehirns. Aber der Be¬
griff der Geisteskrankheit reicht weiter, als der Begriff der körperlichen Krank¬
heit. Wesentliche Verminderungen der Geistesthätigkeit bezeichnet man auch
dann als Geisteskrankheit, wenn die ursächliche Körperkrankheit längst gehoben
oder der Zustand angeboren ist. Der Grund des abweichenden Sprach¬
gebrauches liegt darin, daß bei körperlichen Krankheiten das Vorhandensein des
Kampfes feststellbar ist, bei geistigen Zuständen aber schon die bloße Möglich¬
keit eines Kampfes in Betracht kommt. Noch weiter geht, wie bemerkt, der Be¬
griff der Krankhaftigkeit. Dein? da hier nur die Ähnlichkeit mit einem Krankheits¬
zustande in Betracht kommt, der Begriff der Ähnlichkeit aber relativ ist, so
kann füglich jedes regelwidrige, willensuufreie Versälle" eines Gesunden ohne
Verstoß gegen den Sprachgebrauch als krankhaft bezeichnet werdeu.

Uuter Störung versteht mau einen vorübergehenden Eingriff. Da nun
die Störung etwas Regelwidriges ist, so ist streng genommen in dem Ausdruck
"krankhafte Störung" das Wort "krankhaft" überflüssig, da jede Störung der
Geistesthntigkeit eine willeusuufreie Regelwidrigkeit dieser Thätigkeit voraussetzt.


Die Motive, ebenso wie das sächsische Landesmedizinalkollegium, fassen
allerdings den Ausdruck „Bewußtlosigkeit" viel weiter auf, dahin, daß er alle
die Seelenzustände umfasse, die, ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu
gehören, doch den Menschen der Freiheit der Willensbestimmung berauben, daß
es sich nicht bloß an die Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieber¬
delirium und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden handle,
sondern daß anch noch andre psychische Zustände hierher gehören, wie z, V.
das Nachtwandeln, der psychische Zustand nach einem epileptischen Anfalle, der
Zustand der Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des Schreckens,
der Angst und Furcht, der abnorme Zustand der Vergiftung durch manche
Narkotika. Das gemeinsame psychologische Merkmal aller dieser Seelenzustände
sei die vorübergehende Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb sei auch
uach diesem gemeinsamen Merkmale die Bezeichnung zu wählen.

Unter einem krankhaften Zustande versteht man im gewöhnlichen Leben
erstens einen wirklichen Krankheitszustand, sodann einen Zustand, der ähnliche
Erscheinungen darbietet, wie eine Krankheit. Man spricht von krankhaften Ge¬
lüsten auch dann, wenn sie ihre Ursache nicht in einem Krankheitszustande
haben. Krankheit des Körpers bezeichnet einen bedeutendern Kampf der Lebens-
orgnue gegen äußere Eingriffe. Minder bedeutende Kämpfe bezeichnet mau als
Unpäßlichkeit, Unwohlsein; geringfügige berücksichtigt man überhaupt nicht. Ob
der Zustand mit Genesung endigt oder zum Tode führt, ob er dauernd oder
vorübergehend ist, kommt nicht in Betracht. Ein Mensch, der ein Glied ver¬
liert, ist krank, so lange der Organismus gegen den Verlust oder dessen Folgen
sich widersetzt (z. V. Kuocheubrand, Wundfieber), er ist gesund, wem: der
Kampf beendet ist. Gleiches gilt, soweit die körperliche Krankheit in Frage
steht, für Verletzungen oder Verlust eines Teiles des Gehirns. Aber der Be¬
griff der Geisteskrankheit reicht weiter, als der Begriff der körperlichen Krank¬
heit. Wesentliche Verminderungen der Geistesthätigkeit bezeichnet man auch
dann als Geisteskrankheit, wenn die ursächliche Körperkrankheit längst gehoben
oder der Zustand angeboren ist. Der Grund des abweichenden Sprach¬
gebrauches liegt darin, daß bei körperlichen Krankheiten das Vorhandensein des
Kampfes feststellbar ist, bei geistigen Zuständen aber schon die bloße Möglich¬
keit eines Kampfes in Betracht kommt. Noch weiter geht, wie bemerkt, der Be¬
griff der Krankhaftigkeit. Dein? da hier nur die Ähnlichkeit mit einem Krankheits¬
zustande in Betracht kommt, der Begriff der Ähnlichkeit aber relativ ist, so
kann füglich jedes regelwidrige, willensuufreie Versälle» eines Gesunden ohne
Verstoß gegen den Sprachgebrauch als krankhaft bezeichnet werdeu.

Uuter Störung versteht mau einen vorübergehenden Eingriff. Da nun
die Störung etwas Regelwidriges ist, so ist streng genommen in dem Ausdruck
„krankhafte Störung" das Wort „krankhaft" überflüssig, da jede Störung der
Geistesthntigkeit eine willeusuufreie Regelwidrigkeit dieser Thätigkeit voraussetzt.


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[0069] Die Motive, ebenso wie das sächsische Landesmedizinalkollegium, fassen allerdings den Ausdruck „Bewußtlosigkeit" viel weiter auf, dahin, daß er alle die Seelenzustände umfasse, die, ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu gehören, doch den Menschen der Freiheit der Willensbestimmung berauben, daß es sich nicht bloß an die Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieber¬ delirium und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden handle, sondern daß anch noch andre psychische Zustände hierher gehören, wie z, V. das Nachtwandeln, der psychische Zustand nach einem epileptischen Anfalle, der Zustand der Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des Schreckens, der Angst und Furcht, der abnorme Zustand der Vergiftung durch manche Narkotika. Das gemeinsame psychologische Merkmal aller dieser Seelenzustände sei die vorübergehende Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb sei auch uach diesem gemeinsamen Merkmale die Bezeichnung zu wählen. Unter einem krankhaften Zustande versteht man im gewöhnlichen Leben erstens einen wirklichen Krankheitszustand, sodann einen Zustand, der ähnliche Erscheinungen darbietet, wie eine Krankheit. Man spricht von krankhaften Ge¬ lüsten auch dann, wenn sie ihre Ursache nicht in einem Krankheitszustande haben. Krankheit des Körpers bezeichnet einen bedeutendern Kampf der Lebens- orgnue gegen äußere Eingriffe. Minder bedeutende Kämpfe bezeichnet mau als Unpäßlichkeit, Unwohlsein; geringfügige berücksichtigt man überhaupt nicht. Ob der Zustand mit Genesung endigt oder zum Tode führt, ob er dauernd oder vorübergehend ist, kommt nicht in Betracht. Ein Mensch, der ein Glied ver¬ liert, ist krank, so lange der Organismus gegen den Verlust oder dessen Folgen sich widersetzt (z. V. Kuocheubrand, Wundfieber), er ist gesund, wem: der Kampf beendet ist. Gleiches gilt, soweit die körperliche Krankheit in Frage steht, für Verletzungen oder Verlust eines Teiles des Gehirns. Aber der Be¬ griff der Geisteskrankheit reicht weiter, als der Begriff der körperlichen Krank¬ heit. Wesentliche Verminderungen der Geistesthätigkeit bezeichnet man auch dann als Geisteskrankheit, wenn die ursächliche Körperkrankheit längst gehoben oder der Zustand angeboren ist. Der Grund des abweichenden Sprach¬ gebrauches liegt darin, daß bei körperlichen Krankheiten das Vorhandensein des Kampfes feststellbar ist, bei geistigen Zuständen aber schon die bloße Möglich¬ keit eines Kampfes in Betracht kommt. Noch weiter geht, wie bemerkt, der Be¬ griff der Krankhaftigkeit. Dein? da hier nur die Ähnlichkeit mit einem Krankheits¬ zustande in Betracht kommt, der Begriff der Ähnlichkeit aber relativ ist, so kann füglich jedes regelwidrige, willensuufreie Versälle» eines Gesunden ohne Verstoß gegen den Sprachgebrauch als krankhaft bezeichnet werdeu. Uuter Störung versteht mau einen vorübergehenden Eingriff. Da nun die Störung etwas Regelwidriges ist, so ist streng genommen in dem Ausdruck „krankhafte Störung" das Wort „krankhaft" überflüssig, da jede Störung der Geistesthntigkeit eine willeusuufreie Regelwidrigkeit dieser Thätigkeit voraussetzt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/69>, abgerufen am 29.06.2024.