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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Hie Aufgabe der Gegenwart

sagen? Sie verlangte für Zuweisungen an die Schulgemeinde Quittung von
der Hand des Lehrers in der Form, als habe er die Zuwendung erhalten.
Als sich nun einzelne Lehrer weigerten, als empfangen zu bescheinigen, was
sie doch nicht empfangen hatten, wurden sie durch Androhung von Maßrege¬
lungen gezwungen! Also Zahlungen an die Gemeinde aus Fonds, die für
die Lehrer bestimmt waren! Es ist eine ganze Reihe solcher Fälle festgestellt
worden. Die Sache lief vor knrzeiu durch die Lehrerzeitungen. Eine andre
Negierung verlangte bei Gelegenheit der letzten Neichstagswcchlen, daß die
Lehrer bei Strafe der Amtsentsetzung in staatserhaltenden Sinne zu wählen
Hütten. Das war etwas für Eugen Richter und Genossen! Die Negierung
mußte auf Ministerialverfügung ihren Erlaß zurückziehen. Es wäre aber
tausendmal besser gewesen, ihn gar nicht zu geben. Die Gehaltsfrage und die
der politischen Unabhängigkeit, das sind die beiden empfindlichen Punkte der
Lehrerschaft. Wer sie da verletzt, verdirbt es mit ihnen gründlich. Wir
wollten aber Antwort geben auf die Frage, ob der Staat, wenn er die Schule
zu seiner Verteidigung heranzieht, mich der Lehrerschaft sicher sei.

Die Schule soll sich also mit der sozialen Frage und ihrer Lösung be¬
schäftigen. Wie macht sie das? Nun, der Schul- und Regierungsrat stellt
zunächst ein entsprechendes Thema für die Schulkonferenz auf. Das Thema wird
einem der Lehrer zugewiesen, der es seufzend übernimmt. Nehmen wir an, es
heiße: Die soziale Frage und die Schule. Der Referent schreibt also ans
einem halben Dutzend Bücher etwas über die soziale Frage und etwas über
die Schule zusammen, durchflicht sein Werk mit schönen Zitaten und schließt
mit der Forderung, daß sich die Schule mit der sozialen Frage zu beschäftigen
habe. Dann folgen die üblichen Thesen, in denen einige Gemeinplätze von
unanfechtbarer Wahrheit vorgetragen werden. Die Sache wird mit der üblichen
Feierlichkeit vorgetragen. Man bemängelt einige Nebensächlichkeiten und streitet
sich über die Fassung der dritten oder der vierten These. Dann werden die
Thesen angenommen, und die Verhandlung wird protolvllirt. Zum Schluß
erscheint ein General- und ein Spezialbescheid von der königlichem Regierung --
die Schule hat sich mit der sozialen Frage beschäftigt.

Aber im Ernst: was kann denn die Schule mit der sozialen Frage zu
thun haben? Soll sie, wie alles Ernstes verlangt worden ist, die Elemente
der Staatswissenschaft den AVE-Schlitzen beibringen? Oder soll sie die In¬
telligenz so weit fördern, daß der Schüler das Grundgesetz des Angebotes und
der Nachfrage begreift und sich ihm widerstandslos unterwirft? Oder soll in der
Schule kräftig über die Sozialdemokraten geschimpft werden? Auch die mehr-
erwähnte Berliner Lehrerversammlung hat das Thema behandelt und ist zu
überraschend verständigen Schlußsätzen gekommen. Sie lehnt die theoretische
Behandlung der Sache ab und legt den Hauptnachdruck auf die "erziehliche"
^richtiger: erziehende oder erzieherisches Thätigkeit der Schule. Das ists!


Hie Aufgabe der Gegenwart

sagen? Sie verlangte für Zuweisungen an die Schulgemeinde Quittung von
der Hand des Lehrers in der Form, als habe er die Zuwendung erhalten.
Als sich nun einzelne Lehrer weigerten, als empfangen zu bescheinigen, was
sie doch nicht empfangen hatten, wurden sie durch Androhung von Maßrege¬
lungen gezwungen! Also Zahlungen an die Gemeinde aus Fonds, die für
die Lehrer bestimmt waren! Es ist eine ganze Reihe solcher Fälle festgestellt
worden. Die Sache lief vor knrzeiu durch die Lehrerzeitungen. Eine andre
Negierung verlangte bei Gelegenheit der letzten Neichstagswcchlen, daß die
Lehrer bei Strafe der Amtsentsetzung in staatserhaltenden Sinne zu wählen
Hütten. Das war etwas für Eugen Richter und Genossen! Die Negierung
mußte auf Ministerialverfügung ihren Erlaß zurückziehen. Es wäre aber
tausendmal besser gewesen, ihn gar nicht zu geben. Die Gehaltsfrage und die
der politischen Unabhängigkeit, das sind die beiden empfindlichen Punkte der
Lehrerschaft. Wer sie da verletzt, verdirbt es mit ihnen gründlich. Wir
wollten aber Antwort geben auf die Frage, ob der Staat, wenn er die Schule
zu seiner Verteidigung heranzieht, mich der Lehrerschaft sicher sei.

Die Schule soll sich also mit der sozialen Frage und ihrer Lösung be¬
schäftigen. Wie macht sie das? Nun, der Schul- und Regierungsrat stellt
zunächst ein entsprechendes Thema für die Schulkonferenz auf. Das Thema wird
einem der Lehrer zugewiesen, der es seufzend übernimmt. Nehmen wir an, es
heiße: Die soziale Frage und die Schule. Der Referent schreibt also ans
einem halben Dutzend Bücher etwas über die soziale Frage und etwas über
die Schule zusammen, durchflicht sein Werk mit schönen Zitaten und schließt
mit der Forderung, daß sich die Schule mit der sozialen Frage zu beschäftigen
habe. Dann folgen die üblichen Thesen, in denen einige Gemeinplätze von
unanfechtbarer Wahrheit vorgetragen werden. Die Sache wird mit der üblichen
Feierlichkeit vorgetragen. Man bemängelt einige Nebensächlichkeiten und streitet
sich über die Fassung der dritten oder der vierten These. Dann werden die
Thesen angenommen, und die Verhandlung wird protolvllirt. Zum Schluß
erscheint ein General- und ein Spezialbescheid von der königlichem Regierung —
die Schule hat sich mit der sozialen Frage beschäftigt.

Aber im Ernst: was kann denn die Schule mit der sozialen Frage zu
thun haben? Soll sie, wie alles Ernstes verlangt worden ist, die Elemente
der Staatswissenschaft den AVE-Schlitzen beibringen? Oder soll sie die In¬
telligenz so weit fördern, daß der Schüler das Grundgesetz des Angebotes und
der Nachfrage begreift und sich ihm widerstandslos unterwirft? Oder soll in der
Schule kräftig über die Sozialdemokraten geschimpft werden? Auch die mehr-
erwähnte Berliner Lehrerversammlung hat das Thema behandelt und ist zu
überraschend verständigen Schlußsätzen gekommen. Sie lehnt die theoretische
Behandlung der Sache ab und legt den Hauptnachdruck auf die „erziehliche"
^richtiger: erziehende oder erzieherisches Thätigkeit der Schule. Das ists!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/62>, abgerufen am 29.06.2024.